Ein Jahr nach dem Aufstand

Sechs Wochen im Oktober

Persönliche Erinnerungen an die Zeit des Aufstands in Beirut. Wochen, in denen alles anders und die Hoffnung riesig war. Von Max Jansen

Eigentlich fing alles viel früher an – lange vor dem 17. Oktober des letzten Jahres, der so weitreichende Veränderungen für den Libanon bringen sollte. Das trifft auch für mich zu, der an dem teilhaben durfte, was sich seitdem in dem manchmal so winzig erscheinenden Mittelmeerstaat ereignete.

Als ich im August 2019 das Terminal des Rafiq-Hariri-Flughafens im Süden von Beirut verließ, war ich vollgepackt mit Erzählungen über die Schattenseiten einer hyper-deregulierten Wirtschaft, die Nachwirkungen der Besatzung des Landes durch Syrien und Israel, die regelmäßig aufflammenden Konflikte mit dem südlichen Nachbarn und die harten ökonomischen Bedingungen, unter denen große Teile der libanesischen Bevölkerung zu leiden haben. Besonders die ausweglose Situation der Geflüchteten aus Syrien und Palästina, die in der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes unter katastrophalen Bedingungen leben, und nicht zuletzt die Arroganz und Ignoranz der herrschenden Eliten hatten einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Ich hatte mir Beirut anders vorgestellt, vielleicht auch irgendwie „arabischer“, in jedem Fall aber anders als das, was mich hier erwartete. Denn Beirut scheint nicht ganz in diesen Winkel der Welt zu passen: Anders als in anderen Städten der Region stellen sich die „ Souks“ im wiederaufgebauten Downtown nicht als traditionelle Märkte dar, sondern als gigantische Shoppingmalls, in denen nicht etwa Fisch und Gemüse gehandelt werden, sondern ausschließlich Edelprodukte von Prada, Louis Vuitton und anderen Luxusanbietern.

Trotz all dem genügten wenige Wochen, um mir im bunten Treiben dieser Stadt, die sich so leicht nicht auf einen Nenner bringen lässt und damit wohl nur exemplarisch für ein ganzes Land steht, das stets aus den Fugen geraten zu scheint, ausreichend Orientierung zu geben um mir einen Alltag aufzubauen. Als ich langsam das Gefühl bekam, das komplexe Gesellschaftsgefüge des Libanon allmählich greifen zu können, kam Mitte Oktober dann plötzlich doch alles anders: Abends fuhr ich auf meinem Fahrrad quer durch die kahlen Häuserschluchten des Finanz- und Verwaltungszentrums von Downtown in den Stadtteil Gemmayzeh, jenes beliebte Stadtviertel Ost-Beiruts, das als eine der bezauberndsten Ecken der Stadt galt bis hier vor knapp zwei Monaten rund 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten.

„This time it will be different“

Doch an jenem Abend des 17. Oktobers hätten wohl nur wenige für möglich gehalten, dass die organisierte Unverantwortlichkeit der libanesischen Politik solch ein unvergleichbar tödliches Resultat haben würde. Stattdessen kündigte sich ein ganz anderes Ereignis an, als ich vor der Mohammed-al-Amin-Moschee eine Handvoll junger Menschen dabei beobachtete, wie sie Barrikaden errichteten. Vorsichtig fasziniert blieb ich mit etwas Abstand stehen und sah, wie immer mehr Menschen zusammenkamen, Mülltonnen in Brand gesetzt wurden, dann die Rohbauten neuer Luxusapartments und Bürogebäude.

Ein junger Libanese, mit dem ich ins Gespräch kam, sagte zu mir „this time it will be different“, nachdem wir über die Ausweglosigkeit der politischen Situation des Landes diskutiert hatten, und ich dachte an die zurückliegenden Monate. In meiner Wahrnehmung gab es im Durcheinander des Libanon immer eine Interessengruppe, die einen Anlass fand, ihren mehr oder weniger radikalen Protest öffentlichkeitswirksam in die Straßen der Hauptstadt zu tragen. Doch die Brände waren groß und wurden immer größer, genauso die Menschenmassen. Dann bahnte sich ein Löschfahrzeug der Feuerwehr den Weg durch die Massen. Am Brandherd angekommen, erklommen Protestierende das Fahrzeug, hindern die Feuerwehrleute am Löschen und plötzlich waren an allen Ecken Militärjeeps und maskierte Soldaten mit Maschinengewehren zu sehen. Irgendwann wurde mir das Ganze zu unübersichtlich und ich setze meine Fahrt fort.

In meinem Apartment liefen bereits hitzige Debatten. Weil ich der einzige war, der kein Arabisch sprach, kam nur ab und zu jemand dazu, für mich Teile des Gesagten zu übersetzen. Doch auch wenn die chaotische Nacht in Verbindung mit der Prophezeiung, diesmal werde es anders sein, am nächsten Morgen noch in meinem Hinterkopf hallte, war das, was folgte, für mich und mein Umfeld kein böses Erwachen. Stattdessen erlebten wir den unerwarteten Einstieg in lange Wochen des Abenteuers.

Zwischen Alltag und Ausnahmezustand

In den ersten sechs Wochen war wirklich alles anders. Straßen wurden besetzt, öffentliche Plätze zu Protestcamps, der Unterricht an Schulen und Universitäten durch öffentliche Diskussionsrunden ersetzt. Suppenküchen, kritische Stadtführungen und öffentliche Lesungen bestimmten unseren Alltag, während die makellosen Fassaden des hochkommerzialisierten Stadtzentrums mit Leben und Farbe geschmückt wurden. Abends kreuzten Tausende von Menschen den zentralen Platz vor der Mohammed-al-Amin-Moschee, der zu einem der vielen Zentren der landesweiten Protestbewegung geworden war. Es gab Musik, kulturelle Veranstaltungen und es herrschte eine euphorische und zuversichtliche Stimmung, die von einer klaren Analyse der Machtverhältnisse im Land und einem Gefühl der Einheit einer Gesellschaft begleitet wurde, die allzu oft auf ihre Brüchigkeit, ihre Trennungen und Verwerfungen reduziert wird. Dies unterschied die junge Protestbewegung von Beginn an von der des Jahres 2015.

Anders als damals gingen die Menschen gemeinsam auf die Straße und trugen nicht – wie sonst üblich – die Farben ihrer jeweiligen politischen Gruppierungen. Und anders als damals, als die Proteste sich zu Beginn vor allem auf den Kollaps der staatlichen Müllentsorgung konzentrierten, stellten die Menschen im Oktober des letzten Jahres schnell das politische System und die es dominierende politische Klasse als solche in Frage. Bald stellte sich für die meisten Menschen ein Leben von Tag zu Tag ein. Der Einkauf musste überdacht werden, denn es war schwer abzusehen, wann welche Straße passierbar sein und wann große Umwege in Kauf genommen werden mussten oder die Geschäfte gar ganz geschlossen blieben. Die meisten Straßen des Landes waren blockiert und das Benzin aufgrund der langen Streiks von Hafenarbeitern und Tankstellenwärtern knapp und vor allem teuer.

Vielen aus Syrien geflohene Menschen in meinem Bekanntenkreis verknüpften die Ereignisse mit dem, was in ihrem Heimatland zuvor passiert war, mit dem, was fast zeitgleich im Irak, in Chile, in Hongkong und in jenem Herbst an so vielen anderen Orten des Planeten passierte. Doch trotz aller Zuversicht stellte sich für mich allmählich ein merkwürdiges Nebeneinander von Alltag und Ausnahmezustand ein, während sich die Formen des Protests zunehmend veränderten. Massendemonstrationen wichen gezielten Blockadeaufrufen. Statt Tag und Nacht zu Hunderten an strategisch wichtigen Orten auszuharren, kamen die Menschen gezielt zu bestimmten Anlässen zusammen. Weil der Libanon schon immer ein Schlachtfeld äußerer Mächte war, dauerte es zudem nicht lange, bis sich ein internationaler Schleier über die Entwicklungen legte, in dem nicht nur Israel, Iran, Frankreich und die USA bis heute miteinander ringen. Zeitgleich drängten die wirtschaftlichen Folgen der Krise immer mehr Menschen in existenzielle Nöte.

Momente des Aufbegehrens

Auch wenn es mir wenige Tage nach Ausbruch der Proteste des Vorjahres möglich war, eine Analyse seiner Hintergründe zu verfassen, machte es mir der aufgeladene Alltag schwer, all dies zu greifen, einzuordnen und in seiner Gänze zu verstehen. Rückblickend bleibt dies wohl eine der prägendsten Erfahrungen für mich, denn die Überlebensstrategien der Menschen im Libanon erscheinen mir auch nach der Explosion in Beirut so viel diffuser als von außen vorstellbar. Die persönlichen Nachrichten, die mich ein Jahr nachdem der Funke des Protests sich in ungekannter Wucht ausbreitete erreichen zeugen davon, dass die Protestbewegung allen äußeren und inneren Versuchen sie zu demobilisieren trotzt.

Und hierin zeigt sich wohl eine Tapferkeit der Notwendigkeit, denn die Libanes*innen wissen, dass sie darauf angewiesen sind, sich dort, wo alles so ausweglos scheint, eine Zukunft zu erstreiten. Die in den zurückliegenden Monaten so viel zitierte Tapferkeit der Libanes*innen scheint wohl auch ein produktiver Umgang mit einer alternativlosen Situation zu sein, oder wie es die Aktivistin Aya ausdrückt: „Ich habe das Gefühl, dass es meine Pflicht ist, einfach weiterzumachen, obwohl ich keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft habe.“

Max Jansen unterstützt die Projektkoordination von medico international und verfasst seine Abschlussarbeit zum Empowerment von Frauen im Libanon. Für einen Aufenthalt an der American University of Beirut (AUB) hat Max über ein halbes Jahr lang in Beirut gelebt.

Veröffentlicht am 16. Oktober 2020

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