Bangalore

Planet der Slums

Die Globalisierung hat ein Gesicht: Es ist die scheinbar wie entfesselt wachsende Megacity. 15 der 20 größten Stadtregionen der Welt liegen im globalen Süden und ein Drittel der Stadtbewohner lebt dort in absoluter Armut. Wachsende Städte und mit ihnen die wachsenden Megaslums prägen auch zunehmend das Leben auf dem indischen Subkontinent. Das „Shining India“, welches die boomende Ökonomie der international aufstrebenden Regionalmacht verspricht, weicht hier oft Plastikplanen, Wellblechhütten, informellen und ungesicherten Beschäftigungen so wie miserablen Lebensbedingungen.

In Städten wie der IT-Metropole Bangalore wird die Kluft zwischen arm und reich so deutlich wie kaum an einem anderen Ort. Die zu dem Reichtum der Wenigen beitragenden Konzerne liegen hier nur einen Steinwurf entfernt von Slums, welche unter dem Zustrom der armen Landbevölkerung aus allen Nähten platzen. Die Einwohnerzahl der drittgrößten Stadt Indiens hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Die schwache, unterfinanzierte öffentliche Gesundheits- und Sozialinfrastruktur aus heruntergekommenen staatlichen Hospitälern und Ambulanzen hält diesem Zuwachs kaum Stand, während private Luxuskliniken um wohlhabende Patient_innen buhlen.

Veränderung von unten

Im Armutsviertel KG Halli begann das Institute for Public Health (IPH) Bangalore, ein Mitglied des indischen Zweiges des People’s Health Movement, 2010 ein Projekt zur Stärkung der Gesundheitsrechte und Gesundheitsversorgung der armen Bewohnerinnen. Sie bilden Gemeindegesundheitsassistent innen aus, die aus diesem Viertel stammen und ganz konkrete Gesundheitsförderung leisten. Durch die Begleitung bei der Schwangerschaft und bis zur Entbindung im Krankenhaus versuchen sie in einem Land, in dem die Müttersterblichkeit durchschnittlich 30 Mal höher ist als in Deutschland, in kleinen Schritten eine Veränderung von unten zu erreichen. Sie sind auch geschätzte Ansprechpartner_innen für Fragen der Familienplanung, weil sie unabhängig und ergebnisoffen beraten. Die Beratungen mit einem Schwerpunkt auf sexuelle Gesundheit für Jugendliche werden sehr gut angenommen und sollen ausgeweitet werden.

Durch ihre Hausbesuche und die Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten sind die Mitarbeiterinnen von IPH auch „Gesundheitsforscher innen“, die lokale Probleme aufdecken und zur Diskussion stellen. Sie setzten Gemeindeversammlungen mit dem zuständigen Bürgermeister durch, auf denen die Beschwerden der Bewohner_innen unter anderem über mangelnde Wasserversorgung, sanitäre Einrichtungen, Müllbeseitigung, Abwasserentsorgung, Straßenzustand oder soziale Hilfen für Witwen und extrem Arme, zur Sprache kamen – also jene sozialen Determinanten der Gesundheit, ohne deren Verbesserung jegliche Gesundheitsversorgung immer nur ein endloses Kurieren an Symptomen bleibt.

Dicke Bretter

Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht die Etablierung einer gemeinsamen Plattform von Delegierten der Bewohnerinnen, der Gesundheitszentren, Arztpraxen und Kliniken in diesem Quartier sowie den offiziellen Behördenvertreter innen, die für die Dienstleistungen und Infrastruktur im Stadtteil verantwortlich sind. Bei deren Zusammenkünften sollen Defizite angesprochen und mögliche Lösungen für Gesundheitsprobleme gefunden werden. Dies ist nicht immer einfach bei vorhersehbaren Interessenkonflikten, denn die meisten der privaten kleinen Praxen und Kliniken konkurrieren um die wenigen zahlungskräftigen Patient_innen und zeigten zunächst wenig Interesse an einer Zusammenarbeit.

Dank ihrer Hartnäckigkeit konnte das Team des IPH schon ein paar Bretter bohren: ein knappes Dutzend der Behandler_ innen kommen regelmäßig zu den monatlichen Treffen und tauschen sich über ihre Erfahrungen und mögliche Verbesserungen der Versorgung aus – und auch die Vertreter_innen aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst tauchen nach einer Reihe von Gesprächen mit ihren Vorgesetzten öfter auf.

Der wichtigste Effekt aber bleibt ohne Zweifel die Erfahrung der Menschen, dass sie selbst ihre Situation verbessern können: wenn sie zusammen ihre Stimme erheben, werden sie gehört und ihre Vorschläge ernst genommen. Ein solcher Zusammenhalt ist nicht selbstverständlich in einem ethnisch, religiös und kulturell so vielfältigen Gebiet wie KG Halli.

Auch diese „interkommunale Harmonie“, wie das Ziel des friedlichen Zusammenlebens in Indien genannt wird, ist eine wesentliche soziale Bedingung für Gesundheit. Und sie ermöglicht eben erst die erfolgreiche eigene Interessenvertretung der sonst stummen und armen Mehrheit, die ihren Anteil am „Shining India“ zu Recht einfordert. Denn anders als auf dem Land, kann Gesundheitsfürsorge im städtischen Raum nicht auf schon bestehende Gemeinschaft der Betroffenen setzen, sondern muss ein solches Gemeinsames erst schaffen.

Seit 2010 unterstützt medico die Arbeit des IPH im Armutsviertel KG Halli in Bangalore. Seit dem Tsunami 2005 existiert bereits eine enge Kooperation.

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Veröffentlicht am 12. Februar 2013

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