Jahresbericht 2001

Rekonstruktion des Sozialen

I. Gedanken

Wohin fällt einer heute, wenn er aus der Welt fällt? Welche Netze könnten seinen freien Fall ins Nichts aufhalten? – Die Fragen, die der Psychologe Götz Eisenberg aufwirft, verweisen auf ein immer prekärer werdendes Verhältnis. Tatsächlich führt der Verlust gewohnter Lebensumstände heute fast immer zu etwas, das als sozialer Tod bezeichnet werden könnte. Menschen, denen Arbeit, Heimat oder auch erhoffte Perspektiven genommen werden, vereinsamen. Sie ziehen sich zurück oder werden aktiv ausgegrenzt und bleiben mit den Demütigungen, die sie vermeintlich oder real erlitten haben, allein. In der Kälte der postsozialen Welt, die mit atemberaubendem Tempo derzeit Gestalt annimmt, wuchern Ressentiments, narzisstische Selbstwertstörungen und Rachephantasien, die sich bei einzelnen Menschen dramatisch aufstauen können, und den Ausweg im Amok suchen.

Götz Eisenbergs Beiträge zum Verständnis des Erfurter Geschehens in der FR, die aus den vielen Artikeln, die dazu geschrieben wurden, klar herausragten, möchte ich Ihnen hier in einigen Ausschnitten referieren. (Die vollständigen Texte senden wir Ihnen auf Wunsch gerne zu). Wie kommt es, das einer zum Amokschützen wird? Eisenberg verfolgt die Entstehung privater Pathologie im historischgesellschaftlichen Zusammenhang. Die Zeiten, so Eisenberg, in denen die Erniedrigten den Stock, mit denen man sie prügelte, verschluckt hatten, wie Heinrich Heine sagte, sind vorbei. Immer seltener trifft man auf jene autoritären Charaktere mit ihren starren und jede innere Regung kontrollierenden Panzerungen. Aber nicht, weil die Subjektivität zu ihrem Recht gekommen wäre, wird Herrschaft heute weniger verinnerlicht, sondern weil sich Herrschaft gänzlich verändert hat.

Die Gesellschaft des neoliberal entfesselten Marktes legt keinen Wert mehr auf innere Hemmungen oder ein rigides Gewissen, das die Konsum- und Genussfähigkeit begrenzt. Im Gegenteil: alles, was den Geld- und Warenverkehr hemmt, muss beseitigt werden. Wirtschaftliche und sozialstaatliche Regulative ebenso wie die Begrenzungen im Inneren des Menschen, die früher einen, wenn auch prekären, sozialen Frieden garantierten. Der Markt verlangt nach flexiblen Menschen, die sich an nichts binden, auf wechselnde Moden prompt und zuverlässig reagieren und ihr Selbstwertgefühl an narzisstische Bestätigungen und einen grenzenlosen Konsum knüpfen. Diese »psychische Deregulierung« bildet die Innenseite der Globalisierung, schreibt Eisenberg. Und derart haben die großen Umbrüche der Gegenwart nicht nur die gesellschaftlichen Institutionen, sondern alle Formen der sozialen Integration bis bin zur psychischen Verfaßtheit der Menschen erschüttert.

Seit der Markt bis in den letzten Winkel des Alltagslebens und sogar in die Binnenwelten der Menschen vorgedrungen ist, stehen Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Liebesfähigkeit und all die anderen menschlichen Eigenschaften unter dem zerstörerischen Druck eines kalt berechnenden Profitstrebens, das an alles, auch an den Menschen, ein Preisschild heftet.

Eine Gesellschaft aber, so resümiert Eisenberg, die es zulässt, dass »auf die Kindheit der Kälteschatten von Elend, Gleichgültigkeit und Bindungslosigkeit fällt, darf sich nicht wundern, wenn in ihrem unwirtlichen Schoß eine Generation heranwächst, die nur noch die psychischen Entsprechungen des Marktes entwickelt: kalte Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und eine latente Feindseligkeit, die jederzeit in Haß umschlagen kann«.

II. Die Bilanz

Im Zentrum der medico-Arbeit steht seit vielen Jahren schon das Bemühen um eine »Rekonstruktion des Sozialen«. Und die tut mehr denn je Not. Soziale Marginalisierung und wirtschaftliche Zerrüttung als Folgen der globalen Entfesselung des Kapitalismus haben in vielen Regionen der Welt zu generalisierten Gewaltverhältnissen geführt, in denen sich die alten Sozialstrukturen fast vollständig aufgelöst haben. Da die Menschen aber zur ihrer Entfaltung und auch zur Gesundheit die Sicherheit eines tragfähigen Sozialgefüges brauchen, stehen wir unseren Partner im Süden immer auch dann zur Seite, wenn sie mit ihren Projekten das Elend, die Gleichgültigkeit und Kälte an der Wurzel packen wollen.

In südafrikanischen Slums geht es um die Schaffung und Aufrechterhaltung von schützenden Räumen, in denen Kinder und Jugendliche kreative Alternativen zu den Konkurrenz- und Angstverhältnissen ihres Umfeldes erfahren. Im Libanon fördern wir kulturelle Initiativen, die palästinensischen Jugendlichen eine Zukunft jenseits realer Perspektivlosigkeit und Ausgrenzung ermöglichen wollen. In Brasilien unterstützt medico ein Kinder- und Jugendtheater, das einen selbstbewussten und eigenmächtigen Umgang mit den allgegenwärtigen Folgen des globalisierten Tourismus eröffnet. Und in Mosambik haben wir in den vergangenen Jahren mit umfangreichen Mitteln mitgeholfen, ehemaligen Kindersoldaten ein positiv gestimmtes soziale Umfeld zu schaffen, das vielen von ihnen den Weg zurück ins Leben und die Gesellschaft ermöglichte. Diese Unterstützung ist nun zu Ende gegangen; die Kinder wurden erwachsen.

Insgesamt stand uns dafür im Jahr 2001 ein Gesamtetat in Höhe von rund 7,86 Mio. € zur Verfügung. Darin enthalten sind Spenden, Zuschüsse, Bußgelder, Mitgliedsbeiträge, und Rücklagen für langfristige Projektverpflichtungen. Mit 2,1 Mio. € ist der Spendenanteil leicht gegenüber dem Vorjahr gefallen, als Sie uns außergewöhnlich hohe Mittel für die Mosambik-Nothilfe zukommen ließen.

Für die gut 50 Projekte, die medico im vergangenen Jahr förderte, haben wir knapp 5,4 Mio. € aufgewendet. Zu den großen Programmen zählte erneut die Versorgung der Flüchtlinge aus der Westsahara, denen wir unsere Solidarität zudem durch einen außergewöhnlichen Besuch bekundeten. Über 120 Personen, darunter viele Journalisten sind mit einem von medico organisierten Charter-Flug in die Wüstenlager gereist, um mit den Flüchtlingen einige Tage gemeinsam zu leben und sich so über Lage und Perspektiven zu informieren. Die in Vergessenheit geratene Not der Sahrauis war mit einem Mal wieder öffentlich präsent, was auch dazu führte, dass die Europäische Nothilfebehörde ECHO ihre Unterstützungsleistungen für die Sahrauis erhöhte.

Für die Öffentlichkeitsarbeit haben wir 0,65 Mio. € ausgegeben, was 9,84% der Gesamtausgaben (8,9 % im Vorjahr) bedeutet. Hervorzuheben ist dabei die kritische Auseinandersetzung mit einer Nothilfe, die mehr und mehr für legitimatorische Zwecke instrumentalisiert wird, sowie die Durchführung einer Expertentagung zur Frage der fatalen Auswirkungen von Bürgerkriegsökonomien auf die Konfliktdynamik. Schließlich haben wir einen viel beachteten Aufruf gegen den Krieg in Afghanistan initiiert, der von zahlreichen Nobelpreisträgern und Schriftstellern aus aller Welt unterzeichnet wurde. Die Aufwendungen für administrative Belange sind gegenüber den Vorjahren mit 7,65 % der Gesamtausgaben um 0,5% angestiegen. Verschweigen möchten wir aber nicht, daß wir im vergangenen Jahr neben all der Arbeit, die sich hinter solchen Zahlen verbirgt, auch noch einen aufwendigen Prozess der internen Reorganisation durchlaufen haben, nicht um nun ebenfalls stromlinienförmig den einschlägigen neoliberalen Wirtschaftskonzepten zu frönen, sondern um auch künftig verantwortlich und wirkungsvoll mit den Mitteln umgehen zu können, die Sie uns, liebe Spenderinnen und Spender zur Verfügung stellen.

Und dafür möchte ich mich bei Ihnen auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich bedanken. Die Zustimmung, die Sie uns im zurückliegenden Jahr zukommen ließen, ist uns Ermunterung, auch künftig nicht nachzulassen. Natürlich würden wir uns freuen, wenn wir Sie dabei auch weiterhin als Partner an unserer Seite wüssten. Machen Sie mit. Helfen Sie uns in Ihren lokalen Bezügen, im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz und in der Freizeit.

Mit den besten Wünschen
Ihr

Thomas Gebauer
Geschäftsführer

Veröffentlicht am 01. Juni 2002

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