Keine Bevölkerungsgruppe der Welt erhält, pro Kopf gerechnet, so viel internationale Hilfe wie die Palästinenser. Seit dem Osloer Friedensabkommen von 1993 sind sie allein aus den Mitteln des EU-Haushaltes mit 2,3 Milliarden Euro unterstützt worden. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen als Folge der zweiten Intifada .
Am Abend des 6. Januar, Heilige Drei Könige, erreiche ich Jerusalem. Doch für Besinnlichkeit bleibt keine Zeit. Noch vor Beginn der Eid Al Adha-Feiertage, während derer zum Abschluss des Hadjj das öffentliche Leben eine Woche lang stillsteht, habe ich einen Termin beim Gesundheitsminister der Autonomiebehörde (PNA). Zusammen mit unserem Partner, der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), beantragt medico bei der EU ein neues Gesundheitsprojekt. Brüssel verlangt neuerdings als zusätzlichen Vertragspartner das palästinensische Gesundheitsministerium. Wir waren mehr als skeptisch. Denn die Bürokratie und Korruption der PNA sind in Palästina sprichwörtlich und Anlass für mancherlei bösen Scherz. Bislang haben wir auf die alleinige Kooperation mit nichtstaatlichen Partnern gesetzt und zivile Initiativen gestärkt, die nicht nur Arzneien verabreichen, sondern auch für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften eintreten - gerade auch in Palästina. Und jetzt sollten unsere Projekte über den Tisch eines Ministers gehen?
Die Autonomiebehörde ist ein zur Verwaltung gewordener Widerspruch: Das Schicksal der palästinensischen Gesellschaft ist, einen Staat zu simulieren, um ihn zu bekommen. Nur seine Bürokratie, die ist schon jetzt ein ganz realer Alptraum. Die Bilder in der Westbank scheinen immer die gleichen: endlose Sperren, Menschen warten, Stillstand allerorten. Dazwischen brausen die Ministerlimousinen der PNA, ausgestattet mit Spezialpapieren und Chauffeuren, von Nablus nach Ramallah, von Tulkarem nach Hebron und durch sämtliche Checkpoints. Ihre eingesperrte und wütend ohnmächtige Bevölkerung hinter sich lassend. Die PNA ist das Werk der Fatah, der Partei Arafats. Arafat war ein Präsident mit Briefmarken, aber ohne Land. "Unser eigener Papa Doc" - so der verstorbene palästinensische Intellektuelle Edward Said - hatte unzählige Sicherheitsdienste, dazu korrupte Claqueure, alte Weggefährten aus Exil-Zeiten, aus Jordanien, Beirut und Tunis. Die Palästinenser hatten keinen Staat, sondern einen Polizeistaat. Und die "Tunesier", wie Arafats Clique schnell genannt wurde, spielten 40 Räuber ohne Ali Baba.
Nach Arafats Tod änderte sich wenig. Mahmud Abbas, der neue Präsident, wurde mit großer Mehrheit gewählt. Er gilt als einer der wenigen, die nicht käuflich sind. Aber in den Ministerien herrschten die alten Seilschaften. Hier ein Monopol auf Zigaretteneinfuhr, dort eine Villa oder ein Dienstwagen. Der israelische Premier Scharon verhöhnte Abbas öffentlich als "Küken ohne Federn". Denn der neue, betont zivil auftretende Präsident war unangenehm: Er wollte verhandeln - und abrüsten. Abbas versuchte die militarisierte Intifada zu beenden. Die konkurrierenden Milizen, die lokalen und regionalen Fatah-Fürsten mit ihren Klein- und Kleinstarmeen, sollten in die Sicherheitsdienste überführt werden. Hamas bewegte er zum Verzicht auf Anschläge in Israel. Und er schaffte die berüchtigten braunen Umschläge ab, mit denen Arafat jahrzehntelang seine Günstlinge versorgt hatte.
Im Ministerium
Wer von Ost-Jerusalem aus in die Westbank will, der muss durch Kalandia. Allein der Weg entlang der neuen acht Meter hohen Mauer ist beklemmend. Auch der Checkpoint wurde modernisiert. Die neue käfigförmige Anlage ist gesäumt von zwei Betontürmen, die Soldaten sitzen unsichtbar hinter Sehschlitzen. Diese Menschenschleuse sorgt dafür, das israelische Gefühl von Überlegenheit und die israelische Angst zu verstärken. Jeder Quadratzentimeter dient dem Schutz der paar Soldaten vor den mehreren tausend täglichen Pendlern zwischen Ramallah und Jerusalem. Drehtüren, Kameras, Lautsprecher, Tore, Stacheldraht, kugelsicheres Glas, Scanner - wie erschlagen steige ich in das Taxi zum Ministerium in Ramallah.
Bislang unterstützte die EU die Palästinenser jährlich mit etwa 250 Millionen Euro, wobei 70 Millionen Euro im vergangenen Jahr als direkte Haushaltshilfe an die Autonomiebehörde flossen. Die meisten Mittel sind an konkrete Projekte gebunden. Und seit 2005 muss in Gesundheitsfragen der palästinensische Minister dabei sein. Bereits früher versuchten wir die EU-Amtsvorgaben an die Wirklichkeit anzupassen. Brüssel wollte, dass Medikamente nicht kostenfrei abzugeben seien. Wir hielten dagegen, wie das möglich sein sollte, bei 60 Prozent Arbeitslosigkeit? Und nun war ich auf dem Weg zum Ministerium.
Der Termin dort verläuft wie erwartet. Der Verantwortliche für öffentliche Gesundheit fragt, ob denn auch genug Geld zur Verfügung stehe. Wir sollten bedenken, dass die Straßen schlecht seien und die Ministeriumsmitarbeiter Allrad-Jeeps bräuchten. Unsere gesundheitspolitische Konzeption interessiert ihn nicht. Wie angenehm dagegen das Gespräch mit der gesundheitspolitischen Leiterin des Distriktes Ramallah. Sie erweist sich als kompetent, präzisiert unsere Angaben zu betroffenen Dörfern und erklärt, warum in bestimmten Gegenden die Versorgung gewährleistet sei.
Die Klinik im Jugendklub
Am nächsten Tag begleite ich die mobile Klinik unseres Partners, die wir bis Ende Januar aus Spendenmitteln fördern konnten, auf der Fahrt nach Beit Sira, im Südwesten von Ramallah. Das Dorf ist nur durch ein kleines Tal von einer israelischen Siedlung getrennt. Überall wird an der künftigen Sperranlage gearbeitet, Fundamente werden ausgehoben, Trassen begradigt. Eine schon bestehende "Mauer" im Norden bildet die Autobahn Jerusalem - Tel Aviv, die hier die Westbank "abtrennt", passierbar nur durch enge Unterführungen, die mit Stahlschranken versehen sind. Sind diese Sperren offen, erreicht man das 40 km entfernte Beit Sira von Ramallah aus in 40 Minuten. Alle Auffahrten zur Schnellstraße, über die man in zehn Minuten in Ost-Jerusalem wäre, bleiben hingegen immer geschlossen.
Die Ärztin und der Arzt von PMRS richten im Jugendclub der auffallend großen und modernen Moschee den mobilen Kliniktag aus. Am Gebäude nebenan klebt ein riesiges Wahlplakat von Hamas. Im Laufe des Vormittags kommen circa 70 Patienten zur Sprechstunde. Viele ältere Menschen, insbesondere Frauen. Unsere Partner kennen die meisten von ihnen. Die Ärztin berichtet, dass viele von ihnen Medikamente brauchen, die es in der örtlichen Station des Gesundheitsministeriums, die nur an zwei Tagen pro Woche geöffnet ist, meist nicht gibt.
Ein junger Mann aus dem Dorf, der die Aktion vor Ort unterstützt, ist gerade auf Semesterferien zu Hause. Er studiert Medizin in Kairo und in den Ferien hilft er unserem Partner. Er erzählt, wie so viele junge Palästinenser, von seinem Traum ins westliche Ausland zu gehen.
Im Jugendclub ist es bitter kalt, es gibt weder eine Heizung noch Öfen. Die Untersuchungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Bei der Kälte ist es nicht zumutbar die Patientinnen aufzufordern, ihren Oberkörper frei zu machen. Auch hier werde ich später wieder mit den Vorschriften unseres Geldgebers konfrontiert, als man mir erzählt, dass die EU einer anderen NGO die Anschaffung von Heizöfen für den Winter und Ventilatoren für den Sommer verweigerte. Einzelne Patientinnen sind ärmlich gekleidet. Sie und chronisch Kranke bekommen die Medikamente umsonst. Die gut bestückte "Apotheke" ist das Herzstück der mobilen Klinik. Medikamente spielen eine sehr große Rolle, auch wenn nicht immer wirklich indiziert, wie die PMRS-Ärztin durchaus zugibt. Immer wieder rede sie mit den Patientinnen, aber die meisten verstünden es nicht, wenn ihnen kein Medikament verschrieben werde. Nach wiederholten Bitten wird manchmal dann auch noch ein weiteres Medikament aufgeschrieben, um das die Patientinnen eindringlich bitten.
Neue Realitäten
Nach dem Wahlsieg der Hamas wurde die westliche Finanzhilfe teilweise gestoppt. Israel verweigert die Rückzahlungen der Zolleinnahmen aus dem palästinensischen Warenverkehr, wie sie in den Osloer Verträgen fixiert wurden. Aber es mehren sich die Stimmen aus der EU-Kommission, die der Hamas, der Fatah und Präsident Abbas Zeit geben wollen.
Die unabhängigen Ärzteteams unserer Partner arbeiten in diesen Verhältnissen. Das macht ihre Unterstützung angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse umso bedeutsamer.