Reise in eine verbotene Zone

Israelisch-palästinensische Kooperation wider die Regeln von Krieg, Besatzung und Terror

»Die Zone ist einfach die Zone. Sie ist das Leben, durch das der Mensch hindurch muß, wobei er entweder zugrunde geht oder durchhält. Und ob er dies nun durchhält, das hängt allein von seinem Selbstwertgefühl ab, von seiner Fähigkeit das Wesentliche von dem Nebensächlichen zu unterscheiden.« (Andrej Tarkowskij)

Der sowjetisch-russische Regisseur Andrej Tarkowskij hatte in seinem Film »Stalker oder die verbotene Zone« bereits Mitte der 70er Jahre in abgesonderten, desolaten Gebieten die Metapher für das Dilemma des modernen Menschen erblickt. Einen Mensch, der die no-go-areas inkorporiert hat und sich vor allem vor einem fürchtet: vor der Selbsterkenntnis. Verbotene Zonen legen die eigene Verwundbarkeit offen. Solche Territorien haben sich vervielfältigt. Sind zu einem Paradox der globalisierten Welt geworden. In Afghanistan, den Unita-Gebiete in Angola oder im Nahost-Konflikt. Eine Art Weltzustand im Brennglas. Besonders hier im Nahen Osten, wo reiche und arme Welt so direkt aufeinander treffen, und der schwarze Schatten von Auschwitz die Perspektive verdunkelt.

An einem Samstag im August gehen wir auf den Weg in eine verbotene Zone. Die Zone A um das arabische Dorf Toubas im Nordosten der Westbank. Gemeint sind ehemalige palästinensische Autonomie-Gebiete, die im Rahmen des Oslo-Abkommens als Auftakt für einen zukünftigen Palästinenser-Staat gegründet wurden. Seit 22 Monaten übt die israelische Armee hier wieder die militärische Kontrolle aus. Seither verbietet das Militär israelischen Bürgern die Einreise in diese Gebiete – aus »Sicherheitsgründen«. Der Gaza-Streifen, Städte wie Ramallah oder Dschenin sind No-Go-Areas für Israelis, nur nicht für die Militärs. Für Feindbilder taugen zivile Begegnungen nicht. Die Separation dient vor allem einem Ziel: Erinnerungen auszulöschen an eine Zeit, da Israelis und Palästinenser bei allem Problem noch die Städte der anderen besuchen ­konnten. – Wir reisen im Konvoi aus 4 Autos mit gelben israelischen Schildern. In der Feindimagination vieler Israelis gilt schon das als lebens­gefährlich. Die Gruppe besteht aus Ärzten vieler Fachrichtungen, Krankenschwestern, Psychologen, Pharmazeuten. Palästinenser und Juden mit israelischen Paß, die jeden Samstag aufs neu das Verbot übertreten, und in der Westbank freiwillig ärztliche Hilfe leisten.

Seit 12 Jahren gibt es diese mobilen Kliniken, die in Israel von den Physicians for Human Rights und in der Westbank von dem palästinensischen Gesundheitskomitees (Union of Palestinian Medical Relief Committees – UPMRC) organisiert werden. Vom Treffpunkt Taybeh aus führt der Weg in die geteilte arabische Stadt Baka al Garbiyeh. Der westliche Teil gehört zu Israel, der östliche zur Westbank. Seit der Verschärfung des Konflikts entstehen hier hohe Barrieren. Der Checkpoint der israelischen Armee als Panzersperre: ein transportabler Bunker, durch dessen Sehschlitze man die Augen der Soldaten erkennen kann. Ein Ort der Willkür. Wer wird durch­gelassen, wer nicht? Ein unklares System entscheidet. Heute nun wir hier: ein Ärzteteam, das versucht, sich zu seinen Patienten durchzuschlagen. Unser Zielort: 30 Kilometer entfernt. Es kann uns Stunden kosten bis dorthin. Am Checkpoint hören wir: Das gesamte Gebiet sei abgeriegelt. Keine Passage! Nun erscheint Militärpolizei und verkündet die Ausgangssperre auf israelischer Seite. Das ist neu in diesem Krieg. Um 11 soll die Sprechstunde beginnen. Mehrere hundert Patienten warten in Toubas. Wir stehen hier. Jedes Mal das Gleiche, sagt Salah, der oft die Checkpoints kreuzt. Man steht am Übergang und versucht durchzukommen. Gelingt es nicht, verlangt man den ranghöheren Offizier. Bleibt der stur, ruft man die Presse an. Die schnellen Informationsmedien, vor allen Dingen die Radios, ­berichten dann. Das ist peinlich. Die schlechte Welt-Presse über Schwangere, die tote Kinder an Checkpoints gebären, hat die israelischen Militärs empfindlich gemacht.

Salah gehört zu den Menschen, die mit dem Krieg leben. Er organisiert für die »Physicians« die mobilen Kliniken, hält den Kontakt zu den Organisatoren der »UPMRC-Committees«, und transportiert die Medikamente in die verbotenen Zonen oder versucht, wenigstens für akut Kranke Notfallplätze in Israel zu besorgen. Der dauernde Ausnahmezustand ist für ihn »normal«. Bis auch er erschrocken feststellen muss, daß der latente kalte Krieg übergangslos zu einem heißen werden kann. Zwei Tage später beschießt ein israelischer Soldat am Checkpoint sein Auto. Er und die anderen überleben nur, weil die Windschutzscheiben aus Panzerglas sind.

Am Checkpoint verstreicht die Zeit im Niemandsland des Wartens. Und dann nach einer Stunde dürfen wir doch passieren. Auf Nebenstraßen, die zum Teil aus Schotter bestehen, geht es durch das Hügelland der Westbank. Toubas erscheint wieder erreichbar.

Frohgemut werden Geschichten erzählt. Eine von P., in altmodischem Emigrantendeutsch. Sie kommt aus dem Kibbuz Yad Hanna, oberhalb von Tul Karm, einer palästinensischen Stadt in der Westbank. Die Beziehungen zwischen Yad Hanna und Tul Karm spiegeln mehr als 30 Jahre israelisch-palästinensische Geschichte. Von Annähern und Scheitern. Einmal habe der Kibbuz und der palästinensische Bürgermeister beschlossen, die Kooperation beider Gemeinden nützlich zu gestalten. Die Abwässer von Tul Karm sollten vom Kibbuz abgenommen, gereinigt und zur Bewässerung benutzt werden. »Die wurden ihre Abwässer los und wir konnten unsere Felder gießen«, sagt P. und lächelt verschmitzt. Man machte einen Vertrag, der dem Militärkommandanten zur Unterschrift vorgelegt wurde. Der war einverstanden, unter Vorbehalt, dass bei Streitigkeiten auf ewig die Gültigkeit israelischen Rechts festgelegt werden müsse. P. legt den Kopf zur Seite: »Wie geht die Geschichte aus?« Der Plan mißlingt! »Der Vertrag kam nicht zustande, für die Palästinenser war er doch so unannehmbar. Aber die Abwasserentsorgung haben wir jahrelang durchgeführt. Ohne Vertrag, mit Handschlag.« Heute stehen Panzer in Yad Hanna und brechen regelmäßig in Tul Karm ein. Die israelische Regierung baut einen Zaun zwischen dem Kibbuz und der arabischen Nachbarstadt, dessen Errichtung P. von ihrem Fenster aus sehen kann. Mit ihren Freunden in Tul Karm kann sie nur noch telefonisch verkehren. Als ihr Mann starb, schickten die arabischen Freunde einen Kranz, der mehrere Tage für die wenigen Kilometer brauchte. »Wir werden ihn nicht vergessen«, stand darauf.

* * *

Um 14 Uhr erreichen wir Toubas. Seit Stunden warten Patienten der Gemeinde in der Schule. Zwei Ärzte teilen sich ein Zimmer. Mitarbeiter der Hilfsorganisation UPMRC organisieren die Zuweisung der Patienten. Der Unfallchirurg R. hat 8 Jahre in Marburg studiert und arbeitet heute in einem israelischen Krankenhaus. Er weiß, was ihn in Toubas erwartet. Den vitalen Mann quält der schlechte Gesundheitszustand der Patienten. Ein achtjähriger Junge humpelt ins Zimmer. »Das gibt es bei uns alles nicht«, murmelt Dr. R. vor sich hin, während er die aufgerissenen Klumpfüße des Jungen untersucht. Er wird sie sich sein Leben lang wund laufen. Oder das zehnjährige Mädchen, das wegen Sauerstoffmangel bei der Geburt unter cerebralen Störungen leidet. »Mit Physiotherapie würde man ihr bei uns helfen können«, seufzt R. Das Mädchen mit dem wachen Blick kann nicht reden. Hier bleibt sie auf immer ein Pflegefall. Unter den Bedingungen der Checkpoints und Ausgangssperren nimmt die Zahl der Kinder mit Geburtsschäden weiter zu. Hausgeburten ohne medizinische Betreuung sind zur Zeit zumindest in den Dörfern wieder die Regel. Die soziale Dimension des Nahost-Konflikts, die gern ethnisiert wird, zeigt sich im Schicksal dieser Kinder. Mit Israel und Palästina liegen erste und dritte Welt nur eine Handbreit voneinander entfernt. Die aktuelle Lage hat spürbare Folgen für die mobile Klinik. »Früher kamen die Menschen überwiegend mit akuten Krankheiten«, sagt ein junger Kinderarzt aus Tel Aviv. »Jetzt suchen sie fachärztlichen Rat für schwere chronische Krankheiten, weil sie aufgrund der Hindernisse nicht zum Arzt durchkommen.«

Jüdische Siedlungen und Checkpoints, die angelegt sind, die Siedlungen zu schützen, zerlegen die Westbank in viele kleine von einander getrennte Orte. In Gemeinden wie Toubas sind die basismedizinischen Dienste der UPMRC und die mobilen Kliniken der »Physicians« oft die einzige reguläre medizinische Versorgung.

Für die israelischen Ärzte gleicht die Freiwilligen-Arbeit einem Spagat. Ihre Mühe wird in den israelischen Medien als naive Tätigkeit von Moralisten hingestellt. »Im Zweifel sind wir die guten Israelis, die den armen Palästinensern helfen«, sagt Miri Weingarten, die Pressesprecherin.

Einfach neutral und humanitär wollen aber die »Physicians« ihre Arbeit nicht verstanden wissen. Im Nahen Osten sei Politik und humanitäre Hilfe nicht voneinander zu trennen, sagt die Psychotherapeutin, Ruchama Marton, die Gründerin und Präsidentin der Organisation. 1988 entstanden die Physicians mit einem klaren Ziel: das Menschenrecht auf Gesundheit müsse für alle gelten, in Israel und in den von Israel kontrollierten Gebieten. Nur in diesem Kontext ist diese Arbeit mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein in einer katastrophalen Lage. Die habe Israel mit »den Jahrzehnten der Vernachlässigung« die Okkupation mitzuverantworten. In neuer Form der Entrechtlichung wurde nach Oslo die Bewegungsfreiheit der Palästinenser weiter eingeschränkt. Das Dra­ma der letzten 22 Monate, die medizinischen Notfälle, die nicht versorgt werden können, weil sie am Checkpoint nicht durchgelassen werden, die palästinensischen Dialysepatienten, die drei Mal die Woche fünf Stunden brauchen, um einen Weg von eigentlich 20 Minuten zu bewältigen: alles dies läßt das wenige Vertrauen in eine friedliche Lösung weiter schwinden.

Ruchama Marton hält mit Entschlossenheit trotzdem an ihren Grundsätzen fest: »Ohne menschlichen Kontakt wird sich in diesem Konflikt überhaupt nichts bewegen«. Deshalb habe sie gemeinsam mit Mustafa Bargouti, dem Leiter der UPMRC, die mobile Klinik begonnen. Sie wollten beweisen, daß Zusammenarbeit möglich ist. Von den unzähligen Dialog-Projekten, die im Zuge des Oslo-Prozesses entstanden und häufig von der EU gefördert wurden, sind die meisten gescheitert. Gescheitert wohl nicht nur an der Gewalt sondern auch daran, daß hier zwei ungleiche Seiten miteinander ins Gespräch kommen sollten. Diese israelischen Ärzte und die palästinensischen Gesundheitskomitees eint dagegen die Über­zeugung, daß es nur eine politische Lösung helfen kann: zwei Staaten, die die Normen von Demokratie und Menschenrechten für alle wahren. Sie alle verbindet lange Kooperation, die nicht erst entstand, als Geld aus dem Ausland kam. Sie eint sogar die »Opposition«. Nicht nur die Physicians kritisieren ihre Regierung. Mustafa Bargouti und die UPMRC gehören ebenfalls zu den schärfsten Kritikern Arafats und seiner Verwaltung, der die eigenen Privilegien vor allem anderen gehen.

In Toubas ist die Sprechstunde vorbei. Im Hof Gespräche. P. wird von einem Mädchen erstaunt gefragt: »Sind denn nicht alle Juden böse?« Und P. antwortet auf arabisch: »Bei den Juden gibt es gute und schlechte Menschen, genau wie bei euch auch.« Lehrstunden in der verbotenen Zone. Wir verlassen die Schule, sehen überall die Märtyrer-Plakate. Bleiche, harmlose Jungengesichter vor martialischem Hintergrund aus Moschee und palästinensischem Staat, der sich über das ganze israelische Kernland erstreckt. Der Feind als Monolith im Singular, der Gewalt legitimiert. Auf dem Rückweg fahren wir über eine Siedlerstraße. Am Straßenrand Stümpfe abgeholzter Olivenbäume. Tanks in der Ferne. Es ist Schabbat. Keine Siedler unterwegs. Es sind die Straßen, auf denen es regelmäßig zu bewaffneten Überfällen kommt. Erst in Israel fühlen wir uns wieder sicher. Die verbotenen Zone liegt hinter uns. Was nehmen wir mit? Wir haben dem Diktat der Besatzung, den Regeln des Krieges, dem Haß und der gezielten Separation ein Schnippchen geschlagen. Nicht mal ein Etappensieg. Aber immerhin.

Katja Maurer

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Medico – Projektunterstützung im Nahen Osten

Israel – Palästina

Physicians for Human Rights, Tel Aviv, Israel

Unterstützung der juristischen Menschenrechtsarbeit und der Mobile Clinics mit israelischen Ärztinnen und Ärzten in der Westbank, 5200 € Geplante Unterstützung: Allrad-Fahrzeug für Mobile Clinics, ca. 40.000 €

Union of Palestinian Medical Relief Committees, Ramallah, Palestinian Territories

Sicherung der medizinischen Nothilfe und Arbeit der Gesundheitszentren und Mobile Clinics in der Westbank und im Gazastreifen mit Medikamenten, medizinischem Material und Geräten für drei Monate, ca. 260.000 € Geplante Fortführung dieser Unterstützung für weitere 6 Monate, ca. 425.000 €

Libanon:

Popular Aid for Relief and Development, Sabra, Beirut und Saida

  • Ausbildung von Gesundheitsarbeiterinnen in städ­tischen und ländlichen Gemeinden paläs­tinen­sisch­er Flücht­linge außerhalb der offiziellen Flücht­lingslager,
  • Betrieb von präventiven und kurativen Gesund­heits­diensten,
    ca. 40.000 €

National Association for Social Medical Care and Vocational Training, Taalabaya, Bekaa-Ebene

Unterstützung des Ausbildungsfonds der Krankenpflege- und Berufsschule, die eine qualifizierte Ausbildung pa­läs­tinensischer Jugendlicher ermöglicht, die von weiter­führender Berufsausbildung im Libanon weitgehend ausgeschlossen sind 3200 €

Arab Resource Center for Popular Arts, Beirut

Förderung kultureller Projekte und kreativer päda­go­gischer Arbeit palästinensischer Kinder und Jugendlicher und Kooperationen mit libanesischen Schülerinnen und Schülern.

  • Finanzierung des Starts der »Reading and Writing-Campaign«
  • Unterstützung eines Ausbildungsfonds für die »Young Journalists and Filmmakers«
  • Finanzierung der zweiten englischen Ausgabe der Zeitschrift Al-Jana zum Thema Oral History.
    Ca. 10.000 €

 

Veröffentlicht am 01. September 2002

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