Interview

Mehr europäische Vernetzung

Ein Gespräch mit Christian Weis, dem neuen Geschäftsführer von medico international, über seinen politischen und beruflichen Werdegang.

Gleich nach dem Abitur bist du nach Ghana gegangen. Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?

Das war für mich eine sehr wichtige Erfahrung. Meine Stelle wurde von einer ghanaischen und einer deutschen Organisation betreut und erlaubte mir, an verschiedenen Arbeitseinsätzen teilzunehmen. Das war eine sehr körperliche Erfahrung, zum Beispiel in großer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit ein Fundament für eine Schule auszuheben. Diese praktische Arbeit gemeinsam mit den Menschen vor Ort schuf eine andere Nähe und machte eine Kommunikation möglich, die mir neue Welten eröffnete.

Als du zurückkehrtest, begannst du eine Lehre als Kupferschmied. Ungewöhnlich für einen bayerischen Abiturienten, der aus einer Arztfamilie kommt.

Nach meiner Erfahrung in Ghana wollte ich unbedingt etwas Praktisches, Anwendungsorientiertes machen. Ich stellte mir mit Anfang 20 eine Perspektive in der Entwicklungshilfe vor. Kupferschmiede sind vor allen Dingen im Anlagen- und Rohrleitungsbau tätig. Man baut große Behälter, die die Industrie braucht, um zu rühren und zu erhitzen. Nach der Ausbildung habe ich noch ein paar Monate gearbeitet, mich aber letztlich entschieden Geographie in Bochum zu studieren. Meine Berufsschule in Hamburg lag gegenüber vom Geomathikum. In der Kantine lernte ich viele Geographinnen und Geographen kennen und verstand, dass das Studium mit der Schulgeographie nichts zu tun hat. Dass man in der Geographie regionale Studien machen kann und es viel mit Entwicklungspolitik zu tun hat, knüpfte sehr gut an meine Erfahrung aus Ghana an.

Was hat dich politisch geprägt?

Aufgewachsen in einer CSU-dominierten bayerischen Kleinstadt in den 1980er Jahren ging es für mich seit meiner Jugend um Fragen der Gerechtigkeit und der politischen Alternative. So habe ich die Kämpfe um die Wiederaufberei tungsanlage in Wackersdorf Mitte der 1980er Jahre vor allem als staatliche Gewalt gegen Demonstranten erlebt. Später verstand ich, dass viele Errungenschaften durch harte soziale Kämpfe zustande gekommen sind, diese Errungenschaften zu halten und auszubauen, aber die eigentliche Herausforderung ist.

Deine Diplomarbeit in Bochum beschäftigt sich mit Straßentransport im südlichen Afrika.

Ein sehr geographisches Thema, das unpolitisch klingt, aber politischen Sprengstoff birgt. Das Kolonialsystem ließ sich anhand des Straßentransports gut beschreiben, ebenso wie die Interessen der Europäischen Union. Die von der EU finanzierten Transportkorridore waren erstaunlich stark auf deren Rohstoffbedarf ausgerichtet. Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Denn eigentlich hatte ich die Idee, die EU als Vorbild zwischenstaatlicher Kooperation für eine Integration des südlichen Afrikas zu untersuchen. Die Förderpolitik der EU war aber ganz auf ihre eigenen Interessen ausgerichtet statt auf die Integration der Region.

Du hast in England eine Doktorarbeit über postsozialistische Transformationsprozess in Polen verfasst. Wenn Du heute auf die antidemokratischen Tendenzen in Mittelosteuropa blickst, bietet deine Doktorarbeit dafür Erklärungsansätze?

Der Westen ist nach dem Ende der Sowjetunion mit einem simplen Programm angetreten. Das lautet: Wir erklären euch, was Demokratie und Wirtschaft ist, und ihr übernehmt das. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Die schmerzhafte Transformationsphase in ganz Mittelosteuropa erklärt aber sehr viel über die politischen Unterschiede zwischen dieser Region und Westeuropa. Es herrscht aber leider nach wie vor eine große Ignoranz gegenüber dieser Erfahrung.

Gibt es Parallelen zu entwicklungspolitischen Themen?

Ja, natürlich. Wir stülpen auch in der Entwicklungspolitik mit großer Ignoranz Konzepte über, ohne sich dafür zu interessieren, welche räumlich-historischen Gegebenheiten vor Ort vorhanden sind und warum Entwicklung dort etwas anderes bedeutet als bei uns. In Mittelosteuropa konnte man in historisch einmaliger Weise studieren, wie die kapitalistische Landnahme funktioniert. Das war überraschend und im Gegensatz zu dem umgekehrten Prozess theoretisch unterbelichtet.

Nach dem Abschluss deiner Doktorarbeit bist du zur Gewerkschaft gegangen. Warum?

Ich arbeitete bereits während meines Studiums in Bochum freiberuflich für die Gewerkschaften als Berater für Betriebe in Umstrukturierungsprozessen. Dieser Kontakt ist nie eingeschlafen und daraus entstand die Idee, eine ähnliche Tätigkeit in Kooperation mit französischen Gewerkschaften durchzuführen.

Du warst danach in Brüssel und hast die letzten Jahre in Frankfurt als Leiter des Ressorts Globalisierungspolitik beim Vorstand der IG Metall gearbeitet. Mir scheint, dass es den Gewerkschaften schwerfällt, den nationalen Rahmen zu verlassen, oder?

Das ist auch meine Wahrnehmung. Es muss immer wieder erklärt werden, warum das nötig ist. Und das Thema folgt auch wechselnden Konjunkturen. Während ich bei der IG Metall war, ist dieser Bereich immer wichtiger und größer geworden. Die Projekte wurden auch immer anspruchsvoller. Da hat es eine deutliche Veränderung in Richtung Professionalisierung und einem stärkeren strategischen Umgang mit dem Thema als vor 20 Jahren gegeben. Wenn früher ein deutscher Betrieb etwa nach Ungarn expandierte und die Belegschaft nach Gewerkschaftskontakten vor Ort fragte, haben wir uns erkundigt und wenn es keine Gewerkschaft in dem Betrieb gab, das einfach hingenommen. Heute hingegen unterstützen wir die ungarischen Kollegen darin, Gewerkschaftsmacht aufzubauen. Das ist eine Art gewerkschaftlicher Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe, die erstaunlich gut funktioniert. In Ungarn verzeichnen die Gewerkschaften beispielsweise einen deutlichen Mitgliederzuwachs – und das macht sie stärker und durchsetzungsfähiger.

Du warst im Rahmen deiner letzten Tätigkeit auch für China zuständig. Wie siehst du die Politik Chinas im globalen Feld?

Meine Perspektive auf China hat sich im Laufe der Zeit verändert. Ich habe am Anfang sehr wohlwollend auf die Entwicklung im Land selbst und auf die internationale Rolle Chinas geschaut. Ich war voller Bewunderung für die Entwicklung Chinas und wie es gelungen ist, so viele Menschen aus der Armut zu befreien. Das sehe ich heute deutlich kritischer. Denn wenn man genauer hinschaut, sieht man ein sozial tief gespaltenes Land. Das hat enorme soziale Verwerfungen zur Folge. Chinas Blick auf die Welt hat sich ebenfalls sehr stark verändert. Früher war chinesische Außenpolitik von großer Zurückhaltung geprägt. Mittlerweile ist China ein machtvoller Player geworden, auch in den Ländern des Südens. China will sein neues Seidenstraßen-Projekt durchsetzen. Die Verhandlungsmethoden sind brutale Machtpolitik. China setzt das Mittel Verschuldung ein und fördert den Aufbau einer Großinfrastruktur im eigenen Interesse. Das erinnert mich sehr stark an die Entwicklungspolitik der 1950er und 1960er Jahre in Europa, wo man mit Staudammprojekten versucht hat, Afrika zu entwickeln. Die Chinesen machen dieselben Fehler und haben vor allen Dingen eins im Sinn: Ressourcen aus dem globalen Süden herauszuholen. Anfangs hatte man den Eindruck, dass China vieles besser macht und vor allen Dingen nicht die ganze koloniale Geschichte mitbringt. Hinzu kommt, dass sie keine unangenehmen Fragen stellen. Das macht sie attraktiv für einige Despoten im Süden. 

Warum jetzt der Wechsel zu medico?

Für mich persönlich ist das ein guter Zeitpunkt, um erneut auf die Entwicklungspolitik zu schauen und alte Fragestellungen neu zu betrachten und anzugehen. Mich hat bei medico die Debattenkultur und der kritische Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Welt sehr begeistert. Eine solche ständige Suchbewegung kenne ich von der Gewerkschaftsarbeit nicht als tägliche Herausforderung.

Gibt es ein Feld der medico-Arbeit, das sich unter deiner Leitung verändern wird?

Ich bin ein Mensch, der sich die Dinge erst einmal anschaut, bevor er sich programmatisch über das hinaus festlegt, was vorhanden ist. Ich will erst einmal viel zuhören. Das heißt nicht, dass ich keine Vision habe. Aus meiner Biographie kann man entnehmen, dass ich immer zwei Schwerpunkte verfolgt habe: die europäische Integration und die Entwicklungspolitik. Ich könnte mir vorstellen, dass es über eine verstärkte europäische Vernetzung möglich ist, die nationalen Entwicklungspolitiken zu beeinflussen. Ich bin ein überzeugter Europäer und die Vernetzung beispielsweise in Fragen von Flucht und Migration voranzubringen, wäre für mich ein wichtiges Anliegen. medico ist bereits in Europa vernetzt, aber ich würde gerne dazu beitragen, das auszubauen.

Das Gespräch führte Katja Maurer.


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 04. April 2019

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