Sahelregion

Im Zentrum der Begehrlichkeiten

medico-Partner Moussa Tchangari über die Interessen der Großmächte, nützliche Dschihadisten und die Dominanz der Gewalt im Sahel.

Knapp 30 Jahre sind vergangen, seit die Staaten der Sahelzone ihre nationale Unabhängigkeit erlangt haben. Damit einher gingen vielfältige Prozesse der Demokratisierung. Doch diese demokratischen und zivilgesellschaftlichen Errungenschaften sind akut bedroht, denn die aktuelle Situation in der Sahelzone ist gekennzeichnet von großer Unsicherheit: Dschihadistische Gruppen wie „Boko Haram“ und andere bewaffnete Akteure verursachen massives Leid unter der regionalen Bevölkerung. Gleichzeitig ist die Präsenz ausländischer Streitkräfte, etwa aus Deutschland, Frankreich und Italien, sehr groß. Schließlich spielen die Staaten der Sahelzone eine entscheidende Rolle in der europäischen Sicherheits- und Migrationspolitik.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Sicherheit Europas und der Unsicherheit in der Sahelzone? Und wie steht es um die zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der vergangenen drei Jahrzehnte? Wer oder was bedroht sie?

Darüber berichtet der nigrische medico-Partner Moussa Tchangari im folgenden Text. medico unterstützt die Arbeit seiner Organisation Alternative Espaces Citoyen seit 2018. So zum Beispiel das Projekt „Alarmphone Sahara“, das die Rettung von in der Sahara gestrandeten Migrant*innen organisiert.

Von Moussa Tchangari

Trotz großer Probleme konnten einige Länder der Sahelregion, die sich von den Kapverdischen Inseln bis zum Tschad erstreckt, seit den 1990er Jahren den Aufbau eines Rechtsstaats realisieren, der die grundlegenden Menschenrechte anerkennt. Aber seit den 2000er Jahren wird die Sahelregion mehr und mehr zum Schauplatz bewaffneter Konflikte in Afrika. Kaum ein Land ist von der organisierten Gewalt und Terrorismus verschont geblieben.

Der Terrorismus mit seinen Anschlägen in den Hauptstädten der Region stellt eine neue Entwicklung dar und es ist das erste Mal, dass Regierungstruppen eines Staats der Sahelregion die Kontrolle über große Teile des Landes verlieren und Kräfte von außen zu Hilfe gerufen werden. Die Machtzunahme bewaffneter Gruppen – seien es dschihadistische oder andere – bildet eine legitime Quelle der Besorgnis für die Staaten der Region und für die internationale Gemeinschaft. Angetrieben von einem Gefühl der Verlassenheit und Ungerechtigkeit sowie überzeugt davon, dass keine signifikante Veränderung auf friedliche Art und Weise möglich ist, ist die Jugend der Sahelzone der Versuchung ausgesetzt, auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zurückzugreifen.

Dominanz staatlicher Gewalt

Die Demokratisierung hat ihre Versprechen nicht gehalten. Weder jenes, den öffentlichen Raum zu befrieden noch das Versprechen, neue Perspektiven auf ein besseres Leben für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen. Wie die Volksgruppe der Hausa sagt: „Das Make-up hat nicht einmal die Kosten der Seife gedeckt.“

Es ist erstaunlich festzustellen, dass drei Jahrzehnte der Bemühung um Demokratisierung nicht gereicht haben, das Vermächtnis der politischen Kultur des zivil-militärischen Autoritarismus zu begraben. Die demokratischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben den Gebrauch von Gewalt in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten nur wenig reduziert. Es gibt in der Sahelregion einige wenige Länder, wie Cap Verde, die es geschafft haben, ermutigende Erfahrungen zu machen, aber der kamerunische Intellektuelle Achille Mbeme sagt, in einem Großteil der Region „sind die Wahlen zu einem Instrument der Spaltung geworden“. Es sei noch ein weiter Weg zur „Demilitarisierung der Politik“, also der Trennung zwischen „der Kunst Politik zu machen und der Kunst Krieg zu führen“.

Trotz der durch den Rechtsstaat auferlegten Grenzen und eines immer stärkeren Widerstands von Seiten der Zivilbevölkerung bleiben viele Machthaber im Sahel – inklusive jene, die ihre Legitimität aus Wahlen ableiten – in einer Logik der Gewalt verhaftet. Die staatliche Gewalt stattet ihre Akteur*innen mit Rechten aus, die ihnen kein Gesetz verschafft und auch die Korruption hat einen Höhepunkt erreicht: Die Zivilbevölkerung ist den Launen der öffentlichen Beamt*innen ausgesetzt, die zu privaten Akteur*innen geworden sind und formale Regelungen entsprechend ihrer eigenen Interessen anwenden.

Lokale Konfliktbearbeitung ist blockiert

Die institutionellen Regulationsmechanismen haben im Zuge der gewaltsamen Konflikte der letzten Jahre an Wirksamkeit verloren. Die theoretisch unabhängige Justiz schafft es infolge der Verselbständigung der Exekutive nicht mehr, einen Rahmen zur Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte zu stellen. Studien zeigen, dass Justiz und Sicherheit die am stärksten korrumpierten Sektoren in den Ländern der Sahelzone darstellen. Diese Korruption führt zu einem großen Misstrauen und Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung, das gewaltvolle Züge annehmen kann und sich auch im Rückgriff auf traditionelles Recht zur Konfliktbearbeitung ausdrückt. Der Kannibalismus des postkolonialen Staates tendiert gleichzeitig dazu, die Fähigkeit der traditionellen Institutionen zur Konfliktschlichtung einzuschränken.

Tatsächlich verlieren traditionelle Autoritäten, die respektiert wurden, weil sie in der Lage waren, sozialen Zusammenhalt und Stabilität zu sichern, immer mehr an Einfluss – aufgrund ihrer vermuteten oder erwiesenen Nähe zu als korrupt erachteten Machthabern, aber auch aufgrund ihrer Unfähigkeit sich ihnen gegenüber durchzusetzen, wenn es um lokale Belange geht. Das ist einer der Gründe, warum die Bevölkerung den Anstieg des religiösen Fundamentalismus und die Kultur der Gewalt kaum selbst beantworten kann.

NGOs im Dienste externer Interessen?

Der Versuch, traditionelle Institutionen und NGOs einzubinden, schwächt ihr Ansehen noch mehr, denn sie werden als Erfüllungsgehilfen externer Interessen und Teil eines globalen, vielfach kritisierten Systems wahrgenommen oder ihnen werden eigene Profitinteressen unterstellt.

Nichtstaatliche Akteure – seien es traditionelle oder religiöse Autoritäten, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Medien – unternehmen zwar enorme Anstrengungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, auch in der zivilen Konfliktbearbeitung, aber ihr Potential zum Krisenmanagement wird kaum genutzt. Im Gegenteil: Die Staaten selbst legen den NGOs große Steine in den Weg – entgegen aller Bekräftigungen, dass ihre Teilhabe eine unabdingbare Voraussetzung für jedes Bemühen um Entwicklung ist. So stellen die autoritäre Haltung der Regierungen und ihre Sicherheitspolitik ernsthafte Hindernisse für das Entstehen von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen die Gewalt dar.

Neuer Einfluss der Großmächte

Die Möglichkeit eines militärischen Sieges über die bewaffneten Gruppen im Niger und in Mali rückt in immer weitere Ferne. Doch trotz jahrelanger bewaffneter Konflikte ist der Dialog mit ihnen – außer mit den Unabhängigkeitsbewegungen im Norden Malis – ein Tabu. Offizielle Verhandlungen mit dschihadistischen Gruppen beschränken sich allein auf die Frage der Befreiung von internationalen Geiseln. Der Krieg ist weder alleinige Angelegenheit der nationalen Regierungen noch der bewaffneten Gruppen. Vielmehr gewinnen die westlichen Großmächte, sowie in geringerem Maße auch Algerien, Einfluss auf die Entscheidungen, wie die Kriege in der Sahelregion geführt werden.

Die sich gegenüberstehenden Kriegsparteien, also die nationalen Regierungen und die bewaffneten Gruppen, sind Gefangene im doppelten Sinne. Auf der einen Seite sind sie Gefangene ihrer eigenen politischen Rechtfertigungen und Weltanschauungen, auf der anderen Seite Gefangene der externen Unterstützer*innen, die durch den Krieg wenig zu verlieren und durch seine Weiterführung viel zu gewinnen haben. Gerade für Frankreich scheint der Krieg in der Sahelregion ein wahrer Glücksfall: Militärbasen in Mali, im Niger und in Burkina Faso konnten wieder besetzt und alte Macht zurückerlangt werden.

Die finanzielle Unterstützung zur Bildung einer regionalen Streitmacht zur Bekämpfung der bewaffneten Gruppen wurde von den Großmächten abgelehnt. Stattdessen mischen sich inzwischen auch die amerikanische, deutsche, italienische und die chinesische Regierung in der Sahelregion ein. Zwar konnte durch die internationale militärische Präsenz im Norden Malis die Besatzung durch dschihadistische Gruppen beendet werden, aber weder wurde die territoriale Integrität wiedererlangt noch konnte verhindert werden, dass die Unsicherheit auf die Nachbarländer übergreift. So ist die ausländische Militärpräsenz zu einem weiteren Frustrationsfaktor für die Jugend in der Sahelzone geworden.

Im Zentrum der Begehrlichkeiten

Die Zivilbevölkerung in der Sahelregion ist überzeugt, dass die ausländische Militärpräsenz mehr als die Bekämpfung von terroristischen Gruppen zum Ziel hat. Diese vorgeschobene Begründung für die Präsenz schreibt sich in ein größeres, schändliches Projekt der Rekolonisierung und Balkanisierung der Länder der Sahelregion sowie Libyens und Nigerias ein.

Seit den 2000er Jahren ist die Region zu einem wichtigen Schauplatz des Machtkampfes zwischen den Großmächten geworden. Lange Zeit wurde die Sahelzone als unter französischem Einfluss stehend angesehen, aber in den letzten Jahren ist das Interesse von Seiten der USA und Chinas gewachsen. Die USA haben sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus militärisch in der Sahelzone stationiert, wohingegen China die Bodenschätze ausbeutet. China ist zum Hauptakteur in der Erdölgewinnung geworden, chinesische Unternehmen haben hierzu Verträge mit Nigeria, Kamerun und Zentralafrika geschlossen.

Zwischen dem Andrang westlicher Großmächte und dem chinesischen Vormarsch im Sektor der Erdölgewinnung wird ein Zusammenhang vermutet. So bietet die Sicherheitskrise der Sahelzone den ehemaligen westlichen Großmächten die Möglichkeit, den chinesischen Vormarsch zu stoppen und gleichzeitig Macht über die Länder der Sahelregion (zurück) zu erlangen. Die Schwächung der Länder der Sahelregion ermöglicht einen territorialen Wiederaufbau nach eigenen Interessen.

In Folge ihrer sukzessiven Schwächung konnten diese Staaten auch leichter in die Externalisierung der Migrationspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten eingebunden werden. Im Falle des Niger gehören dazu unter anderem die gesetzliche Kriminalisierung von Migration und die Schaffung von Aufnahmelagern. Dies zieht grobe Verletzungen der Menschenrechte nach sich.

Nützliche Dschihadisten

Das Vertrauen der herrschenden Eliten in die nationalen Streitkräfte ist gebrochen, es besteht weder Vertrauen in deren Loyalität noch in ihre Fähigkeit, bewaffnete terroristische Gruppen effektiv zu bekämpfen. Es ist deshalb anzunehmen, dass die ausländische Militärpräsenz den Regierenden der Sahelzone die Chance bietet, die Gefahr eines Endes ihrer ausbeuterischen Zivilregierungen abzuwenden. Vermutlich schätzen gerade Mali und Niger die Anwesenheit ausländischer Truppen zum Schutz vor einem Militärputsch.

Ein echtes Interesse an einem militärischen Sieg über die Terrorgruppen hat niemand. Die Großmächte sichern dauerhaft ihren Einfluss in rohstoffreichen Regionen. Die korrupten Eliten sind auf ihre Unterstützung angewiesen. Entsprechend scheinen die ausländischen Militäroperationen eher dazu angelegt, den geografischen Einfluss der Dschihadisten zu begrenzen als sie dauerhaft zu besiegen.

Heute dient die Existenz der bewaffneten Terrorgruppen als Rechtfertigung für eine ausländische Militärpräsenz. In Zukunft könnten sie ein Mittel sein, um jedwedes Bestreben nach politischer Veränderung, das zu einem Machtverlust der nationalen Regierungen und der Großmächte führen könnte, zu unterdrücken.

Veröffentlicht am 08. Mai 2019

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