Israel/Palästina: Die Wut und ihr Recht

Denken über Camp David hinaus...

»Denken über Camp David hinaus«: Die Pax americana, die für Camp David vorgesehen war, ist gescheitert. Für eine längere Zeit ist nicht mit weiteren Verhandlungen zu rechnen, die tatsächlich erfolgversprechend wären. Es gibt Stimmen, die meinen, daß es vielleicht niemals ein koexistentielles Übereinkommen geben wird. Dies wäre der schlimmste aller Fälle und würde bedeuten, daß Trennung und Konflikt sich dauerhaft einrichten könnten: ausgedrückt durch die Existenz zweier unabhängiger Staaten, die womöglich ausschließlich gegeneinander agieren würden. Beide Staatlichkeiten, die israelische wie die palästinensische, wären zusätzlich durch die eigenen, auf beiden Seiten anwachsenden internen gesellschaftlichen und kulturellen Konflikte gezeichnet – sie wären zudem auch wirtschaftlich kaum lebensfähig und deshalb erst recht langfristig befindlich im Zustand der Militarisierung, des Rassismus und der Repression. In diesem heiklen Zusammenhang läßt das »medico-Rundschreiben« nach zwei israelisch-jüdischen Autoren im letzten Heft heute die arabische Stimme von Edward Said zu Wort kommen. – Wenn von deutscher Seite aus eine Äußerung zu den Beziehungen zwischen Juden und Arabern erlaubt ist, dann wohl eigentlich nur eine, die auf eine Friedenslösung hofft, welche den Juden in Israel/Palästina einen dauerhaften Frieden garantiert, der so sicher sein muß, daß keinem einzigen von ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird – verbunden mit der Erwartung, daß die palästinensisch-arabische Seite ihrerseits einen verbindlichen Status zugesichert bekommt, der ebenfalls ein garantiertes Existenzrecht sowie soziale und kulturelle Sicherheit bedeutet. H.B.

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Die Wut und ihr Recht

von Edward Said

Der Osloer Friedensprozeß, ein hoffnungsloser Irrläufer seit der ersten Stunde, ist an sein Ende gekommen, ein Ende mit gewalttätiger Konfrontation, massiver Unterdrückung von israelischer Seite, palästinensischem Widerstand auf breiter Front und vielen Todesopfern, von denen die meisten auf palästinensischer Seite zu beklagen sind. Ariel Sharons Besuch auf dem Tempelberg am 28. August kann nicht ohne Ehud Baraks Zustimmung geschehen sein, denn schließlich marschierte der alte Kriegsverbrecher unter dem Schutz von tausend Soldaten im Haram al Sharif ein. Nach dem Besuch stieg in Umfragen die Zustimmung für Barak von zwanzig auf fünfzig Prozent. Damit ist der Boden bereitet für eine israelische Einheitsregierung, die noch gewalttätiger und repressiver vorgehen wird. Die Anzeichen dieses Unheils waren bereits 1993 zu beobachten, wie man in der damaligen Winterausgabe von »Lettre International« nachlesen kann. Die Führer der Arbeiterpartei und des Likud-Blocks machten kein Hehl daraus, daß der Osloer Vertrag die Palästinenser in unzusammenhängenden Enklaven abschotten sollte: umringt von israelisch kontrollierten Grenzen und zerschnitten von Siedlungen und Siedlungsstraßen, die den Zusammenhalt der Gebiete zerstörten. Enteignungen und die Zerstörung von Häusern sind unter den Regierungen Rabin, Peres, Netanjahu und Barak an der Tagesordnung gewesen, die israelischen Siedlungen haben sich permanent vergrößert (200 000 israelische Juden in Jerusalem, 200 000 weitere im Gaza-Streifen und im Westjordanland), die militärische Besatzung nahm kein Ende. Jeder winzige Schritt in Richtung einer Souveränität Palästinas – und dazu gehörte auch der vereinbarte langsame Rückzug aus den besetzten Gebieten – wurde von Israel aufgeschoben und unmöglich gemacht. Diese Vorgehensweise war nicht nur politisch und strategisch absurd, sie war selbstmörderisch. Das besetzte Ostjerusalem wurde durch eine aggressive Kampagne ausgegliedert, mit der Israel die geteilte Stadt für Palästinenser unerreichbar machen und als »ewige, ungeteilte« Hauptstadt vereinnahmen wollte. Den vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen der Welt – mittlerweile eine der größten und ältesten Flüchtlingspopulationen – wurde mitgeteilt, daß sie ihre Hoffnungen auf Rückkehr oder Wiedergutmachung begraben könnten.

Mit seinem korrupten und dümmlich-repressiven Regime, das von dem israelischen Geheimdienst Mossad und der CIA gestützt wird, verließ sich Yassir Arafat indessen weiterhin auf die amerikanischen Vermittler, obwohl das Team der amerikanischen Friedensunterhändler von ehemaligen israelischen Lobbyisten und einem Präsidenten dominiert wurde, der den Mittleren Osten mit den Augen eines christlichen fundamentalistischen Zionisten sieht und sich nicht für die arabisch-islamische Welt interessiert. Die willfährigen, aber isolierten und unpopulären arabischen Führer vor allem Präsident Mubarak – wurden auf demütigende Weise unter die amerikanischen Fittiche gezwungen und verloren dadurch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Israels Prioritäten, wie auch seine bodenlose Unsicherheit und seine absurden Forderungen standen immer an erster Stelle. Niemand kam noch einmal auf die Ungerechtigkeit zu sprechen, die durch die Enteignung des palästinensischen Volkes im Jahr 1948 zur Tatsache geworden war.

Hinter dem Friedensprozeß standen zwei israelisch-amerikanische Grundannahmen, die beide von erschreckender Verkennung der Realität zeugen. So hoffte man erstens, daß die Palästinenser seit 1948 so sehr gestraft und geschlagen worden waren, daß sie schließlich aufgeben und die faulen Kompromisse akzeptieren würden. Arafat akzeptierte dies und rief die Palästinenser zur Ruhe, wodurch er den Israelis eine Entschuldigung lieferte – für alles, was sie getan hatten. So kümmerte sich der »Friedensprozeß" zum Beispiel weder um die gewaltigen palästinensischen Verluste von Land und Gütern noch um den Zusammenhang von früherer Vertreibung und gegenwärtiger Staatenlosigkeit, während die hochgerüstete Nuklearmacht Israel weiterhin den Opferstatus für sich beanspruchte und Entschädigungen für den antisemitischen Genozid in Europa verlangte. Widersinnigerweise hat Israel seine Verantwortung für die Tragödie von 1948 bis heute nicht offiziell eingestanden, obwohl die Amerikaner mittlerweile im Namen anderer Flüchtlinge im Irak und im Kosovo Krieg geführt haben. Aber man kann Menschen nicht zum Vergessen zwingen; schon gar nicht, wenn alle Araber mitansehen konnten, daß die damals geschehenen Ungerechtigkeiten durch die tägliche Realität immer weiter zementiert wurden. Zudem verkündeten die israelischen und amerikanischen Strategen auch nach sieben Jahren, in denen sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Palästinenser stetig verschlechtert hatten, beharrlich Erfolgsmeldungen. Sie schlossen die Vereinten Nationen und andere interessierte Parteien aus, unterwarfen die erbärmlich parteiischen Medien ihrem Willen und verzerrten die Wirklichkeit im Namen kurzlebiger Siege für den »Frieden«. Nun rüstet sich die arabische Welt gegen israelische Hubschrauber und schwere Artillerie, die Zivilgebäude der Palästinenser zerstört; es hat fast hundert Tote und fast 2000 Verletzte, darunter viele Kinder, gegeben; und die palästinensischen Israelis greifen zum Mittel der Militanz, um nicht länger als nichtjüdische Bürger dritter Klasse behandelt zu werden. Der auf falschen Voraussetzungen errichtete Status quo ist am Ende. Daran kann auch Amerika nichts mehr ändern. Es hat sich in den Vereinten Nationen isoliert und findet aufgrund einseitiger Parteinahme in der arabischen Welt keine Verbündeten mehr.

Auch die arabischen und israelischen Führer werden nicht mehr viel bewirken können, auch wenn sie wohl noch einmal eine Interimsvereinbarung zusammenschustern werden. Noch schlimmer sind die amerikanischen Medien. Sie stehen ganz unter der Knute der furchterregenden israelischen Lobbyisten, ihre Kommentatoren erdichten entstellende Berichte über »Kreuzfeuer« und »palästinensische Gewalt«, die verschweigen, daß die Palästinenser nur gegen die israelischen Militäraktionen ankämpfen und nicht, wie die fürchterliche Frau Albright formuliert, »Israel belagern«. Während die Amerikaner den Sieg des serbischen Volkes über Milosevic feiern, weigern sich Clinton und seine Günstlinge, den Aufstand der Palästinenser als einen Kampf gegen Ungerechtigkeit anzuerkennen.

Ich vermute, daß ein Teil der neuen palästinensischen Intifada gegen Arafat gerichtet ist, der sein Land mit falschen Versprechungen in die Irre geführt hat und sich hinter einer Batterie korrupter Beamter verschanzt, die kommerzielle Monopole kontrollieren, obwohl ihre Verhandlungen im Namen Arafats von Inkompetenz und Schwäche künden. Sechzig Prozent der öffentlichen Ausgaben fließen in die Bürokratie und das Sicherheitssystem, und nur zwei Prozent werden für die Infrastruktur ausgegeben. Vor drei Jahren gestanden sogar Arafats Rechnungsprüfer ein, daß vierhundert Millionen Dollar der jährlichen Finanzmittel einfach verschwunden waren. Arafats internationale Gönner dulden all dies im Namen des sogenannten »Friedensprozesses«, jener Phrase also, die heute sicherlich zu den meistgehaßten Ausdrücken des palästinensischen Wortschatzes gehört.

Indessen haben die Palästinenser in Israel, der West Bank, Gaza und in der Diaspora einen alternativen Friedensplan entwickelt und es entsteht eine neue Führungsstruktur. Es soll kein Zurück zu dem Osloer Vertragswerk und keine Kompromisse über die ursprünglichen UN-Resolutionen (242, 338 und 194) geben, die der Madrider Konferenz von 1991 zugrunde lagen. Alle Siedlungen sollen aufgelöst, alle Militärstraßen entfernt, alle 1967 angeschlossenen oder besetzten Gebiete evakuiert und israelische Güter und Dienstleistungen boykottiert werden. Es scheint sich tatsächlich die Einsicht zu verbreiten, daß nur eine Massenbewegung gegen die israelische Apartheid (die durchaus mit der südafrikanischen Variante zu vergleichen ist) den Palästinensern helfen wird. Es ist einfach idiotisch, daß Barak und Albright immer noch Arafat für etwas verantwortlich machen, was er längst nicht mehr unter Kontrolle hat. Anstatt die neuen palästinensischen Forderungen abzuweisen, sollten sich Israels Helfer lieber daran erinnern, daß die palästinensische Frage ein ganzes Volk und nicht nur einen alten und unglaubwürdig gewordenen Führer betrifft. Außerdem kann in Palästina und Israel ein Frieden zwischen Gleichberechtigten nur geschlossen werden, wenn es keine Militäraktionen mehr gibt. Kein Palästinenser, nicht einmal Arafat, kann sich mit weniger zufriedengeben.

Edward Said unterrichtet Literaturtheorie an der Columbia Universität und besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zeitweilig Arafats Berater, gehört er heute zu den schärfsten Kritikern des Friedensabkommens von Oslo.

»Denken über Camp David hinaus....«: für medico bedeutet dies eine soziale Verpflichtung gegenüber denen, die per Federstrich aus dem Osloer Vertragswerk und weiter dann in Camp David eliminiert wurden: die vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge. Besonders im Libanon, wo sie in ungewisser Lage in den Flüchtlingslagern existieren. Helfen Sie diesen Menschen und unterstützen Sie unsere schwierige Arbeit unter dem Spendenstichwort: »Libanon«.

Die Projektinformationen finden Sie im Rundschreiben 3/2000 und unter www.medico.de

Veröffentlicht am 01. November 2000

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