Nach der Revolution

Komitees der Namenlosen

Die neue Unübersichtlichkeit ist ausgebrochen. Vorbei die Zeiten, in denen Kairo einer Provinzhauptstadt glich, in der sich die immer gleichen Diskutanten an einem halben Dutzend Orte treffen. In Büros von Parteien und Organisationen, in ausrangierten Gebäuden, Lounges und vor allem in einfachen Straßencafés wird über die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Revolution, über Mindestlöhne, über die Situation in den berüchtigten Gefängnissen debattiert. Die Zeit der Bars im Kolonialstil mit Namen wie Café Riche oder Greek Club oder einem imaginären internationalen Stil nacheifernden Hotelbars scheint perdu zu sein. Die ägyptische Revolution ist schon längst nicht mehr eine elitäre Angelegenheit jener politischen Entrepreneure, die den Fortschritt einst aus Moskau, Stockholm oder Washington importieren wollten und auch den zehnfachen Preis für einen Importkaffee zahlen konnten.

Zwei Zentren der Macht

Seit dem 25. Januar 2011 durchliefen Millionen von Ägyptern einen Politisierungsprozess, der unter anderen Umständen Jahrzehnte gedauert hätte. Zwar wandten sich nicht wenige vom aktiven politischen Leben ab, als die Revolution begann, sich in den Niederungen der ägyptischen Regierungspolitik zu verfangen, doch eine erstaunlich große Zahl von Menschen jeder Couleur nimmt weiterhin den öffentlichen Raum ein, den die Bewegung zum Sturz des Raïs Mubarak erobert hatte.

Natürlich erscheint manche Entwicklung der letzten eineinhalb Jahre seit dem Erfolg der Proteste ernüchternd. Aus den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gingen die beiden politischen Kräfte, die das Land seit über 30 Jahren prägen, auch als zukünftige Machtzentren des neuen Ägyptens hervor. Es ist einerseits der sogenannte „tiefe Staat” (sprich: die Netzwerke des alten Regimes), der nicht nur eine Wirtschaftselite an sich bindet, sondern auch Millionen Menschen gerade in den ländlichen Gebieten.

Zentraler Akteur in diesem historischen Machtblock ist zudem die Armee, die nicht nur der Landesverteidigung dient, sondern in sich selbst ein militärisch-ökonomischer Trust ist, der sich über Jahrzehnte große Teile auch der zivilen Wirtschaft, wie Häfen, Zementfabriken, touristische Orte, aneignete und zudem über enorme Landflächen verfügt. Und auf der anderen Seite steht der religiöse Block um die Muslimbrüder: gut organisiert, erfahren im politischen Kampf, mit finanziellen Ressourcen ausgestattet und mit einem feinen Gespür für die sozialen Bedürfnisse eines Großteils besonders der ärmeren Bevölkerung.

Anfänglich überrannt von der Dominanz dieser beiden Blöcke und verbittert über eine als gestohlen empfundene Revolution, entdeckten die Aktivisten des Tahrir-Platzes aber, dass sie doch eines gewonnen hatten: das letzte Jahr hat in Ägypten eine öffentliche Sphäre geschaffen, die bleiben wird. Und diese neue Öffentlichkeit und Offenheit nutzen eine lebendige Zivilgesellschaft und tausende Aktivisten, Journalisten, Künstler: in Zeitungen, auf Webseiten und in den sozialen Medien, durch Bücher und TV-Reportagen wird das aktuelle Ägypten aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet.

Die Provinz beginnt zu sprechen

Dass diese neue politische Transparenz nicht nur das Thema einer städtischen Mittelschicht ist, beweist sich in den Dörfern um die verschlafene Oasenstadt Fayum im nördlichen Ägypten, etwa 90 Kilometer von Kairo entfernt. Hier zeigt sich, dass zivilgesellschaftliches Engagement keine Frage von Bildung sein muss, sondern handfeste Motive haben kann - wenn die Betroffenen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können. Im Zuge der Massendemonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz hatte sich die ägyptische Polizei bewusst aus der Gegend zurückgezogen, aber nicht weil sie angegriffen wurde, sondern um perfide Panik und Unsicherheit zu schüren, damit die verängstigte Bevölkerung in den Schoß des alten Regimes als Hort der Sicherheit zurückkehrt. Aber die Betroffenen machten etwas gänzlich anderes: Ohne eine NGO und ohne jedes „Fachwissen” über Gemeindeverwaltung gründeten die Bewohner in fast jedem Dorf und Stadtteil Volkskomitees, die sich anstelle der Polizei um die lokale Sicherheit kümmerten. Die Polizei ist längst wieder da, aber etwa die Hälfte der vierzig Volkskomitees, die in den Dörfern um Fayum entstanden, sind heute aktiver denn je. In Tirsa etwa, einem riesigen Dorf mit mehreren zehntausend Einwohnern, eine nicht unübliche Größe in Ägypten, trifft sich das lokale Volkskomitee alle zwei Wochen. Etwa 100 Menschen kommen dann zusammen; alle reden durcheinander und noch immer ist der Elan zu spüren, die ursprünglichen Forderungen der Revolution nach „Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit” in die lokale Realität zu übersetzen.

Das kaputte Krankenhaus

Im Zentrum ihrer Bemühungen steht seit längerem das lokale Krankenhaus. Seit Jahren gab es dort kein Trinkwasser, denn die Pumpe war kaputt, ebenso wie der Fahrstuhl in dem dreistöckigen Bau. Der zuständige Angestellte kümmerte sich nicht und meinte lediglich, neue Geräte müssten her. Dafür fehlte aber das Geld. Das Komitee organisierte einen befreundeten Mechaniker, der mit wenigen Griffen die Pumpe und den Fahrstuhl reparierte. Das Komitee entdeckte weiter, dass Labormaterialien im großen Stil verschwanden, das führte zur Entlassung eines korrupten Laboranten. Seitdem ist das Volkskomitee zu einem lokalen Akteur in allen Gesundheitsfragen geworden.

Der örtliche Direktor des Krankenhauses, ein kleiner, lustiger und offenbar grundehrlicher Mann, sieht in ihnen einen wichtigen Alliierten, und auch die Gesundheitsbehörde und die Ärzteschaft kann sie kaum weiter ignorieren. Und die Komiteemitglieder sind schlau, wissen sie doch ganz genau, dass sie die Gunst der Stunde ausnutzen müssen, um tatsächlich umfassend die Misere der Gesundheitsversorgung anzugehen. Die öffentlichen Einrichtungen sind chronisch unterfinanziert und durch und durch korrumpiert. In Tirsas Krankenhaus blättert die Farbe von den Decken ab, medizinische Geräte sind veraltet, verrostet oder außer Betrieb, Medikamente gibt es kaum. Die Ärzte verdienen so wenig, dass sie sich grundsätzlich um Stunden verspäten und stets sehr früh das Krankenhaus wieder verlassen, um am Nachmittag in privaten Kliniken zu arbeiten. Da Mittel- und Oberklasse das staatliche Krankenhaus meiden, haben die ärmeren Patienten keine Lobby, um eine bessere Behandlung durch Personal und Ärzteschaft durchzusetzen.

Lokales Wissen statt importierter Expertise

Genau an diesem Problem setzt die Association for Health and Environmental Development (AHED) an. Deren Aktivisten versorgten mit Hilfe von medico nicht nur verletzte Demonstranten auf dem umkämpften Tahrir-Platz, sondern sie gingen nach dem Ende des alten Regimes bewusst in die endlosen Vororte Kairos und in die arme Provinz. Jetzt unterstützen sie mehrere Komitees darin, die Gesundheitsbedürfnisse ihrer Gemeinde besser zu erfassen und aufgrund eigener Untersuchungen konkrete Lösungsvorschläge zu machen. Natürlich geht es dabei in erster Linie um die gerechtere und bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen und um den Kampf nach mehr Mitteln von der Zentralregierung. Aber die lokale Frage kann nur dauerhaft gelöst werden, wenn sich die Gesundheitsmisere in den ruralen Siedlungsgebieten Ägyptens substanziell verbessert. Dafür vernetzen sich die lokalen Dorfkomitees mit anderen Komitees, von Dorf zu Dorf, vom Dorf zum Stadtrand. Auch dieses Wissen erwarben sie in der Revolution: Gemeinsam können wir stark sein, bleiben wir alleine, sind wir auf Alimentierungen angewiesen, und: wir wollen selbst entscheiden, wie uns geholfen wird.

Die ägyptische Provinz beginnt sich zu verändern. Die Zeiten, in denen sich niemand darum scherte, wie die namenlosen Marginalisierten in den Dörfern und Slums existieren, sollen der Vergangenheit angehören. Die Dorfkomitees um die Oase Fayum sind sehr entschlossen.

Tsafrir Cohen

Projektstichwort

Die Demokratie muss im Alltag ankommen – auf dem verstädterten Land und in den Slums der städtischen Peripherie, dort wo die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung lebt. Die Mehrzahl aller Ägypter ist arm, sehr arm. 20% aller 83 Millionen Einwohner Ägyptens leben unter der Armutsgrenze von umgerechnet täglich einem US-Dollar. Eine funktionierende kommunale Gesundheitsversorgung ist daher auch mehr als nur eine lebensrettende Dienstleistung im Krankheitsfall, sondern sie beinhaltet auch die soziale Anerkennung der Bedürftigen als Bürger eines Gemeinwesens. Darum geht es dem medico-Partner AHED (Association for Health and Environmental Development) in Tirsa. Die Revolution lebt fort. Spendenstichwort: Ägypten.

Veröffentlicht am 12. September 2012

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