Rohingya

Überleben im Wartestand

Ethnische Säuberungen und Massenvertreibung zwingen Hunderttausende zur Flucht nach Bangladesch. Thomas Seibert hat die Lager der Rohingya besucht. Eine erschütternde Reportage.

Die Stadt Cox’s Bazar tief im Südosten Bangladeschs ist der Urlaubsort der Mittelklasse des Landes. Direkt am längsten Sandstrand der Welt gelegen, reiht sich hier ein Hochhaus an das andere, jedes von ihnen bietet seinen Gästen einen unverstellten Blick aufs Meer und auch sonst die Erfüllung aller Feriensehnsüchte. Für uns ist sie Ausgangsort einer Reise, die knapp eine Autostunde weiter östlich auf einen anderen Planeten führt. Kaum haben wir den letzten Vorort Cox’s Bazars hinter uns, öffnet sich eine Hügellandschaft, in deren grünen Senken Reis angebaut wird. Die Hügel aber haben alles Grün verloren. Sie wurden terrassiert und von Abertausenden von Hütten belegt, meist einfachster Bauart, ein dünnes Strebewerk aus Bambus, von Plastikplanen überzogen.

Zwischen den Hütten winden sich Wege hindurch, die von einem auf den nächsten Hügel führen. Über diese Wege zieht in beide Richtungen ein endloser Strom von Passanten, Männer, Frauen, Kinder, durch sie hindurch wühlen sich wild hupende Motorrikschas, Jeeps und Kleinbusse, auch sie in beiden Richtungen. Wir sind bei den Rohingyas, vertriebenen Muslimen aus dem Nachbarland Myanmar. Die ersten von ihnen kamen in den 1970er Jahren, nach der ersten großen ethnischen Säuberung, weitere folgten 1992 und 2012, insgesamt etwa 300.000 Menschen. Seit August 2017 ist ihre Zahl auf insgesamt über eine Million gestiegen.

Die Neuankömmlinge sind die Überlebenden der bislang letzten Welle ethnischer Säuberung – Überlebende eines versuchten Genozids, begangen von der myanmarischen Armee, unterstützt von der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit Myanmars und gedeckt von der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, der de facto-Regierungschefin.

Kutupalong, Balukhali, Bag Ghona

Geführt von Kollegen des bangladeschischen medico-Partners Gonoshasthaya Kendra (GK, Volksgesundheitszentrum) besuchen wir zwei Tage lang die Lager Kutupalong, Balukhali und Bag Ghona. Der Lärm, die Gerüche, das Menschengewirr sind unbeschreiblich. Alle drei Lager sind völlig überfüllt, an den verbliebenen freien Ecken errichten Neuankömmlinge weitere Hütten. Am schlimmsten ist die Lage in Kutupalong, hier stoßen die Hütten oft direkt aneinander, wer seine Unterkunft verlässt steht unmittelbar im Verkehrsgewühl. Zwischen den Hütten einfachste Verkaufsstände, die alles und nichts anbieten: Kekse, Gemüse, Trockenfisch, Zigaretten, ungekühlte Getränke. Sie werden von Bangladeschi, aber auch von Rohingyas betrieben, denen es gelang, etwas Geld oder Schmuck mitzunehmen. Wer hier einkauft, muss zuvor Reis, Linsen oder Kleider getauscht haben, zugeteilt von den Hilfsorganisationen, ohne die es hier kein Überleben gäbe. Der Kleinhandel, das Zubereiten und Essen der Mahlzeiten, das täglich neue Flicken der Bambushütten sind das einzige, was den Leuten zu tun bleibt.

Der Rest der Tage wird mit Warten verbracht: warten auf einen Streit in der Nachbarschaft, auf die Ankunft eines LKW mit Reis oder Kleidung, auf Neuankömmlinge, die ihren Platz erst finden müssen. Und davor und danach Warten auf nichts. Wie gespannt die Stimmung ist, bekommen wir mit, als wir einen Platz betreten, an dem gerade Reis verteilt wird. Weil das Gelände zu klein ist, wird die Schlange der Wartenden einmal um den ganzen Platz geführt. Am LKW, von dem die Reissäcke verteilt werden, herrscht ein hektisches Gedränge: mit langen Stöcken ausgerüstete Uniformierte und Rohingya-Hilfspolizisten in Zivil drängen laut schreiend und wild hin- und herlaufend Menschen zurück, die direkt nach dem Reis greifen. Ein Sack platzt, die weißen Körner fallen in den sandigen Boden.

Volksgesundheitszentren

GK unterhält in den drei Lagern insgesamt 13 Gesundheitsposten, in denen Ärzte und Ärztinnen, ausgebildete Paramedics und Freiwillige arbeiten, unter ihnen junge Rohingyas. Angeboten wird eine einfache Basisgesundheitsversorgung in Zelten oder größeren Hütten, die durch Plastikplanen unterteilt sind. Es gibt einen Wartebereich, einen Raum zur Erstaufnahme, den Raum, in dem der Arzt oder die Ärztin sitzt, einen Raum zur psychosozialen Nothilfe und einen Raum zur Medikamentenausgabe. Eine Psychologin erzählt uns, was ihr erzählt wird: Geschichten von Tod, Gewalt, abgrundtiefer Missachtung, von den Strapazen der Flucht, der Aussicht auf nichts.

Von einem alten Mann, der irgendwo am Wegesrand in sich zusammensackt und nicht einmal mehr den Löffel Brei annehmen kann, der ihm von irgendwem gereicht wird, aus. In einigen der Gesundheitsposten werden Kinder mit Zusatznahrung versorgt. Wer schwerer erkrankt ist, wird von den GK-Mitarbeitern in eines der größeren Feldhospitäler gebracht: doch sind auch deren Möglichkeiten begrenzt, gestorben wird leicht auf dem Planeten der Rohingya.

Ein weiterer Gesundheitsposten dient ausschließlich der Behandlung von Diarrhöe-Patienten. Wir platzen in eine eiligst einberufene Besprechung. Seit zwei, drei Tagen breitet sich die Diphterie aus, die Zahl der Infizierten verdoppelt sich von Tag zu Tag. Die Kollegen sind auf das Äußerste besorgt und beschließen, diesen Posten jetzt für Diphteriekranke zu reservieren. „Es gibt zu wenig Impfstoff“, sagt uns die Leiterin, „und selbst wenn wir mehr bekommen, wird das nur begrenzt helfen, weil der Impfstoff erst nach ein paar Tagen wirkt. Außerdem fehlen uns Mittel zur Behandlung der Krankheit.“

Genozid

Als wir weitergehen, erklingt von einem Zelt mitten im Hüttengewirr das Gebet eines Muezzin, übertragen von zwei Megaphonen, die an der Spitze einer langen Stange befestigt sind. Wir sprechen mit einer Gruppe junger Männer, Rohingyas, die unter Anleitung von GK als Community Health Worker arbeiten. Wir befragen sie über die Vertreibung aus Myanmar. Alle erzählen dasselbe: dass Soldaten ihr Dorf überfielen, in die Häuser, in die Läden, Schulen und Moscheen schossen und die Menschen auf die Straßen und in die Flucht trieben, ihnen gerade so viel Zeit ließen, um ein paar Habseligkeiten mitzunehmen. Willkürlich wurden einzelne Männer und Frauen herausgegriffen, einige direkt erschossen, andere verschleppt, vergewaltigt, gefoltert. Zogen die Überlebenden panisch davon, wurden hinter ihnen die Häuser angezündet, Gärten und Felder verwüstet, das Vieh getötet.

Einer der jungen Rohingyas hält sich etwas abseits und schweigt. Ich frage, ob ich ihn fotografieren darf, er bejaht. Er heißt Schafik, stammt aus dem Dorf Talatule in Rakhine, wie das Siedlungsgebiet der Rohingya in Myanmar heißt. Sein Bruder und er sind die einzigen Überlebenden einer zwölfköpfigen Familie.

Auf verlorenem Posten

Am Abend des ersten Tags treffen wir in einem Restaurant in Cox’s Bazar einen Rohingya-Aktivisten. Er ist Ende zwanzig, hat ein paar Jahre in Bangladesch studiert und ist 2012, nach dem Teilrückzug des Militärs von der Macht, nach Myanmar zurückgekehrt. Als Mitglied eines Aktivistennetzes, dass die Lage der Rohingya dokumentiert und weltweit öffentlich macht, hat er wie viele andere die Partei des Militärs gewählt, die versprochen hatte, Aung San Suu Kyi an der Regierung zu beteiligen. „Unsere Hoffnungen wurden betrogen. Die sogenannte Demokratisierung betraf allein die Buddhisten, für uns wurde es schlimmer als zuvor. Die neue Regierung hat unmissverständlich erklärt, dass sie uns die Staatsbürgerschaft nicht zurückgeben wird. Mit deren Aberkennung hat man uns 1974 zu Unpersonen im eigenen Land gemacht.“

Weil er ins Visier des Militärs geriet, ist er 2016, ein Jahr vor der jüngsten Vertreibungswelle, nach Bangladesch geflohen, lebt dort mit einem falschen Pass und setzt seine politische Arbeit fort. Beim Gespräch gehen wir alle Möglichkeiten durch, die sich den Rohingya bieten. In Cox’s Bazar werden so viele von ihnen nicht bleiben können: aktuell leben dort doppelt so viele Rohingyas wie einheimische Bangladeschis, die Spannungen wachsen täglich, trotz der anfänglichen Solidarität und Hilfe. Die Regierung Bangladeschs hat deshalb ein Rücknahmeabkommen mit Myanmar schließen wollen, das den Rohingyas die Wiederzuerkennung der Staatsbürgerschaft, den Wiederaufbau ihrer Häuser, die Rückerstattung ihres Besitzes garantieren sollte.

Myanmar war zu keiner konkreten Zusage bereit. Bangladesch hat das Abkommen trotzdem unterschrieben, auf massiven indischen, russischen und vor allem chinesischen Druck: Rakhine, die Heimatprovinz der Rohingya, ist reich an Bodenschätzen, Russland, Indien und China wollen sich deren Abbau sichern. Rakhine soll im Rahmen des chinesischen „Shanghai-Kalkutta-Korridors“ zu einer riesigen Freihandelszone werden. Weil sie sich dem zerstörerischen Umbau ihres Landes zur „exportprocessing area“ widersetzen würden, müssen die angestammten Einwohner weichen: ein Verfahren, dass auch anderswo in der Welt angewandt wird. Die Arbeitskräfte, die man in den künftigen Minen und Fabriken braucht, werden dann „frisch“ ins Land geholt. Für sie als Fremde zählt nur das Einkommen: Fortschritt und Entwicklung.

Das Recht zu bleiben, das Recht zu gehen

„Dem elenden ökonomischen Kalkül geht in Myanmar allerdings der Rassismus voraus“, sagt uns der Aktivist, „sie hassen uns. Deshalb glauben die Myanmaris auch die absurde Lüge, dass wir illegale Einwanderer aus Bangladesch seien. Wenn wir nach Myanmar zurückkehren, wird man uns so behandeln wie die Rückkehrer früherer Vertreibungen: man wird uns in Lager sperren, fertig, aus.“

Wie unsere Gesprächspartner in Kutupalong, Balukhali und Bag Ghona glaubt auch der Aktivist, dass sich die Rohingyas deshalb weigern werden, nach Myanmar zurückzukehren. Da es eher unwahrscheinlich ist, dass Bangladeschs Regierung sie mit Gewalt zurückzwingt, wird der Planet der Rohingyas noch zwei, drei Jahre fortbestehen. Wir kommen überein, dass es deshalb internationalen Druck braucht, auf beide Regierungen. Die Unterstützung Malaysias und Indonesiens wird allerdings nicht reichen: „Uns bleibt nichts, als auf die EU und die USA zu setzen.“

Wir sehen uns betreten an: Hoffnung haben wir darauf nicht. Obwohl Bangladesch das am dichtesten bevölkerte Flächenland der Welt und für die Mehrzahl seiner Bewohner ein armes Land ist, haben uns mehrere Bangladeschi gesagt, dass sie bereit wären, die Rohingya auf Dauer aufzunehmen: natürlich nicht im Distrikt Cox’s Bazar allein, sondern über das ganze Land verteilt.

Mehrere Intellektuelle haben bereits öffentlich gefordert, ihnen sofort die Staatsbürgerschaft zu übertragen. Die Regierungspartei Awami League wirbt mit dem „Wir schaffen das!“ ihrer Premierministerin Sheijk Hasina offensiv um Stimmen: sie sei, so heißt es auf Hunderten von Plakaten und Bannern, die „Mother of Humanity“, „Champion of Global Peace“ und „Last Hope oft the Oppressed“.

Kollegen von GK schätzen, dass rund die Hälfte der Bangladeschis zu einer solchen Lösung bereit wären. Nicht wenige Rohingyas haben ihre Wahl schon getroffen. Da die Lager offen sind, machen sich jeden Tag Einzelne auf eigene Faust auf den Weg ins Hinterland: auch sie wissen, dass die Textilfabriken der beiden Megastädte Dhaka und Chittagong täglich neue Arbeitskräfte suchen. „Vielleicht könnten wir so überleben“, sagt der Aktivist, „doch nur als Individuen. Als Rohingya aber würden wir dann verschwinden.“ Wir beschließen unser Gespräch deshalb mit der bitteren Einsicht, erst einmal auf die Fortdauer der jetzigen Situation setzen zu müssen, auf den Planeten der Rohingyas im Hügelland von Cox’s Basar: so lange es ihn gibt, bleibt die Lage der Rohingya immerhin offen.

Bleiben werden auch die Kollegen von GK. Ausdrücklich unterstützen sie die öffentliche Erklärung mehrerer internationaler Hilfsorganisationen, nur dann in Rücknahmelagern in Myanmar zu arbeiten, wenn die Erfüllung der Forderungen der Rohingya garantiert wird: Wiederzuerkennung der Staatsbürgerschaft, Ansiedlung in den Heimatorten, Wiederaufbau der zerstörten Dörfer und Gemeinden, Aufklärung der an den Rohingya verübten Verbrechen.
 

medico unterstützt die Nothilfe des langjährigen bangladeschischen Partners GK und bittet dringend um Spenden unter dem Stichwort: Bangladesch

Veröffentlicht am 14. Dezember 2017

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