Nicaragua

Inmitten des Sturms, die Hoffnung

medico-Partnerin Mónica López Baltodano lebt seit Oktober im costaricanischen Exil. Wir sprachen mit ihr über ihre Flucht und die Aussichten des Oppositionsbündnis Unidad Azul y Blanco.

medico: Was war deine Rolle bei den Protesten in Nicaragua?

Mónica López Baltodano: Ich arbeite seit fünf Jahren an der Seite der Bauernbewegung gegen den geplanten Bau eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua. In diesen Jahren gab es immer wieder Drohungen und Einschüchterungsversuche gegen mich als Anwältin der Bewegung. Seit Ausbruch der Proteste im April hat sich die Lage im Land grundsätzlich verändert: Das Regime hat sich entschieden, auf gewalttätigste Art vorzugehen. Die Berichte der UN, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission oder seitens  nicaraguanischer Menschenrechtsorganisationen geben einen Eindruck von der Intensität der Repression und den Menschenrechtsverletzungen.

In diesem Kontext ging meine Arbeit mit der Bauernbewegung und dann mit der Articulación de Movimientos Sociales weiter, in der sich gut achtzig Organisationen zusammenschlossen – NGOs, Umwelt- und Bauernbewegung, feministische Gruppen und die neuen Studierendenorganisationen, die im ganzen Land infolge der Gewalt gegen die Studierenden ab dem 19. April entstanden sind. In diesem Zusammenschluss habe ich eine zentrale Rolle gespielt und mit Gründung des breiten Oppositionsbündnisses Unidad Nacional Azul Y Blanco Anfang Oktober kam ich in den Koordinationskreis und habe dann auch eine wahrnehmbare öffentliche Sprecherinnenrolle eingenommen.

Warum musstest du Nicaragua verlassen?

Ab April haben die Verfolgungen derart zugenommen, dass ich im Juni untertauchen musste und in verschiedenen Schutzhäusern untergekommen bin. In den sozialen Medien haben die Drohungen gegen mich noch weiter zugenommen. Ich wurde als Terroristin verleumdet und mir wurden eine ganze Reihe illegaler Aktivitäten angehängt. Nach der willkürlichen Verhaftung meines Onkels Ricardo Baltodano, der auf Grundlage des neu geschaffenen Terrorismusgesetzes angeklagt wurde, gab es einen Vorfall mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder, die nach einer Demonstration von Paramilitärs verfolgt und bedroht wurden. Sie konnten aber entkommen.

Ich wurde schließlich gewarnt, dass mein Leben in Gefahr sei. Es gebe nicht die Intention, mich festzunehmen und zu verurteilen, sondern mein Name sei in Zusammenhang mit Auftragsmördern gefallen, die das Regime offenbar unterhält.

Diese Information wurde mir von verschiedenen Kontakten bestätigt und es wurde klar, dass ich eine erhebliche Gefahr für die Schutzhäuser und für die Menschen, die mir halfen, darstellte. Ich wollte nicht gehen, konnte aber auch nicht in Nicaragua bleiben. Zwischen Märtyrertum oder Weitermachen entschied ich mich für Weitermachen und habe zusammen mit meiner Familie und in Abstimmung mit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH), beschlossen über die grüne Grenze nach Costa Rica zu gehen.

Als langjährige Menschenrechtsverteidigerin habe ich enge Kontakte zur CIDH und zum Hochkommissariat für Menschenrechte der UN, die sich während den letzten Monaten vertieft haben. Die Kommission hat derweil einstweilige Maßnahmen zur Garantie der Sicherheit von mir, meinen Eltern, meinem Onkel und meinem jüngeren Bruder beschlossen.

In Nicaragua hält die Repression unterdessen an.

In fünf Monaten wurden, je nach Kalkulation, zwischen 320 und 500 Menschen getötet, über 2000 Menschen verletzt, eventuell deutlich mehr, und es gibt um die 600 politische Gefangene, die des Terrorismus bezichtigt werden; 40-50 stammen aus meinem Umfeld. Die CIDH musste sich noch nie mit einer derart intensiven gewalttätigen Situation in so kurzer Zeit auseinandersetzen.

Aufgrund der Gewalt ist die soziale Spaltung innerhalb Nicaraguas enorm. Das Trauma in den Familien. Es gibt in diesem Land keine einzige Familie mehr, die keinen Toten, keinen Verletzten, keinen Verschwundenen, keinen Exilierten oder Festgenommenen zu beklagen hat. Das Misstrauen gegenüber Polizei und anderen öffentlichen Akteuren. Wir wollen das Land aus dieser Situation herausholen und es wieder aufbauen – nachdem sie es politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zerstört haben. Grundlage dafür ist dass die Menschen trotz allem weitermachen. Es ist beeindruckend.

Du bist, wie so viele, nach Costa Rica geflohen. Wie ist dein Status?

In Costa Rica habe ich die Anerkennung als Flüchtling beantragt, es kann aber bis zu einem Jahr dauern bis ich überhaupt einen Termin zur Anhörung habe. Solange ich den Status nicht habe, ist meine Reisefreiheit eingeschränkt. Wenn man keine Sondergenehmigung beim Ministerium einholt, verliert man bei der Ausreise seinen Status. Das Ganze dauert auch so lange, weil hier geschätzt 33.000 Nicaraguaner*innen den Flüchtlingsschutz beantragt haben. Ich glaube in meinem Fall wird das alles aber nicht so schwierig sein, weil mein Fall relativ bekannt und dokumentiert ist.

Kannst du für uns nochmals kurz festhalten, was die für dich  entscheidenden Merkmale waren, die den Anfang der Proteste kennzeichneten?

Der Aufstand der Bevölkerung im April war spontan. Ein nur schwer zu verstehendes Phänomen, vor allem weil die Organisierung sehr beschränkt war. Ich würde sogar behaupten, dass die Bauern-Bewegung die einzige tatsächlich organisierte soziale Kraft war.

Als die Regierung sich dazu entschied, die Studierenden zu ermorden, rief dies eine Reaktion hervor, die niemand erwartet hatte. Wir hatten einfach nicht für möglich gehalten, dass das Regime derart gewalttätig reagieren würde. Die Entscheidung der Regierung, diesen Schritt zu gehen, provozierte eine enorme Kraft und Organisierung in vielen Teilen des Landes. Der Aufruf der Bauern-Bewegung zum Barrikadenbau in den Dörfern, in denen die Bewegung stark ist, war zentral. Aber Barrikaden wurden auch spontan an Hauptverkehrsachsen in Städten gebaut, knapp 150 insgesamt.

Diese erste Phase des gesellschaftlichen Widerstandes gegen die Kriminalität der Regierung verlief größtenteils eigenständig und unabhängig voneinander. So entscheidend dieser Moment auch war, er verwandelte sich bald in ein Problem. Denn als die brutale Repression begann, gab es keine Möglichkeit einer koordinierten Reaktion. Dies wiederum brachte die Forderung auf die Tagesordnung, die bestehenden organisierten Strukturen in einem gemeinsamen Raum zusammenfließen zu lassen.

Eine Einheitsfront der heterogenen Opposition?

Zur Zeit des Dialogs zwischen Regierung und Alianza Cívica (in der die wichtigsten Akteure die Unternehmerkammer und die Studierendenbewegung waren, Anm. d. Red.) gab es eine große Distanz zwischen dem, was im Saal diskutiert wurde und dem, was auf den Straßen entschieden wurde. Davor hatten wir schon vorher gewarnt und wurden in unserer Ahnung bestätigt: Die Regierung wollte, dass die Alianza den Aufstand befriedet. Das funktionierte aber nicht, denn niemand, geschweige denn die Alianza Cívica, hatte die Kontrolle darüber, was auf den Straßen passierte. Der Dialog wurde letztlich beendet und die Repression wurde verschärft. Wir trafen uns auf der Straße wieder: die sozialen Bewegungen, die Zivilgesellschaft, die Unternehmerkammer und die ganzen politischen Organisationen. Wir stimmten im Ziel überein, dass die Regierung so schnell wie möglich zurücktreten muss.

In diesem Kontext haben wir vor einigen Monaten gegenüber verschiedenen Akteuren einen Vorschlag gemacht, dem sich viele weitere Organisationen anschlossen – selbstverständlich war die Unternehmerseite die mit der größten Renitenz. Sie hatten schließlich breite gemeinsame Interessen mit der Regierung. Aber am Ende mussten sie zugeben, dass es keine wirtschaftlche Stabilität geben würde, wenn es so weitergeht. Allein in den vergangenen Monaten fielen fast 370.000  Arbeitsplätze weg – in einem Land von sechs Millionen Menschen.

Und daraus entstand also die Unidad Azul y Blanca, die „Blau-Weiße Einheit“?

Wir befürchteten, dass die Repression nicht aufhören würde und fanden es ungemein wichtig, der Bevölkerung ein Zeichen der Einheit des Protests zu vermitteln. Manche Sektoren werden allmählich verzweifelter und könnten, sagen wir mal, die Frage nach Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmen, was das Land an den Rand eines Bürgerkrieges bringen könnte. Der große Erfolg des Kampfes der ersten Phase ist genau der Umstand gewesen, dass dieser einen zivilen nicht-gewalttätigen Ansatz verfolgte. Die Unidad soll verhindern, dass die Dinge sich noch schlechter entwickeln. Alles Weitere ist noch unklar, auch die Frage, ob sich die Unidad als Wahloption aufstellen könnte, sollte es zu vorgezogenen Wahlen kommen.

Ist denn trotz der Differenzen eine tatsächliche Einheit überhaupt möglich?

Noch immer gibt es viel Misstrauen. Nur ein Beispiel: Wir haben stets das ökonomische Modell hinterfragt und müssen jetzt mit den Unternehmer*innen irgendwie übereinkommen, die für genau dieses Modell stehen. Und sie mit uns. Es ist schwierig, aber es stimmt nun mal, dass sich der gesellschaftliche Aufstand de facto nicht entlang eines politisch-ideologischen Programms organisiert hat, sondern darin alle vorhandenen politischen Nuancen kulminieren. Minimalkonsens ist dass diese Regierung abhauen soll, weil sie eine kriminelle Regierung ist.  

Die Unidad Azul y Blanco wird aufgrund der starken Differenzen ein ziemlich schwer zu leitender Raum sein, aber wir alle sind verpflichtet einen neuen Bürgerkrieg zu verhindern und dafür zu sorgen, dass zum ersten Mal in unserer Geschichte angesichts eines autoritären Regimes ein nicht-gewalttätiger Weg gesucht wird. Damit danach die Weichen gestellt sind, dass die Demokratie zumindest in ihren elementarsten Teilen funktioniert: dass sich die Leute in Parteien organisieren können, die sie wollen; dass die Grundbedingungen für Wahlen gegeben sind.

Wie schätzt du die Chancen auf vorgezogene Wahl vor 2021 ein?

Die politische Räson der Regierung besteht darin, koste was es wolle, an der Macht zu bleiben. Das Regime sagt, es sei weder dazu bereit einen neuen Dialog zu starten noch die Wahlen vorzuziehen. Obwohl es den Rückhalt der Bevölkerung und den der Unternehmer*innen verloren hat. Manche ausländische Regierungen unterstützen das Ortega-Regime nach wie vor, im Grunde aber ist die Regierung isoliert. Währenddessen belegt eine von uns in Auftrag gegebene Studie über den Kanal, dass 15 rund um den Kanal registrierte Unternehmen sich in Steuerparadiesen befinden. Die Ortegas benutzen die Konzessionen des Kanalbaus und seine Finanzstruktur, um Geld außer Landes zu bringen.

Über 70 Prozent der Bevölkerung wollen neue Optionen und haben das Regime satt. Unsere Frage ist jetzt, wie wir dem Ganzen eine Lösung und eine politische Option geben, das uns nicht in Absprachen und in einen Pakt mit der Diktatur führt. Denn das Regime will Straffreiheit und Kontinuität, ohne für ihre Verbrechen zahlen zu müssen. Wir brauchen eine demokratische Transition – aber mit Gerechtigkeit. Die Menschen, die auf den Straßen waren, wollen keinen Übergang, mit dem die Straffreiheit wieder kommt. Das hatten wir bereits. Sowohl während der Diktatur unter Somoza wie in den 1990er Jahren. Diese Erfahrung zeigt allen möglichen Regierenden, dass sie problemlos 400 Personen töten und reinen Tisch machen können, ohne dass jemand vor Gericht gestellt wird.

Eine Mehrheit will ein Ende der Diktatur. Aber wie kann garantiert werden, dass danach dann auch tatsächlich soziale Gerechtigkeit, Demokratie und eine Verfolgung der Verbrechen gewährleistet werden?

Das Problem ist dass die hegemonialen Mächte, sowohl die des Großkapitals als auch die in den USA, zur sichersten Option neigen. Und die sicherste Option sind nicht wir, die popularen Gesellschaftsschichten sondern die traditionellen korrupten Politiker*innen. Das ist eine enorme Herausforderung, denn gleichzeitig wissen wir, dass sie uns beseitigen wollen. Ortega will mit den popularen Anführer*innen und abrechnen, nicht mit den politischen Unternehmer*innen. Für uns ist der Erfolg also eine Sache des Überlebens. Es gibt Teile der Linken die uns kritisieren – für die Unidad Nacional Azul y Blanco und dafür, dass wir mit Unternehmer*innen diskutieren, die vom Regime profitiert und es unterstützt haben, aber wir haben nur die Wahl, weiter zu kämpfen oder eliminiert zu werden.

Interview: Moritz Krawinkel & Katja Maurer
Übersetzung & Redaktion: Timo Dorsch

Veröffentlicht am 20. November 2018

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