Venezuela

Gegen die eigene Verfassung

Edgardo Lander über das Verhältnis zwischen Demokratie und dem Bolivarischen Staat, über die Rolle der internationalen Linken und zukünftige Szenarien für Venezuela.

medico: Was ist Venezuela? Ist es eine Militärdiktatur, wie manche behaupten, oder eine Sozialistische Republik, wie andere meinen?

Edgardo Lander: Ich glaube, dass sich Venezuela zunehmend in eine autoritäre Richtung bewegt. Das hat vielerlei Komponenten und Dimensionen. An erster Stelle stehen sicher die Parlamentswahlen von 2015, die die Regierung verloren hat. Die Opposition kontrollierte infolge der Wahlen zwei Drittel der Nationalversammlung, konnte Mitglieder des Obersten Gerichtshof und des Nationalen Wahlrats ernennen und Verfassungsgesetze verabschieden. Ihre qualifizierte Mehrheit reichte, um darüber nicht mit der Regierungsfraktion verhandeln zu müssen.

Die Regierung musste wählen zwischen dem eigenen Machterhalt im Namen der Revolution und dem Respekt gegenüber der Bolivarischen Verfassung von 1999 und ihrem demokratischen Gehalt, also auch dem Respekt vor dem Wählerwillen.

Es ist offensichtlich, dass die Regierung sich für den Machterhalt entschieden hat. Weil wir uns in einer „Revolution“ befinden ist die Achtung vor der Verfassung – und sei es die eigene – zweitrangig. Man musste die „Revolution“ verteidigen, koste es was es wolle. Der Preis war, den institutionellen Entwurf des bolivarischen Prozesses, also die Verfassung von 1999, links liegen zu lassen. Und damit die einzigen Spielregeln über die die venezolanische Gesellschaft verfügt.

Welche Konsequenzen hat dieser Bruch der Spielregeln?

Was folgte war die Annullierung der Wahl von vier Abgeordneten im Bundesstaat Bolívar. Man hat ein Telefongespräch einer öffentlichen Angestellten aus besagtem Bundesstaat aufgenommen, in dem sie gesagt haben soll, dass Wähler bezahlt worden seien, um für die Opposition zu stimmen. Zwei Jahre danach ist dieser Bundesstaat noch immer nicht im Parlament vertreten. Es fand weder eine Untersuchung statt noch wurden neue Wahlen abgehalten. Der Opposition wurde mit diesem Schachzug schlichtweg die qualifizierte Mehrheit aberkannt.

Ab diesem Zeitpunkt traf die Regierung gravierende Entscheidungen auf institutioneller Ebene, auch hinsichtlich zukünftiger Wahlen. Denn unmittelbar nach den Parlamentswahlen und noch bevor die neue Nationalversammlung verabschiedet wurde, was im Januar 2016 passieren sollte, ernannte die alte Nationalversammlung überhastet die Mitglieder des Nationalen Wahlrates und die Gesamtheit der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs. Diese vorschnellen Ernennungen verstießen gegen das Gesetz. Es wurde ein Wahlrat ernannt, in dem vier der fünf Vertreter auf Seiten der Regierung stehen, und es wurde ein Oberster Gerichtshof zusammengestellt, der zu hundert Prozent für die Regierung ist.

Dann bevollmächtigte der Oberste Gerichtshof Präsident Maduro dazu, seinen Jahresbericht und den Etat für das kommende Jahr nicht der Nationalversammlung vorlegen zu müssen, sondern dem Obersten Gerichtshof – obwohl dieser weder über die notwendigen Kompetenzen noch die technische Ausstattung verfügt, um einen Haushalt zu evaluieren. Dennoch erhielt er die Unterlagen und bewilligte sie ohne jegliche Diskussion.

Also alles um letztlich den Präsidenten zu stärken – auf Kosten der Demokratie und der Verfassung.

Der venezolanischen Verfassung zufolge kann der Präsident im Falle eines ökonomischen Notstands einen Ausnahmezustand ausrufen und zeitweise mit besonderen Befugnissen regieren. Dafür gibt es aber zwei Bedingungen: Erstens muss das innerhalb kurzer Zeit von der Nationalversammlung bewilligt werden. Zweitens gibt es eine zeitliche Begrenzung. Maduro aber rief den Ausnahmezustand im Februar 2016 aus, ohne die Versammlung um Erlaubnis zu ersuchen und jedes Mal, wenn die Maximaldauer überschritten wird, verlängert er eigenmächtig seine besonderen Vollmachten.

Diese Entscheidungen für sich allein genommen erwecken immer den Anschein, dass es schon nicht so schlimm ist. Aber alle zusammengenommen, kann man eine autoritäre Führung ausmachen, die als Ziel die totale Kontrolle des Staates hat.

Du sagtest, dass dieser Prozess mit den verlorenen Wahlen im Jahr 2015 anfing. Gab es davor Anzeichen für diese Wendung hin zum Autoritären?

Man kann ohne Zweifel ab diesem Zeitpunkt einen Bruch mit dem verfassungsrechtlichen Rahmen feststellen. Aber die autoritäre Tendenz existierte bereits zuvor. Von Anfang an war der bolivarische Prozess von sehr starken Widersprüchen durchzogen. Ein grundlegender Widerspruch bestand zwischen der Ausweitung der Demokratie auf der einen und der Konzentrierung der Macht auf der anderen Seite. Erstere erfolgte nicht nur in Form von Verfassungstexten, sondern ebenso anhand der konkreten öffentlichen Politik in den Anfangsjahren. Vor allem infolge von  Putschversuch und Ölstreik in den Jahren 2002/2003  hat es einen sehr mächtigen Organisierungsprozess an der Basis gegeben.

Gleichzeitig hatte seit Beginn der Regierung von Hugo Chávez hatte das Militärische ein sehr starkes Gewicht, das mit der Zeit stetig zunahm. Es gibt einen sehr starken Widerspruch zwischen einer demokratischen Kultur der Teilhabe und einer militärischen Kultur, die von Natur aus von Vertikalität und Gehorsam geprägt ist. Je mehr das  Militärische in den Strukturen des Staates präsent ist, desto mehr werden demokratische partizipative Mechanismen ausgebremst.

Es scheint, dass in Venezuela letzten Endes, und trotz des Diskurses über einen revolutionären, von unten nach oben angestoßenen Prozess, die gleiche Erfahrung der etatistischen Linken seit jeher gelebt wird: Nicht zu wissen, wie ein produktiver Umgang  mit dem bereits genannten Widerspruch zwischen umfassender Demokratisierung und Machtkonzentration aussehen kann.

Einerseits stieß die Regierung Prozesse der Basisorganisierung und Demokratisierung an, die Millionen von Menschen umfassten. Man darf nicht verkennen, dass dies auch Prozesse waren zur Erlangung von Würde, zur Teilhabe, zur Herausbildung eines Zugehörigkeitsgefühls und des Eindrucks, dass man die Fähigkeit besitzt, auf das eigene Leben und Schicksal des Landes einwirken zu können.

Letztendlich wurde ausgehend vom Staat das juristisch-institutionelle Gerüst für den poder popular, die Volksmacht, geschaffen. Zusammen genommen waren es fünf oder sechs Gesetze, die den poder popular praktisch in einen Teil des Staates verwandelten. Das bedeutete wieder starke Ambivalenzen: Zum einen bestärkten die Gesetze den autonomen poder popular, zum anderen schrieben sie vor, dass poder popular als Teil des Staates zu verstehen sei. Dieser Widerspruch wurde nie aufgelöst. Ein weiterer ungelöster Widerspruch betrifft die Consejos Comunales, die Kommunalen Räte. Sollen sie Organisierungsbasis des neuen sozialistischen kommunitären Staates sein – unter Teilhabe der Gesellschaft als Ganzer – oder sind sie chavistische, also partikulare Organisationen?

Von Anfang an verschwamm diese Grenze zwischen dem Öffentlich-Staatlichen und dem Politisch-Parteiischem. Die Grenze wurde als eine bürgerliche Trennung wahrgenommen, die für die Revolution keinen Stellenwert besaß. Zur Folge hatte dies die politische Kontrolle des Staates, das Sektierertum und die Nutzung öffentlicher Ressourcen durch die chavistische Regierungspartei PSUV. Damit wurden auch die strukturellen Bedingungen für die Korruption geschaffen.

Trotz alledem existiert nach wie vor eine sehr starke internationale Solidarität mit Venezuela.

Ich glaube, das hat total perverse Auswirkungen. Aus Perspektive der kritischen Akteure der venezolanischen Linken sieht das ganz klar nicht nach einer Solidarität mit dem Volk aus, sondern nach einer mit der Regierung Maduro. Eine Solidarität mit Maduro die sich gegen das venezolanische Volk richtet. Das wiegt sehr schwer, weil er dadurch Legitimität bekommt. Wenn man liest was Ignacio Ramonet, Gründer von Attac, Le Monde Diplomatique und den Weltsozialforum, oder Intellektuelle der lateinamerikanischen Linken wie Atilio Borón so schreiben, dann beschreiben sie ein Land, das lediglich in ihren Köpfen existiert. Und das nicht wegen fehlender Informationen, sondern weil es eine Frage des Glaubens ist.

Ein zentrales Merkmal eines Teils der lateinamerikanischen Linken ist die Vorstellung, dass der Hauptwiderspruch unserer Zeit derjenige zwischen Imperialismus und Anti-Imperialismus wäre. Und Venezuela stünde im Fokus dieser Auseinandersetzung, weswegen alles weitere zweitrangig würde. Damit verschwindet die Möglichkeit einer kritischen Reflexion über das was in den letzten Jahren in Venezuela passiert ist und die Möglichkeit, über die lateinamerikanische Erfahrung der sogenannten progressiven Regierungen im Allgemeinen zu sprechen.

Wenn wir jetzt von deiner Beschreibung ausgehen, welche möglichen Szenarien siehst du auf mittlere Sicht für Venezuela?

Es gibt gerade zwei mögliche Szenarien. Das erste ist das der externen Intervention – ich glaube nicht, dass das eine reelle Möglichkeit ist. Die andere Möglichkeit einer Volkserhebung finde ich schwierig aufgrund der folgenden Aspekte: Ihre massenhaften und wiederkehrenden Ausdrücke wie Plünderungen, Gewalt usw. werden zwar weitergehen. Aber ich sehe nicht, dass es ein landesweites gleichzeitiges Ereignis geben wird, das in der Lage wäre, eine Transformation oder einen Regierungswechsel anzustoßen. Aktuell gibt es keine Führungskräfte, die über ausreichend Anerkennung im Volk verfügen. Es ist daher wahrscheinlicher, dass das alles in einem Massaker, in einer massiven Repression enden würde. Was bleibt also? Es bleiben der militärische Ausweg oder Wahlen.

Die Lösung via Wahlen ist blockiert, weil die Regierung Wahlen lediglich dann durchführen lässt, wenn sie weiß, dass sie sie auch gewinnen wird und die totale Kontrolle über die Situation hat. Wenn die Regierung Wahlen abhält, entscheidet sie, wer daran teilnehmen darf und wer nicht und unter welchen Umständen sie es dürfen. Der emblematischste Fall dieser Logik ist der Fall um Marea Socialista, eine linke Abspaltung der PSUV. Um an den Wahlen teilnehmen zu können, muss sich eine Partei vor dem Nationalen Wahlrat registrieren und einer Fülle an Anforderungen nachkommen. Als Mare Socialista alle erforderlichen Dokumente eingereicht hatte, ging Monat um Monat vorüber, ohne dass der Nationale Wahlrat ihnen überhaupt geantwortet hätte. Als sie es schließlich taten, sagten sie, dass Marea Socialista nicht nach einem Namen für eine Partei klingen würde, sondern nach einem politischen Slogan. Sodass sie jetzt keine Bewilligung haben und als Organisation an keinem einzigen Wahlprozess teilnehmen können.

Der militärische Ausweg ist kompliziert. In den Streitkräften gibt es viel Unmut. Die untersten Ränge leben in der gleichen Situation wie der Rest der venezolanischen Bevölkerung. Die Gehälter sind zu niedrig zum Überleben, es gibt keine Essens- und Medikamentenversorgung. Die meisten Militärs sind Männer. Ihre Frauen leiden unter der Schwierigkeit, die Kinder zur Schule zu bringen, wenn es keinen öffentlichen Transport gibt und haben Schwierigkeiten, Lebensmittel zu bekommen.

Zeitgleich hat das venezolanische Militär eine sehr große Anzahl Generäle. Und die militärische Führungsriege trägt eine direkte Mitverantwortung für die verallgemeinerte Korruption, die die derzeitige Regierung charakterisiert. Es ist, größtenteils, eine Militärregierung: Ein Drittel der Minister und ein Drittel der Gouverneure sind Militärs. Die Verantwortlichen in denjenigen staatlichen Institutionen, in denen es am meisten Korruption gibt, sind größtenteils aktive oder pensionierte Militärs. Das macht es eher unwahrscheinlich, dass sich in den höheren Militärrängen eine Opposition gegen die Regierung formiert.

Woran hältst du dich angesichts dieses pessimistischen Ausblicks fest, um nicht gänzlich die Hoffnung zu verlieren?

Meine einzige Quelle von Hoffnung ist die Tatsache, dass die aktuelle Krise derart brutal ist, dass die venezolanische Gesellschaft sich aus der jahrzehntelangen Verhexung durch das Öl befreien kann, von der Idee, dass Venezuela ein reiches Land wäre; davon dass der Staat für immer die Kapazitäten besäße, den Bedürfnissen der Bevölkerung nachzukommen. Diese Vorstellung könnte an ihr Ende kommen. Wird dies aber nach hundert Jahren Rentenökonomie aus dem räuberischen Öl-Geschäft die Möglichkeit schaffen, das Land neu zu denken?

Im Moment leben wir in einer Situation der Ohnmacht, der Abwesenheit einer Zukunftsvision, was letztlich zur Determinierung alles anderen führt. Aber alle vorherigen Prozesse der gesellschaftlichen Erlangung von Würde, der Organisierung und des Empowerment als gelebte Erfahrung lassen sich nicht auslöschen. Wie ist es also davon ausgehend möglich, diese Erfahrungen wiederzuerlangen, diese Vitalität der Transformation nicht zu vergessen, sondern wiederzuerlangen?

Vielen Dank, Edgardo.

Interview: Moritz Krawinkel
Transkription, Redaktion und Übersetzung: Timo Dorsch

Veröffentlicht am 17. Mai 2018

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