Libanon

Nach dem Müllaufstand

Der libanesische Protest und seine Vorgeschichte.

Von Lokman Slim und Monika Borgmann

Um die gegenwärtigen Auseinandersetzungen im Libanon zu verstehen, lohnt es sich einen kurzen Blick auf die Entwicklungen zu werfen, die den seit dem 17. Oktober 2019 andauernden landesweiten Demonstrationen vorausgingen. Nur zur Erinnerung: Im Mai 2015, kurz nach dem Ende der Amtszeit von Michel Suleiman und dem Scheitern des libanesischen Parlaments einen neuen Präsidenten der Republik zu küren,  erlebten die Straßen und Plätze Beiruts schon einmal einen Protest ähnlicher Größenordnung, der als Müllaufstand in die Geschichte des Landes einging.

Die Schließung einer Mülldeponie führte damals zu einer landesweiten Müllabfuhrkrise, die die Menschen auf die Straßen und Plätze überall im Land brachten. Damals schon waren die Demonstrationen eine große öffentliche Abrechnung mit dem herrschenden Missmanagement, der Korruption und der Inkompetenz. Schon damals wurde zudem deutlich, dass das libanesische System einer ausgeklügelten Machtteilung dringend verändert werden muss. Aber es gelang dem System  seine Krise zu überleben.

Um den Müllaufstand zu neutralisieren wurden Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten festgenommen und vor das Militärgericht gestellt. Parlamentssprecher Nabih Berri von der schiitischen Amal lud zu einem Nationalen Dialog, bei dem sich führende Mitglieder verschiedener politischer Parteien und Politikberater*innen zusammenfanden. Das herrschende Establishment also. Trotz der großen Divergenzen unter den Anwesenden gelang es diesem außerinstitutionellen Dialog, sich der Solidarität untereinander zu versichern und sich gegenseitig zu bestätigen, wie eng die Interessen miteinander verwoben sind.

Wahlen als Scheinstabilität

Unter nicht unerheblichem Druck der „internationalen Gemeinschaft“, die darauf drängte um jeden Preis die Fassade eines stabilen  Libanons aufrechtzuerhalten, wurden trotz eines fehlenden Präsidenten Kommunalwahlen abgehalten.  Und das unter Bedingungen, da weder Staat noch Regierung funktionstüchtig waren und zudem eine Million syrischer Flüchtlinge und eine tief in den syrischen Konflikt verwickelte, pro-iranische Hisbollah die Lage noch erschwerten.

Seitdem brodelte und kochte die Unzufriedenheit und äußerte sich immer wieder in kleineren Protesten über schlechte Lebensbedingungen, Frauenrechte, Umweltbelange, die mangelnde Integrität der Justiz, die Rechte von Menschen mit Behinderung und andere Themen. Dieser facettenreiche gesellschaftliche Aktivismus erklärt, warum die Demonstrant*innen von 2019 so entwickelte Forderungen artikulieren können.

Weder die Kommunalwahlen von 2016 noch die Parlamentswahlen von 2018 konnten  als eigentlich demokratische Mechanismen diesen Berg von Missständen angehen und die Sehnsucht nach Veränderung kanalisieren. Vielmehr zeigte sich die politische Klasse als absolut unfähig und inkompetent, die Grundfunktionen des Staates zu sichern und eine tragfähige Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Ende der Nach-Bürgerkriegsordnung

Als die libanesische Regierung am 17. Oktober eine Steuer auf WhatsApp ankündigte, um die Einnahmen für den Haushalt 2020 zu erhöhen, löste sie einen massiven Volksaufstand aus. Seitdem überfluten Zehntausende Menschen aller sozialen Schichten, Bildungsniveaus und religiösen Hintergründe die Straßen und Plätze des Libanon, fordern einen Regierungswechsel und erklären den Status quo für nicht länger akzeptabel. Demonstrant*innen von Tripolis über Baalbek bis Tyrus verlangen von der korrupten, unfähigen und dysfunktionalen politischen Klas- se den Rücktritt und ein Spezialist*innen-Kabinett, um die Nation vor einem finanziellen Ruin zu bewahren, der das ganze Land in den Abgrund stürzen würde. Darüber hinaus gibt es Forderungen nach der Rückgabe gestohlener öffentlicher Gelder und nach einem Ende der religiös und ethnisch geprägten  Regierungsführung, die das Land nominell intakt gehalten hat, in Wirklichkeit aber nur die sozialen Spaltungen der Bürgerkriegszeit aufrechterhält.

Die Art, wie der Müllaufstand 2015 endete, erklärt, warum die Revolution sich nicht einfach abspeisen lässt und es schwer vorherzusehen ist, wie eine Lösung aussehen könnte. Dabei spielt die Hisbollah eine entscheidende Rolle. Sie ist Irans Aktivposten und dessen Stellvertreter im Libanon. Die militärische Stärke der Hisbollah ist heute genauso stark wie 2015, aber sie hat an ihrem politischen Profil aus innerlibanesischen und regionalen Gründen Schaden genommen. Danach sah es nach 2015 zunächst nicht aus.

Nach der Müllkrise gelang es der Hisbollah die Regierungskrise zu überwinden und  den von ihr unterstützten Kandidaten General Michel Aoun zum Präsidenten der Republik wählen zu lassen. Im November 2017 wiederum verhielt sich die Hisbollah sehr umsichtig bei dem letztlich gescheiterten saudischen Versuch, den damaligen Premierminister Saad Hariri zum Rücktritt zu bewegen. Die Hisbollah erlangte so den Ruf einer rationalen Akteurin, die das Land davor bewahrt, in einen sunnitischschiitischen Konflikt zu geraten. Im Mai 2018 ging die Hisbollah sogar als eine  Hauptsiegerin aus den Parlamentswahlen hervor.

Aber als Hassan Nasrallah, der Hisbollah-Chef, am 17. Oktober 2019 sich in aller Öffentlichkeit zum Machtgaranten des Establishments erklärte, der die Grenzen der Volksproteste definiert und dabei mehr mit der Peitsche als mit dem Zuckerbrot wedelte, trug er zu Eskalation der Proteste bei. Damit ist die Rolle der Hisbollah als Bürge für Stabilität und Garant für das Establishment schwer beschädigt worden. 

Wie beschreibt man die Ereignisse seit dem 17. Oktober? Die einen sagen, der Grund für den Aufstand sei wesentlich ökonomischer Natur. Der Weg aus der Krise läge in geeigneten Wirtschaftsmaßnahmen. Das ist eine Erzählung des Establishments, die auch die Hisbollah teilt. 

Sie behauptet allerdings auch, hinter dem Volksaufstand stünden Drahtzieher*innen, die den (legitimen) Volkszorn instrumentalisierten. Mit dieser Erzählung einher geht die Drohung, dass die Krise nur mit Waffengewalt zu lösen sei. Eine komplexere Erzählung sieht in der Revolte  eine Mischung aus wirtschaftlichen Gründen und einem Generationenwechsel. Eine neue libanesische Generation „entdeckt“ die res publica, will darin einen Platz einnehmen und beansprucht die Verwirklichung ihrer  Ideale und Sehnsüchte. 

Für viele war die große schiitische Teilnahme an den Protesten das Augenfälligste. Damit widerlegt wurde auch das tief verwurzelte Vorurteil, die Schiitengemeinschaft sei ein steinharter Block, folge religiös dem „Widerstands“Glauben der Hisbollah oder akzeptiere fraglos die Möglichkeit, Teil des klientelistischen Netzwerks der Amal-Bewegung zu sein. In Bezug auf die „Revolution“ versuchen Nasrallah und andere Hisbollah-Sprachrohre immer wieder, zwischen einem guten und legitimen Aufstand einerseits und feindlichen Kräften andererseits zu unterscheiden. Die sogenannten feindlichen Kräfte werden mit Israel und den USA in Verbindung gebracht, die die „Widerstandsfähigkeit“ des Libanons untergraben wollten. Ob diese Argumentation verfängt, darf bezweifelt werden. Die Hisbollah ist seit 2005 Teil der libanesischen Regierung und trägt Verantwortung für das Versagen des Staates. Die Korruptionsvorwürfe gegen die Amal von Nabih Berri und auch gegen die Hisbollah lassen sich auch nicht mit dem Verweis auf einen äußeren Feind aus der Welt räumen.

Bis jetzt hat die Hisbollah alles unternommen, um die Volksaufstände im Irak (die offen “Iran raus” fordern) von dem, was im Libanon geschieht, zu unterscheiden. Auch ist die gelegentliche körperliche Gewalt im Libanon – sei es durch die Hisbollah/Amal oder durch die Sicherheitskräfte – nicht mit der Gewalt zu vergleichen, die in den Straßen von Bagdad oder Kerbala zu beobachten ist, wo es bereits Hunderte von Toten gab. Der Schachzug der Hisbollah, dem Protest im Libanon eine antiiranische Note abzusprechen, hat nun der iranische Religionsführer Khamenei selbst unterlaufen, indem er die Proteste im Libanon und im Irak auf eine Stufe stellte und  als „satanische Verschwörungen“ denunzierte. Wie sich die Situation im Libanon weiter entwickeln wird, hängt also auch sehr stark von den regionalen Umständen ab.
 

Mit Monika Borgmann und Lokman Slim verbindet medico eine lange Geschichte der Zusammenarbeit. Beide nutzen den Raum der Kunst mit Ausstellungen und Filmen, um eine Erinnerungskultur mit zu entwickeln, die sich am Beispiel des libanesischen Bürgerkrieges und des syrischen Foltergefängnisses in Tadmor kritisch mit der Geschichte der Region auseinandersetzt.


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 19. November 2019

Jetzt spenden!