Nichts wird besser, wenn sich nicht alles ändert

Fotostrecke und ausführlicher Reisebericht aus Bangladesch, sieben Wochen nach dem Einsturz der Textilfabrik

Am 24. April 2013 ereignet sich in Bangladesch die bislang verheerendste Fabrikkatastrophe, als ein neunstöckiges Hochhaus in Savar einstürzt und Tausende Näherinnen und Näher unter sich begräbt. Im Juni 2013 hat der Südasien-Referent von medico, Thomas Seibert, mit dem Fotografen Gordon Welters die Unglücksstelle in Savar und Überlebende besucht.

Von Bangladeschs 14-Millionen-Metropole Dhaka aus fahren der Fotograf Gordon Welters und ich 40 Kilometer nordwestlich nach Savar und Ashulia. In den Zwillingsstädten befinden sich viele der Textilbetriebe des Landes. Begleitet werden wir von Dr. Arman und der Physiotherapeutin Anu, beide arbeiten für den medico-Partner Gonoshasthaya Kendra (GK), eine landesweit tätige Basisgesundheitsorganisation. In Savar liegt auch das Hauptquartier von GK, zu dem eine Klinik, eine Universität und eine Medikamentenfabrik gehören. Nicht weit vom GK-Anwesen stand bis vor sieben Wochen das Fabrikhochhaus Rana Plaza mit Shoppingmall und Bank im Erdgeschoss. Am 23. April 2013 wurden am ganzen Gebäude tiefe Risse entdeckt, die Behörden ordneten die Evakuierung an, die Angestellten der Bank brachten umgehend Mobiliar, Computer und Geldreserven in Sicherheit. Die Chefs der Textilfabriken aber zwangen ihre Angestellten zur Arbeit, drohten mit Entzug des Lohnes.

Wie an fast jedem Tag unterbrach am nächsten Morgen ein Stromausfall den Betrieb. Daraufhin sprangen auf jedem Stockwerk gleichzeitig wuchtige, dieselgetriebene Notstromgeneratoren an. Das Gebäude hielt der Vibration nicht stand, stürzte Sekunden später ein. Die neun Stockwerke lagen „wie ein Sandwich aufeinander“, erzählt ein Augenzeuge. Fast einen Monat lang gruben zunächst freiwillige Helfer, dann Rettungsmannschaften Stollen in den Schuttberg, schleppten Verletzte und Leichen aus den Trümmern. Später wurden Kräne herbeigeschafft, um die schweren Betontrümmer von oben abzuheben. Die letzte Überlebende wurde am 17. Tag nach dem Kollaps befreit. Insgesamt barg man 1127 Tote und 2500 Verletzte. Etwa 300 Menschen gelten noch immer als vermisst.

Geraubte Zukunft

Unsere erste Station ist das Nationale Orthopädische Hospital in Dhaka. Am Seiteneingang des roten Klinkersteinbaus begrüßt uns die Gewerkschafterin Safia Pervin vom zweiten medico-Partner in Bangladesh, der National Garment Workers Federation (NGWF). Sie führt uns in zwei nach Geschlechtern getrennte Krankensäle, in denen jetzt noch siebzehn Patientinnen und Patienten betreut werden. Den meisten wurden ein oder zwei Gliedmaßen, Arme, Beine, Hände oder Füße amputiert, manchen noch während der Bergung, ohne Betäubung, mit Metallsägen oder Fleischermessern, weil man sie anders nicht befreien konnte. Die Ärzte mussten die Notoperationen chirurgisch korrigieren, oft lebensrettende Wundbrandbehandlungen vornehmen.

Die Luft ist stickig, vom Lärm der Ventilatoren und von vereinzeltem Weinen und Gewimmer erfüllt. Die meisten Menschen sind gerade mal zwanzig Jahre alt, junge Frauen und Männer. Zutiefst verstört können viele noch immer nicht fassen, was ihnen widerfahren ist. Kaum jemand wird je wieder arbeiten, einen Partner oder eine Partnerin finden, Kinder haben können. Das Hospital kann weder Physio- noch gar Psychotherapie anbieten. Was über medizinischen Beistand hinausgeht, müssen die Verwandten leisten. Bezeichnenderweise ist das engumschlungene Paar in einem Bett ein Geschwisterpaar. Shirina, 20, wurden beide Beine zerschmettert, infolge des Blutverlusts versagten ihre Nieren, sie wird immer schwer krank bleiben.

Ihr Bruder Imamul tröstet sie auch deshalb, weil ihr Ehemann sie wenige Tage nach ihrer Rettung verlassen hat. Rechts neben Shirina liegt Rabia. Die Mutter von vier Kindern erlitt mehrfache Brüche an beiden Beinen, sechs gebrochene Rippen verursachen bei jedem Atemzug starke Schmerzen. Ihr zur Seite sitzt ihr Mann Mamun Rashed, ein Drucker. Die Familie lebt in Savar, ihr größtes Glück ist die älteste Tochter, die sich gerade zum Studium eingeschrieben hat. Beiden gegenüber steht das Bett von Rebecca, 23, auch sie von ihrem Bruder betreut, dem Straßenhändler Emdi Musharraf. Sie wurde zwei Tage nach dem Zusammenbruch des Rana Plaza befreit, die Retter mussten ihr das rechte Bein und den linken Fuß amputieren. Auch die Mutter der beiden war Arbeiterin im Rana Plaza. Sie hat den Einsturz nicht überlebt.

Eine Reihe weiter begrüßen wir Noriom, 20, und ihre Schwester Joinab, 21. Auch Noriom wurde der linke Arm amputiert, wie Runa hatte auch sie das Glück, dass die Operation hier im Hospital und nicht vor Ort vorgenommen wurde. Als Joinab uns zeigt, dass der linke Fuß ihrer Schwester gelähmt ist, nutzt Gonoshasthaya-Kollegin Anu die Gelegenheit, den beiden eindringlich physiotherapeutische Übungen zu erklären, mit der die Beweglichkeit des Fußes vielleicht zurückgewonnen werden kann. Die Hoffnung ist allerdings sehr gering: Es ist drei nach Wochen nach dem Unglück das erste Mal, dass sich jemand der Lähmung annimmt.

Ein paar Betten weiter treffen wir auf die neunzehnjährige Runa, 19, und ihren Bruder Shamin, 26. Der unverheirateten Arbeiterin wurde im Hospital der linke Arm amputiert, ihr Bruder zeigt uns ein Schreiben, nach dem die von der Regierung Österreichs getragene Organisation ‚Hope 87’ die Kosten ihrer Prothese übernehmen wird – eine der bizarren Wendungen im noch völlig ungelösten Problem der Entschädigung der Hinterbliebenen und Überlebenden, zu der eigentlich der Besitzer des Rana Plaza, die zuständigen bangladeschischen Behörden, der Verband der Textilunternehmer Bangladeschs und die internationalen Auftraggeber verpflichtet sind.

Auf dem Gang begegnen wir Manouara, 50, die fast täglich hierher kommt, obwohl keines ihrer vier Kinder hier betreut wird. Das Hospital wurde ihr zum Ort ihrer verzweifelten Hoffnung, ihren Sohn Abdul Zoni vielleicht doch noch wiederzusehen: Er war Arbeiter im Rana Plaza und gilt seit dem Zusammenbruch als „vermisst“. Eine Klassifikation, die für Gewerkschaftssekretärin Safia nur eine „erbärmliche Lüge“ ist: „Wir reden hier von 300 Menschen, die nicht vermisst, sondern tot sind!“

Ankunft in Savar

Mit dem Überqueren der Brücke über den Turag verlassen wir die Stadt und können doch nicht sagen, dass wir jetzt in ländlichem Gebiet wären. Die Straße von Dhaka nach Savar wird rechts wie links nahezu durchgängig von Läden, Schnellrestaurants und Werkstätten gesäumt. Bevor wir in Savar zur Unglücksstelle fahren, besuchen wir das Enam Medical and College Hospital, eine Privatklinik mit Lehrbetrieb, die gleich nach dem Einsturz des Rana Plaza insgesamt 1746 Arbeiterinnen und Arbeiter aufgenommen hat, also die Mehrzahl der Überlebenden. In den ersten Tagen und Nächten leisteten Ärzte, Pflegepersonal und Studierende ununterbrochen Dienst. Bald fehlende Medikamente und Verbandmaterial lieferten die Apotheken, ungezählte Menschen brachten Lebensmittel oder Kleidung und spendeten dringend benötigtes Blut. Bei unserem Besuch werden noch 14 Patientinnen und Patienten betreut. Die Bilder gleichen denen aus dem Krankenhaus in Dhaka, die Geschichten und Schicksale einer geraubten Zukunft ebenso.

Nach kurzer Weiterfahrt stehen wir am Rana Plaza. Von dem Gebäude blieb nur noch eine Grube, die sich langsam mit Wasser und Abfällen füllt. Auf ihrem Grund liegen drei Autos, die am Tag des Zusammenbruchs in der Tiefgarage standen, plattgedrückt, als ob sie in eine Schrottpresse geraten wären. Die Außenwände der Nachbargebäude wurden von innen aufgebrochen, von hier gruben sich die ersten Retter in den Schuttberg. „Die Leute schrien um ihr Leben, schrien vor Schmerzen und vor Angst, flehten uns an, sie rauszuholen“, sagt ein Augenzeuge. „Ununterbrochen klingelten aus dem Schuttberg Handys, wer sein Gerät bedienen konnte, rief Verwandte und Freunde an, die riefen zurück, das ging so weiter, bis die Akkus leer waren. Je leiser es drinnen wurde, desto lauter wurde es draußen: schon nach ein paar Stunden waren Hunderte Helferinnen und Helfer vor Ort, begannen, das Geröll wegzuräumen, nahmen Verletzte oder Leichen in Empfang, brachten sie zu den Krankenwagen, die der Reihe nach vor der Ruine Aufstellung nahmen. Am dritten Tag fing es an zu stinken, das wurde immer schlimmer, es war fürchterlich.“ Der Mann bricht ab, lässt uns stehen, verliert sich im Gewühl. An den Stacheldraht, mit dem die Grube zur Straße hin abgesperrt wird, haben Gewerkschaften schwarze und rote Transparente mit Losungen der Trauer und der Wut geknüpft. Davor verharren noch immer Passanten, sehen bedrückt in die Grube. Andere haben auf längst zerknitterten DIN-A-4-Blättern Bilder vermisster Verwandter aufgeklebt, bitten, ihnen bei der Suche nach Vater, Schwester oder Tochter zu helfen.

Über eine Seitenstraße gelangen wir durch ein Gewirr kleinster Straßen vor ein einstöckiges Anwesen, in dem vier Familien je in einem Raum zur Miete wohnen. Wir betreten ein kleines, dunkles Zimmer, in dem schon zehn junge Männer und Frauen eng beieinandersitzen. Den Kontakt verdanken wir Tunazzina Sahaly und Kasheful Hoda von der Research Initiative for Social Equity Society (RISE), einer Forschungs-, Bildungs- und Advocacy-NGO aus Dhaka, die den Überlebenden des Rana Plaza mit ihren Mitteln zur Seite steht. Im Laufe des dreistündigen Gesprächs treten andere an ihre Stelle, am Schluss haben wir mit dreißig Menschen gesprochen, sie alle Arbeiterinnen und Arbeiter von Rana Plaza.

Rima, 19, erlitt schwere Kopf- und Rückenverletzungen und einen Armbruch. Nilufar, 30, wurde erst am dritten Tag aus den Trümmern befreit, hat keine Erinnerungen an die Zeit, in der sie verschüttet war. Shurima, 30, wurde der linke Fuß amputiert, ihr Mann ist herzkrank und arbeitslos. Auch der Mann ihrer Freundin Rabeya, 30, ist krank und arbeitslos, sie erlitt Kopf-, Rücken-, Brust- und Augenverletzungen, das Paar hat zwei Kinder. Kairul Islam, 24, zeigt uns Narben an Rücken und Armen, kann sich jetzt nur sehr langsam und nur unter Schmerzen bewegen. Abdur Razzak, 25, arbeitete im sechsten Stock des Rana Plaza. Auch er wurde unter einer Wand begraben, wurde am dritten Tag aus den Trümmern befreit. Mumtaz Benin, 35, hat sich am 24. April wie viele andere trotz schwerer Beklemmung an ihren Arbeitsplatz zwingen lassen, stand mehrmals unschlüssig auf, wurde genötigt, wieder Platz zu nehmen, traute sich nicht, zu gehen. Sie erlitt Verletzungen im Nacken und am Rücken, leidet ständig unter schweren Schmerzen, muss zwei Töchter versorgen.

Abdul Aziz, 42, ist unverletzt davongekommen, hat aber seinen einzigen Sohn verloren, der Junge war 17. Shahadur, 45, wurde am dritten Tag gerettet, seine Frau gilt als vermisst. Jainob, 50, hat ihre Tochter Rosina verloren, sie war 18. Ihr Leichnam wurde am 17. Tag der Rettungsarbeiten geborgen, bis dahin ging sie jeden Tag zum Schuttberg. Die 18-jährige Shahib hatte Glück und Unglück: während ein Bruder mit ihr gerettet wurde, wurde ihr zweiter Bruder, 25, von den Trümmern erschlagen. Hassan, 55, verlor seine Tochter; die Leiche wurde am achten Tag geborgen. Anoara verlor die Tochter Tashima, Sohel seinen Bruder Jangir, dessen Leichnam nicht gefunden wurde, Rehana ihren Mann Mahedun.

Der Unternehmerverband BGMEA hat allen Beschäftigten des Rana Plaza zwei Monatslöhne ausgezahlt, die Chance für viele, Arztrechnungen zu bezahlen, die sie sonst gar nicht hätten begleichen können. Wer eine oder einen Toten als nahen Verwandten identifizieren konnte, bekam einen staatlichen Scheck von 20.000 Thaka, umgerechnet 200 Euro. Zwei hier im Raum erhielten zusätzlich einen Scheck der Ministerpräsidentin Sheikh Hasina über 100.000 Thaka. Niemand weiß, ob es weitere Zahlungen geben wird. Alle sind ohne Anstellung, einige wollen nicht mehr in einer Fabrik arbeiten, eine Frau wird von Panikattacken gequält, sobald sie ein größeres Gebäude betritt. Ohne jede Entschädigung verblieb der Jüngste im Raum, Sakib, ein zehnjähriger Junge, der noch zwei Brüder und eine Schwester hat. Die Mutter wird seit dem 24. April vermisst.

Wie bei der Brandkatastrophe von Tazreen Fashion sind auch bei Rana Plaza die Auftraggeber bekannt. Ihre Beteiligung eingeräumt haben Benetton, Bon Marche, Camaieu, Cato Fashions, Children’s Place, Cropp, El Corte Ingles, Joe Fresh, KiK, Mango, Manifattura Corona, Matalan, Premier Clothing, Primark, Texman, wieder Walmart. Obwohl Labels des italienischen Auftraggebers YesZee im Rana Plaza gefunden wurden und das Unternehmen telefonisch gegenüber der Kampagne für Saubere Kleidung eingeräumt hat, beteiligt gewesen zu sein, droht es bei Erwähnung seines Namens mit juristischen Schritten. Einige andere, deren Labels sich vor Ort fanden, behaupten, seit längerem keine Aufträge mehr erteilt zu haben oder erst nachprüfen zu müssen, ob Aufträge von Zwischenhändlern erteilt worden seien. Der deutsche Billigdiscounter KiK, der sowohl bei Tazreen Fashion wie im Rana Plaza fertigen ließ, trägt übrigens die alleinige Verantwortung für Pakistans „Industrial 9/11“, den Brand bei Ali Textiles in Karatschi, der 300 Menschen das Leben kostete.

Die Order all’ dieser Unternehmen an ihre Auftragnehmer war und ist immer überall dieselbe: billiger werden, flexibler sein. Auszutragen hatten und haben das die Arbeiterinnen und Arbeiter. Zur Kernarbeitszeit von acht bis fünf Uhr kamen fast täglich bis zu sechs Überstunden hinzu. Gearbeitet wurde sechs Tage die Woche, bezahlten Urlaub gab es nicht. Die Überstunden eingerechnet lag Lohn mit knapp 50 Dollar trotzdem unter der Armutsgrenze von zwei Dollar täglich. Nähmaschine stand an Nähmaschine auf wackligen Einbautischen, der Lärm war ungeheuer, die stickige Luft von Textilfasern gesättigt.

Jetzt haben einige Auftraggeber ein Abkommen zur Arbeits- und Gebäudesicherheit unterzeichnet, ihr erstes Zugeständnis überhaupt. Eine freiwillige Verpflichtung ohne Gesetzeskraft, immerhin unter Einbindung von Gewerkschaften. Es gilt für Bangladesh, aber nicht für Pakistan oder Kambodscha, enthält kein Wort über die Missachtung der Arbeiterrechte, über Löhne unter dem Existenzminimum, tägliche Überstunden, über fehlende Gesundheits- oder Altersversorgung, die gewaltsame Unterbindung gewerkschaftlicher Betätigung. Kein Wort zu der erbarmungslosen Konkurrenz, die den Produzenten in Asien von den Einkäufern aus Europa oder den USA aufgezwungen wird: eine Konkurrenz, die in den Chefs von Rana Plaza die Verbrecher fand, ohne die sie nicht funktionieren würde.

Einblicke ins private Leben

Direkt nach dem Treffen begleiten wir Shurima und Rabeya, von denen gerade eben die Rede war, in das Haus, in dem sie leben. Das zweistöckige Gebäude besteht aus zwei Hälften, von denen jede pro Stockwerk zehn Räume umfasst. Der Raum, den sich Shurima mit ihrem Mann und dessen Mutter teilt, hat gar keine Möbel; an der einen Wand ist Kochgeschirr aufgereiht, in der hinteren Ecke stapeln sich die Decken, auf die sich die drei nachts zum Schlafen ausstrecken. Was die Familie darüber hinaus besitzt, hat auf einem Wandregal Platz. Gegenüber wohnen sechs Personen: Nilufar Jasmin, 28, und ihr Mann Abbas Uddin, 30, beide Textilarbeiter, mit ihren Kindern Patna, 5, und Shapna, 3. Mitbewohnerinnen des einen Raums sind außerdem Abbas’ Mutter und Schwester, insgesamt also sechs Personen. Kostbarstes Besitztum ist ein Ventilator. Das Bett, das nachts von allen Bewohnern geteilt wird, dient während der Mahlzeiten als Tisch, um den sich die ganze Familie versammelt. „Haben wir drei Mahlzeiten pro Tag“, sagt Nilufar, „dann geht es uns wirklich gut. Das gelingt uns aber nur in der Woche nach dem Auszahlen des Lohns.“ Aber immerhin: Die beiden Kinder besuchen jeden Vormittag eine Schule, die von einer ausländischen Hilfsorganisation unterhalten wird. „In dem Dorf, aus dem wir kamen, gab es so etwas nicht.“

Die meisten Hausbewohner haben im Rana Plaza gearbeitet und sind jetzt ohne Einkommen; die Monatsmiete liegt pro Raum bei 1500 Thaka – rund ein Drittel des Monatslohns, rechnet man die Überstunden ein. Wer fünf Monate mit der Miete im Rückstand ist, muss seinen Raum aufgeben und anderswo Unterkunft suchen. Das ganze Viertel besteht aus solchen Häusern, zwischen denen einzelne Familien in noch ärmeren, oft nur mit Wellblech gedeckten Hütten leben.

Einer Verpflichtung folgend

Sahaly von RISE hatte uns schon während unseres ersten Treffens von einem jungen Arbeiter erzählt, der in den ersten beiden Tagen nach dem Zusammensturz des Rana Plaza über 30 Menschen aus den Trümmern geborgen hatte. Gerne wollten wir ihn treffen und fahren deshalb wieder an die Grube. Didar Hossein wartet schon auf uns, ein kleiner, schmächtiger Mann im Alter von 26 Jahren. Didar arbeitet in einem Gebäude, das direkt gegenüber dem Rana Plaza liegt und kurioserweiser Razza Plaza heißt, ebenfalls eine Shoppingmall und auf den fünf Stockwerken darüber eine Textilfabrik umfasst. Didar ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Er kam 2006 nach Savar, wo er zunächst in einer der Fabriken des Rana Plaza arbeitete. Den Job dort hat er gekündigt, weil er unter seinen Kollegen keinen Anschluss fand und den Geruch von Trockenfisch nicht ertrug, der aus einem der Nebengebäude ins Rana Plaza herüberzog.

Wir kommen auf das Unglück zu sprechen. Auch Didar hat schon am Tag zuvor von den Rissen gewusst, die sich am Rana Plaza gezeigt haben, hat gesehen, wie die Mitarbeiter der Brac-Bank ihre Filiale im Erdgeschoss geräumt haben. „Am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, traf ich einen Freund. Der sagte mir: ‚Bete zu Gott, dass Du mich heute Abend wiedersiehst.’ Auf der Straße haben wir uns getrennt, jeder ging an seine Nähmaschine, ich ins Razza, er ins Rana Plaza. Er hat nicht überlebt.“

Anderthalb Stunden nach Arbeitsbeginn wurden Didar und alle seine Kolleginnen und Kollegen von einem ohrenbetäubenden Donnern aufgeschreckt, „vielleicht klingt es so, wenn eine Bombe explodiert.“ Sie rannten auf die Straße, standen in einer riesigen Staubwolke. Dann sahen sie, was geschehen war, sahen den Schuttberg, der die Nebengebäude immer noch überragte, sahen oben einzelne Menschen, die versuchten, herunterzuklettern, manche sprangen. Bald vernahmen sie die Schreie der Verschütteten. „Die beiden oberen Stockwerke saßen locker auf, während darunter jeweils Deckenwand auf Fußboden lag.“

Mit ein paar anderen rannte er in das Gebäude, in dem wir jetzt sitzen, um nach oben zu kommen. Nachbarn brachten Werkzeuge und sie begannen, sich in die Trümmer des Nachbargebäudes hineinzugraben. Bald gelang ihm der Durchbruch in einen Raum des siebten Stockwerks, in dem 14 Menschen wie in einer Höhle eingeschlossen waren, unverletzt. Einer nach dem anderen krochen sie heraus, man brachte sie nach unten, wo sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, durch die sich Polizei und erste Ambulanzen ihren Weg bahnten. Didar ging wieder nach oben, grub sich erneut einen schmalen Stollen in den Berg, durch den er voran kroch. Jetzt stieß er auf den ersten Leichnam, eine Frau mit zertrümmertem Kopf. Er packte den leblosen Körper, zerrte ihn hinter sich her nach draußen, kehrte dann immer wieder zurück, grub weiter, kroch wieder zurück, bis es dunkel wurde. Mittlerweile hatte er seine Frau angerufen, sie gebeten, ihm die Taschenlampe von zu Hause zu bringen.

Beim nächsten Gang gelang es ihm erneut, eine Kammer zu öffnen, in der mehrere Personen eingeschlossen waren. Er knipste die Lampe an, stellte schnell fest, dass alle tot waren. Vom hinteren Ende aber rief ihn ein Mädchen an, bat ihn zu sich. Als er bei ihr war, sah er, dass ihre Hand eingeklemmt war. Er fing ein Gespräch mit ihr an, fragt nach ihrem Namen, ihrer Herkunft, suchte sie zu beruhigen. Anna – er weiß heute, dass sie 12 Jahre alt ist – flehte ihn an, sie herauszubringen: „schneide mir die Hand ab, sonst muss ich sterben!“ Wieder versuchte er, sie zu beruhigen, überlegte, sagte ihr dann, dass er Hilfe holen wolle. „Nein, bitte, Du wirst nicht wiederkommen, ich sterbe.“ Er versprach inständig, dass er zurückkommen werde, dass er einen Arzt mitbringen werde.

Als er wieder draußen war, bat er einen Arzt, ihn zu begleiten. „Ich werde nicht mitkommen, ich werde hier gebraucht. Du musst das selbst tun.“ Der Arzt gab ihm eine Knochensäge, Verbandszeug und eine Injektionsspritze. „Ich habe die Säge und das Tuch genommen, aber nicht die Spritze. Ich hatte Angst vor der Spritze, verstand gar nicht, was ich damit tun sollte.“ Er kletterte wieder nach oben und kroch mit Taschenlampe, Tuch und Säge zu Anna zurück. Als sie ihn sah, sprach sie ihn ganz ruhig an: „Willst Du Wasser? Ich war in der Kantine, als das Haus zusammenbrach, hatte für mich und meine Kolleginnen gerade ein paar Flaschen geholt.“ Sie tranken, er zeigt ihr die Säge. „Schneide. Bitte, schneide.“ Sie beteten. Er setzte an, sie schrie, er schrie, beide weinten und schrien, das Blut floss. „Es war, als sägte man einen Ast durch. Ich band den Armstumpf ab, band dann den Stumpf an ihre Brust, fing an, sie Zug um Zug nach draußen zu ziehen. Wir weinten die ganze Zeit.“ Als sie zurück waren, nahmen andere das Mädchen entgegen, trugen sie die Treppen herab nach unten.

Es war jetzt Nacht. Wie viele andere ging auch Didar nach Hause, sagte seiner Frau, dass er gleich bei Dämmerung zurückkehren und weitermachen würde. „Was wird sein, wenn ein Tunnel einstürzt. Du kannst selbst begraben werden, Dich verletzen, sterben“, fragte ihn sein Frau. „Das weiß ich“, antwortete ihr Didar, „aber was soll ich tun. Es gibt die Stimmen. Das ist eine Verpflichtung, der ich folgen muss.“

Bei der Morgendämmerung kehrte Didar zur Ruine zurück, seine Frau begleitete ihn. Er arbeitete den ganzen Tag durch, grub sich immer wieder in die Trümmer, wechselte die Stockwerke, grub im fünften, im vierten, fand Tote und Verletzte, musst wieder schneiden, die Wunden verbinden, Männer und Frauen nach draußen bringen, bis es wieder dunkel wurde. Er war jetzt besser ausgerüstet, hatte eine Sonnenbrille, Handschuhe, Wasser und etwas zu essen dabei. Er tauschte die Operationssäge mit einem elektrischen Winkelschleifer. Doch es wurde immer schwerer, Gänge in die fest verkeilten Betonbruchstücke zu treiben, es gab auch keine Hohlräume mehr, die sich öffneten, nur noch eingequetschte und zugleich aufgequollene, blaugrün verfärbte Leiber.

Als er sich am dritten Tag seinen Weg durch die Mengte bahnte, um weiterzumachen, hinderten ihn Freunde: „Es reicht. Du hast über dreißig Menschen gerettet. Jetzt machen andere weiter. Geh nach Hause.“ Doch Didar fand keine Ruhe, ging ins Enam Hospital, durchstreifte die übervollen Räume. Plötzlich wurde er angesprochen: „Heh, kennst Du mich nicht mehr?“ Er verneinte, sah ein Mädchen an, dessen Arm verbunden war. „Ich bin Anna.“ Didar holt sein Handy heraus, zeigt uns ihr Bild. „Wir sind jetzt wie Bruder und Schwester. Ich besuche sie, wir telefonieren. Sie kennt meine Frau, meine Kinder.“

Didar ist mittlerweile in sein normales Leben zurückgekehrt, verbringt die Tage an der Nähmaschine. Uns bittet er jetzt, ihn ins Razza Plaza zu begleiten. „Der Aufseher hat mir nicht geglaubt, dass ich zu einem Gespräch muss. Er hat gesagt, wenn ich ihm die weißen Journalisten nicht bringe, bekomme ich keinen Lohn.“ Selbstverständlich begleiten wir ihn, fahren mit dem Aufzug in den vierten Stock. Sofort wird dem Besitzer Bescheid gesagt, wir werden ins Büro gebeten, erhalten eine Fotodokumentation, die zeigt, wie die Beschäftigten des Razza Plaza Hilfe geleistet haben. Wir fragen, ob wir Didar an seinem Arbeitsplatz fotografieren dürfen, was uns gestattet wird. Man bringt uns in einen Raum, der so groß ist, dass wir ihn gar nicht übersehen können. Es ist heiß und laut, hunderte Nähmaschinen surren, über unseren Köpfen kreisen große Ventilatoren. Die Näherinnen und Näher sitzen hintereinander in Reihen, die von schmalen Gängen getrennt werden. Wir versuchen zu zählen und kommen auf rund fünfhundert Arbeitsplätze – so weit wir sehen. Wir verabschieden uns von Didar. Er lächelt, zuckt mit den Achseln und beginnt zu nähen.

Topkhana Road

Zurück in Dhaka gehen wir ins Hauptbüro der NGWF an der Topkhana Road. Davor versammeln sich nach und nach 80 Männer und Frauen, die Transparente, rote Fahnen mit dem Frauenzeichen und die grün-rote Flagge Bangladeschs tragen. Unter ihnen treffen wir Shurifa, 30, sie war Arbeiterin von Tazreen Fashion, leidet in Folge des Fabrikbrandes noch immer an Rücken-, Brust- und Beinverletzungen sowie an Atembeschwerden. Trotzdem hat sie seitdem schon an drei Demonstrationen teilgenommen: Dass heute noch einmal protestiert wird, erfuhr sie von der lokalen Gewerkschaftssekretärin, die die Leute per Handy auf dem Laufenden hält wie bei uns die Telekom ihre Kunden. Sie kam mit ihrem Mann und einem Kind erst sechs Monate vor dem Brand der Fabrik nach Ashulia, zog wie Millionen andere vom Land in die „Greater Dhaka Area“, ihr Mann und sie haben keine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. Wie beispielhaft ihre Geschichte ist, erfahren wir gleich darauf von Amirul Haque Amin, dem Präsidenten der NGWF, der uns sagt, dass Dhaka in den 1950er Jahren noch 500.000 Einwohnerinnen und Einwohner hatte, der Großteil der heute 14 Millionen also in den vergangenen 60 Jahren hier eingewandert ist. „2015 werden hier 17 Millionen Menschen leben. Das schnelle Wachstum der Textilindustrie hat diesen irrwitzigen, ungeplanten und auch gar nicht zu planenden Prozess noch einmal beschleunigt; der Textilsektor beschäftigt 3,5 Millionen Menschen, vom Wohl der rund 4000 Fabriken hängen insgesamt 20 Millionen ab.“

Der kleine Demonstrationszug setzt sich in Bewegung und endet schon nach wenigen hundert Metern am Verbandslokal der Journalistenvereinigung. Hier warten 20 Reporter und Fotografen, wir verstehen, dass wir einer dramatisch inszenierten Pressekonferenz beiwohnen. Amin und Safia sprechen für die NGWF, sprechen vom Recht auf Entschädigung, auf würdige Arbeits- und Lebensbedingungen, auf freie Organisation. „Wenn weiter nichts geschieht“, sagt Amin, „werden wir uns die Straßen von Dhaka, Savar und Ashulia nehmen, und wir werden bleiben.“ Es ist dies keine leere Drohung. Zwei Tage nach dem 24. April zogen Hunderttausende durch die Straßen. Sie konnten erst nach Stunden auseinandergetrieben werden, durch Unmengen von Tränengas und unter brutalem Schlagstockeinsatz. Dhaka erlebt pro Jahr einen oder zwei solcher Ausbrüche, bis jetzt.

Die Kameras klicken, die Journalisten stellen ein paar Fragen, Amin und wir werden ins Lokal gebeten und stehen dort noch ein paar Minuten Rede und Antwort. Kurz danach brechen wir alle zur Abschlussversammlung auf. Wir gehen jetzt nicht als Demonstrationszug, sondern in kleinen Gruppen, sammeln uns vor einem mehrstöckigen Gebäude, das von verschiedenen linken Gruppen und Gewerkschaften genutzt wird. Wir steigen in den fünften Stockwerk, versammeln uns in einem großen Saal, an dessen einem Ende sich eine Bühne samt einem alten, hölzernen Rednerpult findet, in das Hammer und Sichel und die Buchstaben „CPB“ geschnitzt wurden. Amin, Safia und einige andere nehmen ein paar Stühle mit auf die Bühne, setzen sich in eine Reihe, bitten mich ebenfalls nach oben. Als alle im Raum Platz genommen haben, eröffnet Amin die Versammlung und spricht etwa fünf Minuten zu den versammelten Arbeiterinnen und Arbeitern. Er spricht von der Notwendigkeit, den Kampf um Entschädigung, um die Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen und um das Recht fortzuführen, sich frei zu organisieren. Er hat diese Worte schon hundert Mal gesagt, ist seit den 1970er Jahren ununterbrochen aktiver Gewerkschaftler, wird seine Arbeit auch morgen und übermorgen fortsetzen. Er bittet mich um ein Grußwort, stellt mich als Mitarbeiter von medico international vor, bedankt sich für die politische – und die finanzielle Unterstützung. Den Leuten im Raum ist beides wichtig, auch wenn sie wissen, dass beides nicht reicht. Gleich danach übergeben wir allen Anwesenden je 2500 Thaka, ein Überbrückungsgeld für die nächsten zwei Wochen, nicht mehr: „Wir brauchen das“, sagt Amin, „das spricht sich herum und wird andere bewegen, der NGWF beizutreten. Wir können nicht einfach nur reden.“

Wir verabschieden uns, fahren weiter zum Friedhof im Stadtteil Jurine. Hier wurden die Leichen von Tazrine Fashion und Rana Plaza bestattet, die nicht identifiziert werden konnten. Sie liegen in mehreren Reihen, die einen links, die anderen rechts des Hauptwegs. Die Polizei hat von allen DNA-Proben genommen, ein Schild am Grab vermerkt die Nummer der jeweiligen Probe. Wir schreiten die Gräber ab, warten, bis wir für die Passanten nicht mehr von Interesse sind. Gordon macht letzte Fotos; auf einem sieht man eine blaugrün gekleidete junge Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt, das nach anderswo zeigt.

Spendenstichwort:

Bangladeschs ältester medico-Partner ist die landesweit tätige Gesundheitsorganisation Gonoshasthaya Kendra (Volksgesundheitszentrum, GK). Ambulanzen von GK waren kurz nach dem Zusammensturz des Rana Plaza vor Ort und leisteten Nothilfe. medico unterstützt GK-Gesundheitsstationen im ländlichen Bezirk Bathshala sowie mobile Kliniken in Tongi und Dhaka.

In Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk TIE fördert medico die National Garment Workers Federation (NGWF), eine der wichtigsten Gewerkschaften in der Allianz Bangladesh Garment Workers Unity Council.

In den Auseinandersetzungen um Pakistans „Industrial 9/11“ unterstützt medico die National Trade Union Federation (NTUF) und das Pakistan Institute for Labour Research and Education (PILER), Organisationen. Die Kooperation hat mit der Flutkatastrophe 2010 begonnen.

Zur weiteren Förderung unserer Partner in der ArbeiterInnenbewegung von Pakistan und Bangladesch bitten wir um Ihre Unterstützung unter dem Spendenstichwort: Südasien.

Veröffentlicht am 17. Juli 2013

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