Nahost: »Frieden für Galiläa«

DIE VORGESCHICHTE

»...die Soldaten mußten schließlich den Befehl, die Araber zu vertreiben, befolgen. Wir Israelis vertrieben sie. Sie machten sich auf den Weg wie verlorenes Vieh. Die Schwachen starben. Am Abend fanden wir heraus, daß man uns betrogen hatte, denn auch in Beit-Sura, wohin die Araber gemäß Befehl geschickt wurden, hatten Bulldozer begonnen, den Ort zu zerstören – und man hatte den Flüchtlingen nicht gestattet, den Boden zu betreten. Niemand von uns verstand, wie sich Juden so benehmen konnten. Niemand verstand, warum diesen Bauern nicht erlaubt werden sollte, ihren Herd, ihre Schlafdecke und etwas Nahrung mitzunehmen. Vor unseren Augen wurden die Felder zu Ödland gemacht.«

Amos Kenan, Brief an Knesset-Abgeordnete, 1949.

DIE GESCHICHTE

4. Juni 1982, 15 Uhr 15: Die Operation »Frieden für Galiläa« hat begonnen. Die Gewalt erhebt sich, wie aus einem metallischen Wald, aus jedem Quadratmeter Boden. Durch einen unvollendeten Kreis fließt das Fleisch auf eine verbrannte Erde. Der Lichtkreis kehrt zurück, um eine Stille, in der Kugeln schmelzen, zu überschwemmen. Das ist keine Poesie! Sondern Phosphorbomben, die, wenn sie explodieren, eine weiße Wolke erzeugen: der Verletzte verglüht, über Stunden hinweg, während Rauchwolken aus seinen Lungen hervorquellen. Diese Waffen wurden von den USA an Israel geliefert unter der Bedingung, daß sie gegen »stehende Heere und genaue militärische Ziele« benutzt würden. Dieser Angriff ist auf raschen Sieg kalkuliert. Richtung Beirut überrennt die Tsahal-Armee Tyrus und Saida und zuvor die Kreuzfahrerfeste Beaufort, wo tief eingegrabene Palästinenser an den CN-Gasschwaden ersticken, die als Aerosole versprüht werden. Das Ziel ist Beirut. Die Banlieu. Der Elendsgürtel der Südstadt. »Beirut ist ein Stern«. Sagt der Dichter Mahmoud Darwisch. Ein Flüchtlingsplanet unter Dauerfeuer. Beirut ist voll von Verjagten: Kurden, Pakistanis, Palästinensern, Tscherkessen, Armeniern. Beirut war ihnen nie Heimat, aber Zuflucht. Das sind Orte wie Sabra und Shatila, wie Chiah und Haret Hreik und Burj al Baraschneh. Quartiere einer irdischen Mondlandschaft. In diesen 10 Quadratmeilen leben alle diese Menschen in unidentifizierbaren Straßen, pockennarbig zerschossenen Häuserstummeln, abgeschnitten von Wasser & Strom. Man kann die Farben schildern, die Geräusche, den atemlos vergehenden Tag der Ambulanzen, die lastende Dauer der Nächte – aber wie erklärt man diese merkwürdige Trockenheit im Mund, diesen beklemmenden Umstand, nur noch das Herz und die Lungen zu spüren, die Dominanz dieser Organe, während Arme & Beine und der Rest des Körpers fühllos werden? »Wenn man den Mund schließt, kann das Herz aussetzen«: die Warnung der Mütter an ihre Kinder – um die Wirkung der lungensprengenden Explosivkörper zu mildern. Tagelang jage ich mit den von medico-unterstützten Sanitätern von AMEL durch die Banlieu: Menschen bergen, deren Körper vom Schrappnellregen perforiert ist. Schnellweg über den Leichenacker von Shatila. Wo mir der 14jährige Marwan Odeh Leichenteile zeigt. Wo sie Frauen und Kinder und Greise genauso massakrierten wie Tauben Hühner und Katzen. Die Fingerglieder der Frauen gestutzt. Plan geschnitten wie eine Taxushecke (Jean Genet), weil die eintretende Leichenstarre den Soldaten das Rauben der goldenen Ringe anders nicht ermöglichte. Wo ist nun noch Palästina? Je länger man es sucht, desto entfernter scheint es. »Heaven‘s fugitives«, Himmelsflüchtige muß man nicht suchen. Sie kennt man. Den Himmel nicht. Das Unwahrscheinliche unterscheidet sich von dem Unmöglichen durch ein Moment: Hoffnung. An dem Tag, als die Fatah-Leute der PLO sich zum Abzug aus Beirut marschfertig machen, schreibt einer der Guerillas, der die Sache so nicht hinnehmen wollte, rasch noch mit Kreide einen Slogan auf eine Papptafel, die er am Hafen von Beirut schief und wacklig in den Boden pflanzt: »We still hold on our meeting in Palestine!«

Flüchtlingsplaneten

»Nach den grundlegenden Prinzipien der Staatskunst haben Kurden, Palästinenser, Slumbewohner in Kairo und andere, die nichts zur Basis einer Macht beizutragen haben, keine Rechte. Sie müssen deshalb irgendwie marginalisiert werden, möglicherweise mit einer Form der ‚Autonomie‘, die es ihnen erlaubt, ihre real life Ökonomie unter Kontrolle dieser oder jener Oberaufsicht zu erledigen.«

Noam Chomsky, 1996

Acht Millionen Palästinenser leben verstreut auf der Welt. Manche im Gaza-Streifen: 900 000. Andere in der Diaspora, den Blick gerichtet auf das »Land wo Milch und Honig wächst«. 550 000 im Libanon. 350 000 in Syrien. 2 Millionen in Jordanien. Der Rest am Golf oder in Kreuzberg. Sie kommen im vielzitierten »Friedensprozeß« nicht vor. Gerade ab Oslo hat sich für alles nur noch verschlimmert: Im Libanon will sie keiner mehr. Ihr Aufenthaltsrecht ist beschnitten. Ihre Arbeit ist nicht mehr legal. Ihre Probleme werden seit dem in Oslo ausgehandelten Autonomieabkommen in sogenannten multinationalen Verhandlungsrunden beraten – Gesprächsrunden, die praktisch nicht stattfinden. Der Grund: die überwiegende Mehrheit der aktuell im Libanon lebenden Palästinenser sind sogenannte 48er Flüchtlinge und deren Nachkommen. Sie stammen aus dem heutigen Israel – aus Tel Aviv, Haifa oder Akko. Ihre Rückkehr, wann auch immer, schließt die israelische Regierung – und mit ihr die Sponsoren des Nahost-Friedensprozesses – rigoros aus. Folglich brauchen sie eine neue Heimat oder eine neue in der alten. Im Libanon jedenfalls sind sie »unerwünscht«. Die Regierung Hariri meinte, das Land sei keine »Halde für Menschenmüll«. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) erklärt sich für ihre im Zedernland lebenden Landsleute spätestens für nicht mehr zuständig, seit Jassir Arafat seinen Wohnsitz von Tunis nach Gaza-Stadt verlegt hat. Auch das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA behandelt die im Libanon oder in Syrien zusammengepferchten Palästinenser als abgeschriebene Nebensache. Seit die UN-Organisation als Antwort auf die israelisch-palästinensischen Autonomieabkommen von Wien nach Gaza umzog, ist ihr der dortige Aufbau attraktiver als die Verwaltung des scheinbar unlösbaren Elends in den Camps im Libanon. Die internationalen Hilfswerke reduzieren ihre Leistungen. Schließlich gibt es einen »Friedensprozeß«. Aber gerade der kennt die Refugees nicht. Was dann noch bleibt, sind die kleinen palästinensischen Hilfswerke selber: wie PARD oder Beit Atfal Assumoud oder die National Association of Social Medical Care. Die Standfesten. Die bei den Menschen bleiben. Die jenes Vertrauen bei den Menschen genießen, das die politischen Organisationen verloren haben. Insgesamt seit fast 20 Jahren hat medico den Weg der aus Palästina vertriebenen Menschen begleitet. Hartnäckig. Aufmerksam. Mühevoll. Mit Freude. Mit Zweifel. Solidarisch. Auf jeden Fall praktisch wirkungsvoll, tatsächlich nennenswert für eine Aufzählung:

Hospitaleinrichtungen im Bekaa-Tal mit einer Krankenpflegeschule. Mit Mitteln zur beruflichen Ausbildung in Buchführung. Im Südgürtel von Beirut bei der Abfallbeseitigung, bei der Arbeit für bessere Wasserqualität und Hygiene, und einen Sprung weiter auch tätig: in Palästina, in der Westbank, im Al Schatti Camp im Gaza Streifen. Direkt am Meer. An genau derselben Stelle, an der flüchtende Menschen jüdischer Abstammung erstmals landeten in Palästina, in Israel. Warum wir das tun? Essen ermöglichen, Medizin gewähren, die Mutter-Kind-Sterblichkeit zu senken. Wasser zu säubern. Das sind wichtige Maßnahmen. Aber keine Ziele. Das Ziel kann nur sein, alles in den eigenen Kräften stehende zu tun, um ein gleichberechtigtes Leben ohne jede Angst, Sorge und Not für alle zu ermöglichen, die sich in Israel/Palästina treffen. Uri Gordon, Präsident der Abteilung Einwanderung der Jewish Agency, brach neulich mit dem zionistischen Grundsatz der »Aliya«, dem gesetzlichen Recht auf Einwanderung für Juden aus aller Welt. Er meinte, viele seien keine wirklichen Juden, sondern Mitglieder »Verlorener Stämme« und im übrigen nur durch den höheren Lebensstandard nach Israel gezogen. Isaak Groismann beispielsweise, aus Rußland stammend, ein alter Mann, ein Alkoholiker, der auf Parkbänken geschlafen habe, sei in Israel nicht erwünscht. Juden & Araber: in der Behandlung, die ihnen angetan wird, werden sie einander verwandt. Isaac Groisman aus Rußland, Palästinenser. Marwan Odeh aus Shatila, Jude.

»LIKE ALL THE OTHER NATIONS«

Hannah Arendt, die Deutschland als Jüdin verlassen mußte, votierte früh für einen gemeinsamen Staat der Juden und Araber und Beduinen in Palästina. Ohne Diskriminierung. Mit vollen Rechten und Gleichbehandlung für alle Bürger. Nach Wunsch bei doppelter Staatsbürgerschaft in einem Land. Nach Oslo, nach den Problemen des Friedensprozesses, stimmen viele diesem Gedanken zu, der endlich auch den Flüchtlingen im Libanon ein Recht auf Rückkehr garantieren würde. Feisal al-Husseini, aus der notabelsten Familie im arabischen Jerusalem: »Ein binationaler, demokratischer Staat in Palästina, das wäre mein Traum. Sogar Arafat wäre dafür. Die kleinen Staaten können doch gar nicht überleben.« Amos Elon, Historiker, in Wien geboren, in Tel Aviv aufgewachsen: »Ein binationales Modell wäre am vernünftigsten. Jetzt muß eine neue Entwicklungsstufe folgen: Alle müssen gleich sein, ob Jude, Muslim, Christ oder Buddhist.« AHMED BISHARA, christlicher Araber aus Nazareth mit israelischem Paß & Angeordneter der Knesset: »Nicht eine der 22 Universitäten des Landes hat arabische Akademiker angestellt. Ich bin für einen multinationalen Staat.«

Unterstützen wir alle die Ziele dieser mutigen Menschen. Helfen Sie uns bitte, dafür arbeiten zu können & für die Flüchtlinge in den Lagern des Libanon in verzweifelter Lage. Stichwort: »Libanon«.

Veröffentlicht am 01. Juni 1999

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