Südafrika

The Politics of Shit

Warum der Wahlkampf buchstäblich zum Himmel stinkt

Nelson Mandela und dem ANC gelang es die Rassentrennung des Apartheid-Regimes zu überkommen. Doch noch immer spaltet der Widerspruch zwischen arm und reich die Regenbogennation. Profane Dinge wie Schultoiletten machen das deutlich.

Es ist wieder Wahl am Kap der Guten Hoffnung. 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid finden zum vierten Mal in der freien Geschichte des Landes Präsidentschaftswahlen statt. Entsprechend haben sich die Widersprüche auch verschoben. Ging es in den ersten Jahren nach dem Ende der Apartheid um die Überwindung der rassistischen Spaltungslinien, verläuft der Widerspruch heute vor allem zwischen arm und reich. Das neoliberale Versprechen, dass mit dem ungehinderten Waren- und Kapitaltransfer auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich in Südafrika als genauso falsch erwiesen wie anderswo. „Take it from the needy, give it to the greedy“: Nimm’s denen, die es brauchen, gib’s den Gierigen, lautet stattdessen das Motto. Denn noch nie in der jüngeren Geschichte waren die Unterschiede bei Einkommen, sozialen Chancen und Gesundheitsstatus zwischen und innerhalb von Ländern so groß wie heute. Soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen nutzen nun den Wahlkampf, um öffentlich auf die Folgen der neuen „ökonomischen Apartheid“ im Gesundheitsbereich aufmerksam zu machen.

Keine Toilette – keine Stimme

In den Schulen der entlegenen Provinz Limpopo im Norden Südafrikas gibt es eine regelrechte Kloschüsselkrise. Die alten Porzellanbecken in den Schulen sind nahezu alle auseinandergebrochen oder übergelaufen. Marode Toilettenhäuser stürzen schlichtweg in sich zusammen. „Ich hab‘ echt Angst, mich zu verletzen oder krank zu werden, wenn ich auf die Toilette gehen muss“, erzählt ein Junge während unseres Besuches in Limpopo. In der Misere wird die tägliche Notdurft im Freien, um das eigentliche Sanitärgebäude herum, verrichtet. All das ist kein Einzelfall. Mädchen, die ihre Periode haben, kommen oft tagelang nicht zur Schule. Die Schuldirektoren verlangen die Sanierung der WC-Anlagen in der gesamten Provinz.

Ihr Protestpartner ist die Menschenrechtsorganisation Section 27, die mit Öffentlichkeitskampagnen und, wenn nichts anderes mehr geht, auch mit juristischen Mitteln für das in der südafrikanischen Verfassung garantierte Recht auf Gesundheit und Bildung streitet. Im letzten Jahr hatte das gleiche Bündnis mit einer Klage wegen nicht ausgelieferter Schulbücher den Rücktritt des lokalen Bildungsministers erzwungen und für landesweite Aufmerksamkeit gesorgt. „Wir kämpfen in Limpopo nicht gegen die Regierung, sondern für das Recht auf Gesundheit und Bildung“, betont die Juristin Nikki Stein von Section 27 während einer Rundreise durch Limpopos Schulen. „Dafür ziehen wir notfalls wieder vor Gericht.“ Wie brisant das Thema in Zeiten des Wahlkampfs sein kann, berichtet ein Schuldirektor, der die Anonymität vorzieht: „Meine Familie und ich wurden monatelang eingeschüchtert, um das Thema ruhen zu lassen. Fast hätte ich alles hingeschmissen.“ Doch er hielt durch: Als wir ihn treffen, präsentiert er voll Stolz die neuen sanitären Einrichtungen.

Mittlerweile werden in allen von uns besuchten Schulen neue Toilettenhäuser gebaut. Dennoch ist die ANC-Regierung noch weit davon entfernt erträgliche Lernbedingungen für die schwarzen, meist armen Kinder der Rainbow Nation zu schaffen. Bis zu 100 Schüler zwängen sich in einen Klassenraum, oft wird ein als Provisorium genutzter Container zur Dauereinrichtung, wo die Schüler, auf dem Boden kniend, ihre Stühle als Schreibpulte benutzen. „Die Provinz Limpopo kenne ich aus den 1980er Jahren, als hier Homeland-Gebiet war“, erzählt meine Kollegin Usche Merk auf der Fahrt zu einer weiteren Schule. Für sie wirkt es „deprimierend, sehen zu müssen, dass die Lage heute teilweise noch schlimmer ist als damals“.

Eine zentrale Ursache für diese verfehlte Politik ist die gleichzeitige Existenz von zwei Herrschaftslogiken in Südafrika. Der rational-legale Staat ist untrennbar mit extrem personalisierten Machtstrukturen verbunden, innerhalb derer persönliche Bereicherung fast schon zum guten Ton gehört. Dem ANC wird langsam klar, dass er sich als Staat gewordene ehemalige Befreiungsbewegung nicht mehr automatisch auf die Unterstützung der Massen verlassen kann und reagiert darauf reflexhaft mit Repression und Gewalt.

Im Kampf um die Schultoiletten wird bei der schwarzen Bevölkerungsmehrheit die Erinnerung an die Entwürdigung während der Apartheid wach. Ein sauberes und funktionierendes Klosett war damals ein Privileg der Weißen. Auch 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid haben 18 Millionen Menschen noch immer keinen Zugang zu sanitären Anlagen, und mit Fäkalien verunreinigtes Wasser ist weiter eine häufige Krankheitsursache. Die Forderung nach Toiletten entspricht daher nicht nur einem individuellen Hygienebedürfnis, sondern verlangt dem Staat die Anerkennung tatsächlich alltäglicher Bürgerrechte ab – Rechte, die eben auch die Entsorgung von Exkrementen als Bestandteil öffentlicher Serviceleistungen umfassen. Wie sehr die Menschen über die Verweigerung ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse verzweifeln können, bewiesen kürzlich die Proteste vor dem Sitz der Provinzregierung in Kapstadt, wo buchstäblich kübelweise Scheiße ausgeleert wurde: „Wenn Scheiße in die Richtung der Mächtigen fliegt, dann kannst du ganz sicher sein, dass die Unterdrückten absolut keinen anderen Weg mehr sehen, sich Gehör zu verschaffen“, schreibt die südafrikanische Essayistin Gillian Schutte.

Kein Recht auf Anerkennung

Weitet man den Blick auf die generelle Lage der Gesundheit im Land, dann treten Probleme zu Tage, die fast schwerer wiegen als der Kampf um ein funktionierendes Schulklo. In Südafrika betreuen Zehntausende meist weibliche Community Care Worker (CCW) unzählige Kranke in der häuslichen Pflege. Sie sind oft die erste Anlaufstelle für Gewaltopfer in den Gemeinden, sie betreuen die unzähligen Aids-Waisen und klären über Krankheitsursachen auf. Diese Gesundheitsarbeiterinnen erhalten für ihre extrem anstrengende und auch psychisch belastende Tätigkeit lediglich eine geringe Aufwandsentschädigung. Ursprünglich war ihre Arbeit als ein ehrenamtlicher Dienst gedacht, heute aber werden sie ausgenutzt, um den Kollaps des südafrikanischen Gesundheitssystems zu kaschieren: übernehmen diese Hilfskräfte doch immer mehr Aufgaben, für die eigentlich geschultes Fachpersonal vonnöten wäre, das aber entweder eingespart oder einfach nie eingestellt wurde.

„Die meisten Patienten, zu denen wir gehen, sind sehr arm. Wie soll ich einen Mann, der seit zwei Tagen nichts gegessen hat, dazu bringen, eine Pille zu schlucken?“ So fragt eine Gesundheitsarbeiterin während eines Workshops im Township Soweto. Sie und ihre Kolleginnen sind wütend über diese unzumutbaren Arbeitsbedingungen. Häufig haben sie noch nicht einmal Gummihandschuhe, wenn sie Kranke mit einem hohen Ansteckungsrisiko versorgen. Entsprechend sind Tausende der Community Care Worker durch ihre Arbeit selbst erkrankt. Teilweise wurden sie während ihres Dienstes tätlich angegriffen. Die Überforderung, die Gewalterfahrung und die Belastung der Helfenden führen auch immer wieder dazu, dass sie selbst Patienten grob behandeln, schlagen oder vernachlässigen. Als die Lage immer unerträglicher wurde, legten allein in der Provinz Gauteng rund um Soweto Hunderte Gesundheitsarbeiter ihre Arbeit nieder. Ihr Streik für bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung hatte schließlich Erfolg. Die Aufwandsentschädigungen wurden erhöht, und in den Konzepten für eine nationale Krankenversicherung wird die wichtige Rolle der Community Care Worker jetzt endlich anerkannt.

Die Krise des Versprechens

Dennoch bleibt die Misere der Gesundheitsversorgung in der gesamten Provinz Cape Town ein lebensbedrohlicher Umstand, wie die Studie „Tod und Sterben in der Provinz Eastern Cape“ belegt, die unlängst ein breites zivilgesellschaftliches Netzwerk öffentlich vorstellte. Die Krise beginnt bereits, wenn ein Krankenwagen gerufen wird – und keiner kommt; wenn ein Säugling sterben muss, weil er nicht rechtzeitig ein Hospital erreicht; wenn andere Kinder sterben, weil im nächstgelegenen Krankenhaus keine Medikamente vorrätig sind, aber die Weiterfahrt ins entferntere Spital zu lange dauert. Und die Antwort der Provinzregierung? „Es gibt keine Gesundheitskrise!“ So fasst voll Empörung Tenashe Njanji vom People’s Health Movement die bisher einzige Reaktion der lokalen Gesundheitsbehörden auf die öffentlichen Proteste zusammen, die sich eben „gegen die unterlassene Hilfeleistung durch die lokale Regierung“ richten. Auch Mark Heywood von Section 27 ist entsetzt von der offenkundigen Ignoranz: „Die Gesundheitsmisere in Eastern Cape ist kein Vermächtnis der Apartheid, sondern Ausdruck von Politikversagen. Es ist der Bruch des Versprechens, das uns 1994 mit dem in der Verfassung verbrieften Recht auf Gesundheit gegeben wurde.“

Safari-Medizin als Sonderangebot

Eine Ursache für den Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems ist das Wachstum des privaten Gesundheitsmarktes. Seit der Präsidentschaft von Thabo Mbeki ab 1999 wurde auch der Gesundheitsbereich neoliberal dereguliert und hemmungslos ökonomisiert. Südafrikanische Firmen wie Netcare beschäftigen gut ausgebildetes sowie im öffentlichen Sektor dringend gebrauchtes Fachpersonal und expandieren inzwischen sogar nach Europa. Mit reichen Patienten als Kunden lässt sich mehr Geld verdienen als mit armen Südafrikanern aus dem Township in der Nachbarschaft. Neben lukrativen Fett-weg-Safaris für europäische Kunden bildet die Oberschicht Südafrikas und der Nachbarländer die größte Zielgruppe der neuen Gesundheitsökonomie.

Aber es geht nicht nur um Krähenfüße, Bauchspeck und chirurgisches Körperdesign, sondern auch lebensnotwendige Behandlungen und gute Operationen werden angeboten, die in anderen afrikanischen Ländern nicht durchgeführt werden können oder zu teuer sind. In der Gesundheit beweist sich die krankmachende Wirklichkeit neoliberaler Umverteilung, die in Südafrika auf Kosten der armen Massen eine schwarze Elite hervortreten lässt, inklusive einer weiter fest im Sattel sitzenden weißen Wirtschaftselite. Wie schon Steve Biko vor mehr als 40 Jahren befürchtete, ging der gesellschaftliche Wandel nicht mit grundlegenden Verbesserungen für die Bevölkerungsmehrheit einher. Die Kämpfe um Schultoiletten, um die Anerkennung der Pflege mittelloser Kranker und das Ringen um eine medizinische Grundversorgung beweisen aber auch, dass es weiterhin eine lebendige Widerstandskultur jenseits des ANC gibt. Tshepo Madlingozi vom medico-Partner Khulumani bezeichnet dies vorsichtig als „fassbare Kultur der politischen Ungewissheit“. Aber natürlich kann keine gesundheitsbezogene Maßnahme allein die Politik des gesellschaftlichen Ausschlusses überwinden, weshalb viele Aktivisten längst ein Eigentumsmodell jenseits von Privateigentum als Grundlage dafür fordern, dass die Menschen sich erobern können, was sie brauchen: schlichtweg bessere und menschenwürdige Lebensverhältnisse – auch in der Demokratie.

medico unterstützt seit den 1980er Jahren Projekte in Südafrika, vor allem im Bereich der psychosozialen Arbeit und der Gesundheit. Denn auch am Kap der Guten Hoffnung hängen vergangene Gewalterfahrungen und heutige armutsbedingte Ausgrenzung zusammen. Das wirtschaftlich aufstrebende Südafrika ist aber auch ein Laboratorium künftiger Kämpfe für ein Recht aller auf freien Zugang zu Gesundheit. Die medico-Projektpartner People’s Health Movement South Africa und die Organisation Section 27 kooperieren in diesem Jahr im Rahmen der Eastern Cape Gesundheits-Kampagne.

Anne Jung (Artikel aus dem Rundschreiben 4/2013)

Veröffentlicht am 09. Dezember 2013

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