Was Menschen bewegt

Fluchtursachen und Überlebenskämpfe

Usche Merk über traumatische Zeiten zwischen Reichtum und Flucht, zwischen Abwehr und Solidarität weltweit.

Diesen Vortrag hielt medico-Mitarbeiterin Usche Merk auf der Fachtagung "Traumatische Zeiten", organisiert von BAfF und medico international im Sommer 2016. Er ist Teil der jetzt erschienen und online verfügbaren Dokumentation.

„Die Flüchtlingskrise hat nicht erst begonnen, als Deutschland sie bemerkte.“ Dieses treffende Zitat des Schriftstellers Navid Kermani zeigt genau, was er unter dem Titel seines Buches „Einbruch der Wirklichkeit“ versteht. Was wir in Deutschland seit 2015 erleben, sind nicht neue Entwicklungen, sondern es rückt etwas näher, was die EU und insbesondere Deutschland bisher mit aller Macht versucht haben fern zu halten. Mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen ist die globale Wirklichkeit auch in Deutschland sichtbar geworden, mit all ihren Widersprüchen, Konflikten und traumatischen Erfahrungen.

Als Hilfs- und Menschenrechtsorganisation hat medico international die ungewöhnliche Möglichkeit, soziale Veränderungen an vielen Orten gleichzeitig zu verfolgen und Bezüge zu globalen Trends zu entwickeln. Wir arbeiten in über 25 Ländern mit Projektpartnern zusammen, also Menschen und Organisationen, deren Auseinandersetzungen wir solidarisch begleiten, mit denen wir oft über viele Jahre kommunizieren und uns über Herausforderungen und Entwicklungen vor Ort austauschen. Da hören wir Geschichten, die uns mit dem ganzen Schrecken der Folgen globaler Entwicklungen konfrontieren, mit verflochtenen Gewalt- und Armutsverhältnissen, die Menschen in die Flucht treiben. Und wir sehen Zusammenhänge, strukturelle Trends und historische Bezüge.

Über die Situation in Syrien, aber auch Irak und Afghanistan hören wir ja fast täglich. Aber weniger bekannt ist die Realität hinter den Bildern und den Projektionen von flüchtenden Afrikanerinnen und Afrikanern. Dabei geht es nicht nur um Fluchtursachen, sondern auch um die vielen Überlebenskämpfe, traumatischen Erfahrungen, aber auch die kreativen Auseinandersetzungen mit denen Menschen ihren Kampf um Menschenwürde und um Anerkennung auch als Individuum, als Subjekt, führen. Ausgangspunkt meiner Ausführungen sind folgenden Thesen:

  • Es geht nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um eine Weltkrise, in der die Mehrheit der Menschen unter traumatischen Bedingungen lebt.
  • Fluchtursachen lassen sich nicht säuberlich trennen in politische und wirtschaftliche Gründe.
  • Flucht und Migration sind die Kehrseite der Globalisierung und erzeugen immer neue transnationale Realitäten.
  • Flucht und Migration repräsentieren auch den Anspruch auf ein würdiges Leben, eine „Globalisierung von unten“.

medico international hat Anfang 2016 ein Schaubild zur Flucht in Zahlen (Hier als Dossier: Fluchtursachen) zusammengestellt. Bereits Mitte 2016 sind die Zahlen schon wieder veraltet. Gerade erst hat der UNHCR neue Zahlen veröffentlicht, nachdem 65,3 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, im Vergleich zu Ende 2014 sind das fast sechs Millionen Menschen mehr. 40,8 Millionen von ihnen sind sogenannte Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb eines Landes vertrieben wurden, 21,3 Millionen sind ins Ausland geflohen. 50 Prozent der Geflüchteten sind Kinder. Der UNHCR zählt aber nur diejenigen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung geflohen und entsprechend registriert worden sind. Hinzu kommen jene, die auf Grund ökologischer Krisen, wie Dürrekatastrophen oder Überschwemmungen, ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden und wegziehen müssen.
 

Man rechnet mit weiteren 200 bis 300 Millionen Menschen, die aber nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen und daher keinen völkerrechtlichen Anspruch auf Unterstützung haben. Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sprach von einer Ära totaler Mobilität. Das heißt, den größten Anteil an der gegenwärtigen globalen Migration haben Menschen, die eine Mischung aus Armut, Ausbeutung, Gewalt, Umweltkatastrophen und Chancenlosigkeit zur Flucht bewegt. Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben und wollen sich nicht damit abfinden, keine Perspektive zu haben und sozial ausgeschlossen zu sein.

Obwohl die Zahl der hier Angekommenen im Jahr 2015 stark gestiegen ist, stellt sie nach wie vor nur einen kleinen Teil der weltweit flüchtenden und migrierenden Menschen dar – nach Europa schaffen es die wenigsten. 90 Prozent fliehen in Länder mit mittlerem und niedrigerem Einkommen. Wenn Deutschland so viele Flüchtlinge akzeptieren würde wie der Libanon, dann müsste Deutschland 15 Millionen Menschen aufnehmen, ein Fünftel der Bevölkerung. Die überwiegende Zahl der Flüchtenden und MigrantInnen bleibt innerhalb ihrer Region, wie zum Beispiel Westafrika. Die meisten können sich eine Reise nach Europa nicht leisten – oder bekommen kein Visum. Viele wollen aber auch gar nicht nach Deutschland – das ist auch ein Mythos, dass alle Flüchtlinge hier her kommen wollen. Viele bleiben auch im Transit hängen und sind nur vorübergehend in einem Land, weil sie nicht weiterreisen können durch die Blockierungen der jeweiligen Grenzregime.

medico international arbeitet in vielen Regionen mit Menschenrechtsorganisationen und Selbsthilfeinitiativen zusammen, die Unterstützung für MigrantInnen organisieren: Zum Beispiel in Mittelamerika, wo vor allem Mexiko das Transitland ist, in Südafrika, in Ägypten, in Israel und Griechenland oder eben in Westafrika, dort vor allem in Mali, Mauretanien und Marokko. Oft sind es diese Transitregionen, in denen MigrantInnen blockiert werden und dann der völligen Rechtlosigkeit ausgeliefert sind, weil sie keinerlei nationalstaatlichen Schutz mehr haben und sich quasi im Niemandsland befinden.

Wir beobachten, dass es zunehmend prekäre nationale Realitäten gibt, in denen Menschen über Jahre an verschiedenen Orten des Transits leben, völlig entwurzelt und immer in Bewegung. Manchmal schließen sich an diesen Orten Menschen zu Selbsthilfeorganisationen zusammen, um gemeinsam darum zu kämpfen, wahrgenommen zu werden und Rechte zu haben. Mit einigen von diesen Organisationen arbeiten wir zusammen, etwa mit ARACEM, einer Organisation in Mali, die von ehemaligen MigrantInnen aus Kamerun gegründet wurde, die dort geblieben sind. Romeo, einer der Gründer von ARACEM, hat uns viel über die Hoffnungen und Sehnsüchte der MigrantInnen erzählt, aber auch über die grausamen Realitäten.

Wenn wir also von traumatischen Zeiten zwischen Abwehr und Solidarität sprechen, dann bezieht sich das nicht nur auf die Erfahrungen in Deutschland, sondern auf die Erfahrungen überall in der Welt.

Was sind die Ursachen und die Zusammenhänge?

Krieg ist weltweit die zentrale Fluchtursache und in allen zehn Staaten, die 2014 die größten Fluchtbewegungen zu verzeichnen hatten, herrschte Krieg. Als mit dem Fall der Mauer in Deutschland die Nachkriegsordnung, die die Welt seit Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte, zusammengebrochen ist, schien eine Ära des Friedens weltweit möglich. Anstelle der alten Ordnung, die unterschiedliche Konflikte entlang der Ost-Westachse sortierte, leben wir heute in Zeiten einer neuen Unordnung, in der sich lokale Konflikte sehr schnell in internationale Konflikte, mit einer unüberschaubaren Zahl an AkteurInnen verwandeln. Der Syrienkonflikt steht dafür gerade beispielhaft, mit dem die USA, Russland, Saudi-Arabien, Iran und die EU als Beteiligte entweder direkt oder indirekt in Auseinandersetzungen involviert sind.

Doch der Krieg, der Familien in die Flucht treibt, kann bereits selbst das Ergebnis zerfallender Staatsstrukturen sein, eines Kampfes um knappe Ressourcen oder um dem Zugang zu profitablen Rohstoffen. Fliehen Menschen vor einer Dürre, kann dies Folge des Klimawandels sein und auch deshalb so dramatische Auswirkungen haben, weil die Ernährung aufgrund von Armut schon vorher kaum gesichert war. Verfolgung und Diskriminierung, Armut und Perspektivlosigkeit, Umweltzerstörung und Klimawandel, oder Rohstoffhandel und Landraub – meist sind diese Fluchtursachen eng miteinander verwoben und fast immer hängen sie mit der zunehmenden globalen Ungleichheit zwischen Reich und Arm zusammen. Tatsächlich hat sich die Ungerechtigkeit dramatisch verschärft: Heute besitzt gerade einmal ein Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des weltweiten Vermögens. Dem gegenüber führen 1,2 Milliarden Menschen einen schier hoffnungslosen Überlebenskampf, sie leben von weniger als einem Euro am Tag. Deshalb sprechen wir bei medico international auch von der Fluchtursache Globalisierung.
 

Es ist also gut, den Blick zu weiten, um diese Ursachen zu verstehen. Was verstehen wir unter der (vor allem neoliberalen) Globalisierung? Es bedeutet zum einen, dass der Kapitalismus bis in den letzten Winkel der Erde vorgedrungen ist, das heißt, dass alles nach Verwertungsinteressen umgestaltet ist. Es bedeutet zweitens eine Liberalisierung der Waren- und Finanzflüsse und eine Deregulierung staatlicher Kontrollaufgaben und damit auch den Abbau staatlicher Einflusszonen. Und drittens bedeutet es, dass mit der Globalisierung die Welt fraglos näher zusammengerückt ist und sie sich gleichzeitig gespalten hat. Hier ist der reiche globale Norden mit seiner wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Vorherrschaft; dort der globale Süden, die Zonen des Elends, der Ausgrenzung. Für die BewohnerInnen des globalen Nordens ist weltweite Bewegungsfreiheit nicht nur selbstverständlich, sondern fast die Grundlage für eine hoch flexibel gewordene Existenz. Dagegen genießen die BewohnerInnen des Südens, die in ihrer Entwurzelung zwar gleichfalls nirgendwo mehr richtig zuhause sind, alles andere als Freizügigkeit.

Migration zunehmend der Motor der Weltwirtschaft

Die Einbindung der Länder des Südens in diese vom Norden dominierte Weltwirtschaft wurde mit massiven Strukturanpassungsmaßnahmen durch den Internationalen Währungsfond, die Weltbank und immer neuen multi- und bilaterale Handelsabkommen durchgesetzt. Dabei wurden systematisch öffentliche und soziale Dienste eingeschränkt und privatisiert. Und statt aber eines von den neoliberalen Vordenkern so gepriesenen schlanken Staates entsteht dabei in vielen Ländern eher so etwas wie ein schwacher Staat, der den ökonomischen AkteurInnen, internationalen Konzernen, eigenen Eliten und Schattenwirtschaften im Bereich von Waffen- und Drogenhandel keine kontrollierende und regulierende Macht mehr entgegensetzen kann. Ein schwacher Staat, der oft zugleich ein autoritärer, brutaler Herrschaftsstaat ist, beherrscht von Klientelismus und Patronage, über dessen demokratische Defizite man oft hinwegsieht, führt häufig auch zu regionalen Konflikten und Gewalt.

Die boomende Weltwirtschaft hat auf diese Weise immer weitere Teile der Welt integriert, als Rohstofflager und Absatzmarkt. Aber die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen haben sich verschlechtert. Gleichzeitig sind die Länder des Südens Absatzmärkte geworden für Produkte aus dem Norden. Wir kennen die Geschichten, dass Lebensmittel wie Hähnchenflügel und andere Fleischteile, die in Deutschland nicht verkauft werden, in Westafrika zu Billigpreisen abgeladen werden und dort die lokalen Märkte zerstören. die dann den Menschen vor Ort das Einkommen wegnehmen und sie zwingen, in Städte abzuwandern. Mitverantwortlich für die Landflucht sind auch Konzerne, die sich fruchtbare Agrarflächen aneignen, riesige Plantagen durch Abholzung von Regenwäldern anlegen, Landgrabbing betreiben und vieles mehr.

Migration wird zunehmend zum Motor der Weltwirtschaft und ist gleichzeitig eine wachsende Überlebensstrategie mit vielen verschiedenen Facetten. Der „Brain-Drain“, also der Abzug von qualifizierten Fachkräften vom Süden in den Norden, ist immens. Die Ebola Krise in Westafrika ist auch deswegen so drastisch gewesen, weil die Mehrzahl der einheimischen Ärztinnen und Ärzte im Ausland arbeiten und nicht in ihren eigenen Ländern. Es gibt massive billige Saisonarbeitskräfte, vor allem in Südeuropa, die die Arbeitsrechte aushöhlen. Die Rücküberweisungen von Einkommen in die Herkunftsländer sind ökonomische Inputs, an denen auch viele lokale, regionale Staaten Interesse haben.

Es gibt so etwas wie eine zirkuläre und diversifizierte Migration als (groß-)familiäre Überlebensstrategie. Ein Familienmitglied versucht in Richtung Europa abzuwandern, ein anderes Familienmitglied migriert innerhalb der Region, man versucht sicherzustellen, dass verschiede Familienmitglieder an verschiedenen Orten arbeiten und zum Familienunterhalt beitragen. Transnationale Familien werden zu Alltagsrealitäten um die Familie am Leben zu halten. Entlang der Migrationsrouten entwickelt sich eine regelrechte Migrationsindustrie, selbst der Menschenschmuggel ist zu einem ganz normalen neoliberalen Geschäftsmodell geworden, an dem viele partizipieren. Dazu gehört leider auch die Hilfsindustrie, die sich im Anschluss um die Folgen kümmert.

Zusammenhang von Reichtum und Flucht

Neoliberalismus bedeutet nicht nur ein ökonomisches Modell, sondern auch eine Ideologie. Die Botschaft, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist und man durch Konsum dieses selbst schaffen könne, hat natürlich eine paradoxe Seite, welche die Menschen auch im Süden zum Aufbruch auf die Suche nach einem besseren Leben verführt.

Und insofern sprechen wir von der imperialen Lebensweise, einer Lebensweise von der wir hier im globalen Norden profitieren und der Süden verliert und sich deswegen nicht umsonst auf den Weg macht, um ebenfalls von diesen Ressourcen zu profitieren. Nach der Veröffentlichung der Panama Papers wurde noch einmal ganz deutlich, in welchem massiven Ausmaß Steuern aus dem Süden zurück in die Kassen des Nordens fließen. Es ist vielleicht wichtig zu sagen, dass diese Nord-Süd-Orientierung nicht mehr so ist wie im Zeitalter des Kolonialismus. Die Realität ist inzwischen, dass es einen Norden im Süden gibt und einen Süden im Norden, die GlobalisierungsgewinnerInnen sitzen auch in den Bürotürmen im chinesischen Perlflussdelta und die GlobalisierungsverliererInnen sitzen auch in griechischen und in spanischen Suppenküchen, das heißt es ist nicht nur geographisch getrennt.

Zurück zu Afrika, wo es sehr viele verzerrte Wahrnehmungen, Mythen und auch rassistische Projektionen gibt. Die wesentliche Wahrnehmung ist, dass Afrika arm ist – aber eigentlich ist es andersherum: Afrika ist ein sehr reicher Kontinent, reich an Bodenschätzen und das ist zugleich auch sein Fluch. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang sachliche Informationen zu haben und nicht nur Elendsbilder, Bilder von Fluten und von vollen Booten.

Ich will den Zusammenhang von Reichtum und Flucht am Beispiel Sierra Leone erläutern. In Sierra Leone arbeitet medico international schon seit Ende der 1990er Jahre mit Partnerorganisationen zusammen und hat die Entwicklungen in den vergangenen 15 bis 20 Jahren genau verfolgt. Sierra Leone ist ein Land, in dem es sehr viele mineralische Rohstoffe gibt, insbesondere Diamanten, Gold, Bauxit und Rutil, aber auch sehr viel fruchtbares Land. Tatsächlich leben in Sierra Leone aber über 70 Prozent der sechs Millionen EinwohnerInnen unter der Armutsgrenze. Sierra Leone steht auf dem Human Development Index auf einem der letzten Plätze. Warum ist das so?

Zwischen 1991 und 2002 gab es in Sierra Leone einen grausamen Bürgerkrieg – nicht nur zufällig nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. In den 1990er Jahren entstanden die Ressourcen-Konflikte und in diesem Krieg wurde sowohl die Rebellenbewegung RUF, als auch die Regierung mit ihren Waffenkäufen und Truppenausstattungen durch ihren Handel mit Diamanten finanziert. Diese Edelsteine sind die konzentrierteste Form von Reichtum, sie sind leicht zu schmuggeln, überall zu verkaufen und bilden so den Motor dieses Krieges. Während der Kämpfe kamen mindestens 20.000 Menschen zu Tode, Tausende wurden grausam verstümmelt und etwa die Hälfte der Bevölkerung (2,6 Millionen Menschen) wurden Opfer interner Vertreibungen und flüchteten, um zu überleben. 300.000 verließen ihr Land, nur wenige sind nach Europa gelangt, die meisten fanden Schutz in den afrikanischen Nachbarländern Guinea und Nigeria.

Internationale Diamantenkonzerne machten lukrative Geschäfte in Sierra Leone und stabilisierten so die Kriegsökonomie. Die internationalen AbnehmerInnen sicherten die Finanzierung, indem sie den Kriegsparteien den Zugang zu globalen Märkten öffneten. Im Gegenzug profitierten die internationalen Konzerne von den günstigen Preisen der begehrten Rohdiamanten, die in diesem Zusammenhang auch Konfliktdiamanten genannt wurden. Das heißt im Klartext: Schon während des Bürgerkriegs waren Handelsbeziehungen für die Destabilisierung des Landes mitverantwortlich und schufen Fluchtursachen. Der Protest gegen die Diamantenindustrie, an dem sich medico international auch viele Jahre beteiligt hat, führte im Jahr 2000 zu dem Kimberley-Prozess. Ziel war es, den Handel mit Konfliktdiamanten durch Zertifikate zu beenden.

Das Ziel wurde weitgehend erreicht, jedoch wurden nur Diamanten aus Bürgerkriegszonen erfasst, nicht jedoch Edelsteine die unter menschenrechtswidrigen Bedingungen abgebaut wurden. Und insofern ist nach Kriegsende der Diamantenabbau weiterhin ein sehr intransparenter Wirtschaftssektor. Die Regierung ist in erster Linie an einem schnellen Geldfluss interessiert und vergibt Förderlizenzen ohne lange Verhandlungen und zu günstigen Konditionen an die Diamantenindustrie. Während andere Länder Ausfuhrsteuern in Höhe bis zu zehn Prozent erheben, verlangt Sierra Leone lediglich drei Prozent. Des Weiteren werden die Steine von Firmen bewusst unterbewertet, um die späteren Gewinne zu maximieren.

Die Schürfkosten für Diamanten sind extrem niedrig, weil die ArbeiterInnen sehr schlecht bezahlt werden. In den Anbaugebieten in der Region Kono im Osten Sierra Leones, wo wir auch mit Projektpartnern zusammenarbeiten, sind die Hälfte aller Kinder und Jugendliche gezwungen, in den Minen zu arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen. Im Durchschnitt verdienen die meisten Beschäftigten weniger als einen Dollar pro Tag, manche werden sogar nur mit einer Tagesverpflegung Reis bezahlt. Das heißt der Bürgerkrieg und die anschließende fortgesetzte Ausbeutung führte zu einer politischen Instabilität, welche das Land bis heute prägt und anhaltende Migrations- und Fluchtbewegungen verursacht.
 

In den vergangenen Jahren führte die Erschließung neuer Minen wieder zu Vertreibung. Es wurden unter existierenden Städten und Gemeinden Diamantenvorkommen entdeckt und daher ganze Dorfgemeinschaften vertrieben. Es gibt unterirdische Sprengungen, die Häuser beschädigen oder zerstören, weil Steinbrocken umherfliegen. Oft erfahren die Leute über die Sprengung nur kurz vorher – oder zum Teil gar nicht. Selbst in den Schulen wird der Unterricht häufig unterbrochen, wenn es Sprengungen gibt. Den Menschen wird das Land sozusagen unter ihren Häusern weggenommen und auf diese Weise werden die Menschen vertrieben. Dies betrifft eine ganze Region in der Provinz Kono, Krater fressen sich immer weiter in Siedlungsgebiete ein, die betroffenen werden weder finanziell entschädigt noch wird ihnen neues Land gewährt. Wer sich hier gegen die Vertreibung wehrt, wird nicht selten unter Gewaltanwendung verjagt.

Die Diamantenfirmen haben private Sicherheitskräfte eingesetzt, die Protestierenden und deren Angehörige wurden bedroht, Menschen wurden umgebracht. Die Proteste der lokalen Bevölkerung wurden von unseren Projektpartnern, wie dem Network Movement for Justice and Development, unterstützt. Doch der Versuch von Menschenrechtsorganisationen diese Situation zu verändern und Abkommen zu entwerfen, die für internationale Pflichten für eine gerechtere Verteilung der Gewinne sorgen, ist extrem schwer, denn wer interessiert sich schon für eine Region wie Kono in Sierra Leone, in einem Land das kaum jemand kennt?

Exkurs: „The other way around“

Ein kleiner Exkurs soll die komplexe Situation noch etwas verdeutlichen. Denn wir sind daran gewöhnt zu denken, dass Menschen aus Afrika weg wollen. Aber viele Jahrhunderte lang wurden Millionen von Menschen aus Afrika verschleppt und sie versuchten, zurück nach Afrika zu fliehen. In den fast 400 Jahren der atlantischen Sklaverei wurden etwa 40 Millionen AfrikanerInnen verschleppt und versklavt. Sierra Leone war nicht nur ein berüchtigter Ausfuhrhafen für Sklavenhändler. Verschleppte aus Sierra Leone wurden dafür bekannt, dass sie die Amistad, ein Sklavenschiff, kaperten und das Zurückbringen nach Afrika einforderten. (Diese heroische Geschichte wurde von Steven Spielberg in einem Hollywood-Blockbuster verfilmt.) Befreite zurückgekehrte SklavInnen waren es auch, die die Stadt Freetown gegründet haben. Die Flucht auf den Booten über das Meer ist also durchaus eine ältere Geschichte und immer stand im Hintergrund der Raub afrikanischer Ressourcen.

Was heißt es also, wenn heute darüber gesprochen wird, Fluchtursachen zu bekämpfen? Es geht nicht um die ungerechten Handels- und Wirtschaftsbeziehungen oder um die dominierende Produktionsweise. Alle Maßnahmen richten sich bestenfalls gegen die Symptome, meistens zielen sie auf die flüchtenden und migrierenden Menschen selbst ab. Diese werden etwa durch Aufrüstung und eine Vorverlagerung von Grenzen bekämpft, anstatt die eigentlichen Ursachen anzugehen. Die Maßnahmen in Folge des Valletta Gipfels zwischen der EU und afrikanischen Staaten zielen auch in Richtung einer Kooperation mit menschenrechtsbedenklichen Regimen wie Libyen, Mauretanien, Marokko, aber auch Eritrea, Sudan und Türkei. Diese Art der Symptomverschiebung, Ausblendungen und Exterritorialisierung macht etwas mit den betroffenen Ländern, sie verschärft die Situation und erhöht damit auch die Zahl der Flüchtenden. Gleichzeitig fördert sie Rassismus und Ausgrenzungsprozesse innerhalb Europas, die diese Politik legitimieren.

Blicken wir zum Abschluss auf eine Gruppe aus Sierra Leone, die während des Bürgerkriegs aus dem Land geflohen ist – manche waren noch Minderjährige. Nach Ende des Bürgerkrieges wurden sie wieder nach Sierra Leone abgeschoben, obwohl viele von Ihnen 10 bis 15 Jahre nicht dort gelebt und inzwischen selber Kinder und Familien in einem neuen Land hatten. Alle hatten sehr brutale, demütigende Abschiebungen hinter sich und fanden sich in Sierra Leone in völliger Isolierung wieder, da ihre Familien und Gemeinden sie ablehnten und als Versager und Kriminelle stigmatisierten. Die ca. 40-köpfige Gruppe war so angeschlagen, dass sie psychisch zusammenbrachen, psychotische Episoden erlebten, Selbstmordversuche unternahmen, in Depressionen und Drogen abglitten. Das war ihr Zustand, als wir sie kennenlernten.

Ein sierra-leonischer Student in Deutschland, Tejan Lamboi, hat seine Masterarbeit über diese Abschiebungen geschrieben und uns mit der Gruppe bekannt gemacht. Es gab einige, die sich als Selbsthilfegruppen organisieren wollten und uns um Unterstützung baten. Statt über Traumatherapie zu sprechen, begannen wir einen längeren Dialog mit der Gruppe darüber, was sie glauben, was hilfreich für sie sein könnte. Sie wollten als allererstes aus der Stigmatisierung und Isolierung herauskommen. Sie gründeten einen Verein und organisierten einen Storytelling-Workshop untereinander, auf dem sie mit der Unterstützung eines Begleiters über ihre schmerzhaften Erfahrungen sprachen und überlegten, wie sie diese öffentlich machen könnten. Danach luden sie NGOs, Menschenrechtsorganisationen, RegierungsvertreterInnen und JournalistInnen zu einem Workshop ein, um über ihre Situation zu erzählen. Damit setzte sich eine kleine, aber langsam anrollende Veränderung in Gang.
 

Der erste Workshop war so ergreifend, dass einige der TeilnehmerInnen anfingen, zu weinen. Anschließend wurden sie zu Radiodiskussionen eingeladen und machten überall im Land Workshops. Sie entwickelten ein Theaterstück über ihre Abschiebungen, welches sie filmten und auf öffentlichen Plätzen in Sierra Leone zeigten und mit den Menschen über die Stigmatisierungsprozesse diskutierten. Darüber hinaus gestalteten sie eine Homepage, um über Sierra Leone hinaus in die Welt und nach Deutschland kommunizieren zu können. Diese Gruppe zeigt nicht nur auf, was „Migrationsmanagement“ – also Verfolgungen und Abschiebungen – mit Menschen macht, sondern auch, welche Wichtigkeit selbstorganisierte Gruppen haben können und welche Bedeutung es hat, als Subjekt sichtbar und anerkannt zu sein und Solidarität zu erfahren.

Globalisierung und Migration entpuppen sich als die zwei Seiten einer Medaille. Dies zu akzeptieren, dass Globalisierung ohne Migration nicht zu haben ist, stellt wohl die größte Herausforderung dar, der sich Nationalstaaten heute stellen müssen.

Die Anerkennung der Migrationsbewegungen als unabdingbarer Bestandteil der globalen Welt sehen wir bei medico als notwendigen Teil von „weltbürgerlichen Verhältnissen“, die den Subjekten ihre Bürger- und Menschenrechte wie eben die Freizügigkeit nicht mehr nur gegenüber ihren eigenen Staaten sichern, sondern sich angesichts einer globalen Ökonomie auch in einer globalen Weise ausweiten müssen.

Dieses von uns so genannte „Recht zu Gehen“ und auch das Recht, entsprechend solidarisch aufgenommen zu werden (und solidarisch heißt auch, die reinen Nützlichkeitsüberlegungen, die aktuell so en vogue sind in den Feuilletons und Wirtschaftsteilen der Zeitungen in ihrer Selektivität von „nützlichen“ und „unnützen“ Menschen zu kritisieren), braucht aber genauso notwendig das „Recht zu bleiben“, also auch das Recht zuhause zu bleiben. Darunter verstehen wir die Perspektive einer Welt, in der die Freizügigkeit im Sinne des „Rechts zu Gehen“ eine tatsächlich freiwillige ist und nicht der einzige Ausweg aus Verfolgung, Not und Elend.

Veröffentlicht am 15. Februar 2017

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