Libanon

Ein selbstverwaltetes Gefängnis

Im Palästinenserlager Ein El-Hilweh spiegeln sich auch die regionalen Konflikte. Reportage und Film.

Von Katja Maurer

Von hier aus sind es nicht einmal 100 Kilometer zu den Orten, aus denen die Flüchtlinge einst kamen. Amqa, Saffourieh, Shaab, Manshieh, al-Simireh, al-Nahr, Hitten, Ras al-Ahmar oder al-Tiereh heißen sie und liegen im Norden von Israel. Manche von ihnen wie Amqa oder Saffourieh wurden nach dem Exodus der Palästinenser bei der Staatsgründung Israels dem Erdboden gleichgemacht und ihre Überreste finden sich nur noch in einem Privatmuseum in Nazareth. Andere wie die Kleinstadt Shaab sind heute arabische Ansiedlungen auf israelischem Territorium, die 1948 aber einen kompletten Bevölkerungsaustausch erlebt haben.

Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner dieser Ansiedlungen hat es in das benachbarte Libanon verschlagen - hierher nach Ein El-Hilweh, ein Lager für palästinensische Flüchtlinge, das das Rote Kreuz 1948 in der Nähe der einst phönizischen Stadt Saida errichtete. Heute gilt Ein El-Hilweh als einer der gefährlichsten Orte im Nahen Osten. Das eineinhalb Quadratkilometer große Lager ist seit den 1990er Jahren mit einem Zaun umgeben, der gerade weiter befestigt wird. Und wer in das Lager hinein will, muss eine scharfe Kontrolle und ein schikanöses Prozedere durch die libanesische Armee überstehen. Und doch gibt es für die über 100.000 Menschen, die hier seit fast 70 Jahren auf engstem Raum zu leben gezwungen sind, eben auch Alltag und Routinen. Wer die eine Registrierung bei der libanesischen Regierung und dem Hilfswerk der UN für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) erlangt hat, kann zu normalen Zeiten hinein und heraus.Einige

Tausend Bewohner besitzen eine solche Registrierung allerdings nicht. Sie sind eingesperrt wie in einem Gefängnis. Für eine außenstehende Besucherin ist die zermürbende, bis ins Detail geregelte Ausgrenzung palästinensischer Flüchtlinge im Libanon so wenig sichtbar wie das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das die schleichende Verschlechterung der Lage bei vielen Bewohnerinnen und Bewohnern auslöst. Nur die mit Einschusslöchern übersäten Gebäude in den schmalen Gassen erzählen von den unerträglichen Zuständen, die sich in einen Krieg der Bewohner gegen sich selbst verwandelt haben. Erst Ende Februar 2017 flammten die Straßenkämpfe zwischen der Fatah und einer islamistischen Gruppe wieder auf. Diese Kämpfe werden in Straßen ausgetragen, durch die oft nicht mal ein Auto passt, in Winkeln und Treppen, die von Freundes- in Feindesland führen. Zuletzt starb ein siebzehnjähriger Junge und UNWRA schloss die Schulen im Lager. Die Jugendgruppe des medico-Partners Nashet wagte sich trotz der Feindseligkeiten auf die Straße, um für ein Ende der Kämpfe, aber auch gegen die übereilte Schließung der Schulen zu demonstrieren.

Film über die Arbeit von medico-Partner Nashet

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Feindseligkeiten auf engstem Raum

Die weiten Ärmel des Kleids von Zaera Husain Al-Amer verbergen ihre nervösen, abgearbeiteten Hände. Ihr blassrosa Hijab betont die schwermütigen dunklen Augen. Zaera ist eine Freiwillige von Nashet. Sie gehört einer Gruppe von Müttern an, die sich regelmäßig im Zentrum des medico-Partners trifft. Sie sind die Mütter der Mädchen, für die Nashet zusätzlichen Unterricht anbietet, damit die Mädchen ihren Schulabschluss schaffen und auf die weiterführende Schule gehen können.

Nashet hat für die Mädchen, die nicht nur häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, einen sicheren Ort geschaffen. Aus diesem Projekt ist auch die Müttergruppe entstanden, denn der Wunsch nach Austausch unter den Frauen war enorm. Die traurige Zaera erzählt es am eigenen Beispiel: Ihr Mann wurde schwer krank, dann fehlte das Geld und sie mussten innerhalb des Lagers umziehen.

Nur wenige Schritte entfernt von ihrer bisherigen Wohnung gerieten sie mit ihrem neuen Zuhause in eine feindselige Nachbarschaft. Sie gelte als eine aufgeschlossene Frau – schon das reiche, um sie zu beargwöhnen und in einen Kleinkrieg zu zerren, der an ihrem Gemüt nagt. Sie zeigt ihre karge Wohnung - eine kleine Küche und zwei Zimmer, in denen eigentlich nur Betten stehen. Ein kleiner Fernseher mit windschiefer Antenne ist der Draht in die Welt. Ein vergittertes Fenster gibt nur einen Blick auf die Enge der Umgebung frei. Hier weiß jeder alles vom anderen. Es gibt keine Privatsphäre.

Zaera verlässt das Haus fast nur, um die wenigen Meter zum Zentrum von Nashet zu gehen. „Diese Treffen helfen mir“, sagt sie und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Weil wir Frauen über vieles reden und solidarisch miteinander sind.“ Ihr Bedrohungsgefühl speist sich aus vielen Quellen. Die Verarmung durch die Krankheit des Mannes ist eine. Außerdem ist die Unterstützung durch die UNWRA zurückgegangen. Früher haben man Lebensmittel erhalten, sagt Zaera. Jetzt gäbe es Geld. Das klinge gut, nur könne man davon viel weniger Lebensmittel kaufen. Hinzu kommt, dass es keine funktionierende Ordnungsmacht im Lager mehr gibt. Es regiert reine Willkür, sagt Zaera. Und so wird selbst die Nachbarschaft zu einer existentiellen Bedrohung. Das bestätigt auch Zafer Khateeb, Präsident von Nashet.

In Ein El-Hilweh ebenso wie in den anderen elf offiziellen palästinensischen Lagern im Libanon herrsche ein Klima der Angst. „Niemand kann heute behaupten, hier etwas zu kontrollieren, nicht einmal die islamischen Parteien, die noch am strukturiertesten sind. Deshalb wird jeder individuelle Konflikt im Lager gewalttätig gelöst.“ Seit Jahrzehnten ohne Perspektive Seit 1948 leben 500.000 im Libanon registrierte Flüchtlinge ohne wirkliche Perspektive. Und im Ringen um eine Perspektive haben sie immer weiter verloren. So war es im libanesischen Bürgerkrieg, in dem die Palästinenser eine maßgebliche Konfliktpartei waren, bis die christliche Falange unter den Augen der israelischen Armee ein Massaker in den Beiruter Flüchtlingslagern Sabra und Shatila anrichtete. So war es bei den Osloer Verträgen zwischen Israel und der PLO, in denen die Frage des Rückkehrrechts, was nicht gleichzusetzen ist mit Rückkehr, ausgeklammert wurde. Jetzt scheinen sie sogar von ihrer eigenen politischen Repräsentanz vergessen worden zu sein. 

Im Libanon sind die Palästinenser in unterschiedlichen rechtlosen und staatenlosen Zuständen gefangen und werden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, systematisch von bürgerlichen und sozialen Rechten ausgeschlossen. Ein Bericht des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) von 2016 beschreibt die trostlose Lage so: Zwei Drittel der Palästinenser im Libanon sind arm oder extrem arm. Bereits 2010 lag die Arbeitslosigkeit bei 56 Prozent. Der UNHCR-Bericht geht davon aus, dass sich die Zahl durch die Syrien-Krise und die syrischen Flüchtlinge, darunter wiederum über 40.000 Palästinenser, noch deutlich erhöht hat. Deshalb lebt etwa die Hälfte der im Libanon registrierten Palästinenser mittlerweile in Europa oder Nordamerika, viele auch in Deutschland, wo ihnen durch den Zugang zu Rechten und damit auch Zugang zu Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten entstanden sind. Zafer Khateeb, dessen Handys während unseres Gespräches in seinem kleinen Büro an der Ecke zwischen UNWRA-Schule und Lagerhauptstraße unaufhörlich klingeln, ist geblieben. Allerdings arbeitet er auch nur im Lager und lebt unter ungleich menschenwürdigeren Bedingungen in Saida.

„Den Menschen im Lager ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, ist schwierig“, sagt Khateeb und betont, dass Nashet es trotzdem versucht. Die Arbeit ist nicht unpolitisch, aber weit entfernt von den politischen oder vermeintlich politischen Gruppen, die im Lager das Sagen haben. So thematisiere Nashet in der Jugendarbeit sehr offensiv die Frage der Gewalt. Ein Tabuthema. Denn Waffen gehörten zum Selbstbild der palästinensischen Männer, sagt Khateeb. Nun organisiere man Treffen von Jugendlichen, in denen die bewaffneten Konflikte im Lager diskutiert würden. Ob das auch ein Versuch ist, die Jugendlichen davon abzuhalten, sich islamistischen Gruppen anzuschließen? „Zumindest können wir ihnen andere Formen politischer Auseinandersetzungen zeigen. Wir sind manchmal die einzigen, die auch öffentlich die terroristischen Gruppen kritisieren.“

Zum Interview mit Zafer Khateeb

Das Lager wird mehr und mehr zu einer geschlossenen Welt. Für die Palästinenser sind die Zäune und Mauern, die beständig verstärkt werden, wie eine Schlinge um den Hals, die immer fester zugezogen wird. Jederzeit, so fürchtet Khateeb, könne die libanesische Armee Auseinandersetzungen im Lager zum Anlass nehmen, um wie 2007 in Nahr El-Bareed das Lager zu zerstören und die Flüchtlinge abermals zu vertreiben. Und Auseinandersetzungen gibt es. „Wir sind ein Abbild der syrischen Konflikte. Alle internationalen Akteure dort haben auch hier ihre Gruppen“, so Khateeb. Ein El-Hilweh liegt strategisch günstig. Von hier aus kann man den Süden Libanons blockieren und damit auch die dort herrschende Hisbollah kontrollieren. Sie wiederum ist eine der wichtigsten Kriegsparteien in Syrien.

Zafer Khateeb sieht trotzdem Perspektiven. Es müsse Druck auf die libanesische Regierung ausgeübt werden, den Palästinenserinnen und Palästinensern gleiche zivile und soziale Rechte zu geben. Dazu gehöre aber auch, dass die politischen palästinensischen Parteien ihre Politik ändern. „Wenn wir unsere Sache im Lager nicht in Ordnung bringen können, welche Botschaft senden wir an die Libanesen? Wir müssen uns hier reorganisieren und ein Zeichen geben, dass wir kein Risiko für die nationale Sicherheit des Libanon darstellen.“ Immerhin, und das ist eine gute Nachricht, kann sich eine solcher Position mittlerweile Gehör verschaffen. Ein Erfolg der Arbeit von Nashet in den letzten fünf Jahren.
 

Seit dem Oslo-Prozess, der mit seinen Autonomie-Regelungen zumindest für Westbank und Gaza eine Perspektive zu bieten schien, unterstützt medico die Arbeit palästinensischer NGOs im Libanon. Damals war das eine bewusste Entscheidung, denn das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon war bald von der internationalen politischen Agenda verdrängt. So ist es bis heute. In der desolaten Lage ist das Engagement des medico-Partners Nashet, etwa die Jugendarbeit in Ein El-Hilweh, einer der raren Lichtblicke.

Spendenstichwort: Libanon


Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2017. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 06. April 2017

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