Rechte Gewalt

Ein Schmerz, der auch Kraft gibt

Die Webdokumentation gegenuns.de erzählt die Lebensgeschichten von Betroffenen rechter Gewalt. Das von medico geförderte Projekt wurde jetzt für den Grimme-Award nominiert

Von Julia Manek

„Dann war nichts mehr so, wie es mal war“ sagt Emiliano Chaimite. Im Januar 2020 spricht er über den Tod von Jorge Gomondai. Am 31. März 1991 hatten Neonazis Jorge Gomodai in einer Straßenbahn rassistisch beleidigt, geschlagen, bedroht und dann aus der fahrenden Bahn gestoßen. Er erleidet bei diesem Sturz schwerste Kopfverletzungen und stirbt nach sechs Tagen im Koma auf der Intensivstation eines Dresdner Krankenhauses.

Die Arbeit der Polizei in jener Nacht wirft Fragen auf. Denn die Einsatzkräfte hatten bereits mehrere Notrufe ob der marodierenden Neonazis erhalten und sie – eigentlich –beobachtet. Trotz der Berichte von Augenzeug*innen beharrt die Polizei auf dem Narrativ, Jorge Gomodai sei betrunken aus der Bahn gestürzt. Es werden kaum Spuren gesichert oder Zeug*innen befragt. Die Aufarbeitung des tödlichen rassistischen Angriffs auf Jorge Gomondai ist von Fehlern und Desinteresse an einer Aufklärung des Falls und der Strafverfolgung der Täter gekennzeichnet.

Die Tat ändert alles: Sie nimmt das Leben des Freundes und ist gleichzeitig auch eine Bedrohung des eigenen Lebens. „Dann war nichts mehr so, wie es mal war.“ Viele andere Menschen haben Emiliano Chaimites Worte auch nach 1990 in der Bundesrepublik wiederholt: Die getöteten Menschen sind einzigartig. Doch die Motivationen, die zu diesen Toden führen, sind es nicht. Sie heißen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsradikalismus.

Keine Einzeltäter

Hanau. Halle. Erfurt. Kassel. Rostock-Lichtenhagen. Solingen. Mölln…Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt haben tödliche Kontinuität. Während Vorstellungen eines linearen Fortschritts die moderne Gesellschaft bestimmen – insbesondere auch die Vorstellung der Bundesrepublik – zeugen rassistische Morde davon, dass Menschen aus migrantischen Communities immer schon Vorurteilen und Hetze ausgesetzt waren. Und es bleiben.

Ungeachtet aller Versprechen von blühenden Landschaften florieren rechte Diskurse. Während in den „Baselballschlägerjahren“ der 90er noch deutsche Neonazis das Bild am rechten Rand prägten, herrscht heute ein neues gesamtgesellschaftliches Klima des Ressentiments: Gepflegt wird dieses nicht nur innerhalb der Bundesrepublik, sondern auch an den europäischen Außengrenzen. Flüchtende Menschen werden zu „Problemen“ gemacht, havarierende Schlauchboote apologetisch als „Taxis“ bezeichnet.  Selbst dann, wenn ein Täter scheinbar „alleine“ handelt und nicht eindeutig in rechte Netzwerke eingebunden ist, sind die Taten immer eingewoben in diese diskursiven Netzwerke des gesamtgesellschaftlichen Rassismus.

Gegen uns. Alle.

Wie können wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zulassen, dass Menschen unter uns angefeindet, bedroht und ermordet werden? Es wird vergessen, was rechte Gewalt eigentlich ist. Und woher sie kommt. Was bedeutet es, dass man sich freut, wenn die AfD bei einer Landtagswahl „nur“ 20% der Stimmen erhält?

Was bedeutet dies für die Menschen, die in der Schusslinie des erstarkenden Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik stehen? Wer ist „wir“? Die Stimmen, die in der Webdokumentation „Gegen uns“ sprechen, beantworten diese Frage unmittelbar und klar: Sie ordnen die Taten ein und machen sowohl die Auswirkungen deutlich, die die Gewalt auf ihr Leben hat, als auch die gesellschaftlichen Folgen von Rassismus und Antisemitismus. Beim Zuhören wird deutlich: „Rechte Gewalt richtet sich gegen die Betroffenen, und auch gegen uns alle.“

Die Webdokumentation "gegen uns: Betroffene im Gespräch über rechte Gewalt seit 1990 und die Verteidigung der solidarischen Gesellschaft" stellt Lebensgeschichten von Menschen in den Mittelpunkt, die nach 1990 aus rassistischen, antisemitischen und anderen rechten Motiven angegriffen wurden. medico hat das Projekt in der Anfangsphase unterstützt. Jetzt ist die Webdokumentation von RAA Sachsen, ezra, Opferperspektive und des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. für den Online-Grimme-Award 2021 nominiert. Bis zum 10.6.2021 um 23:59 kann noch online beim Publikumspreis-Voting für den Grimme-Online-Award abgestimmt werden

Veröffentlicht am 10. Juni 2021

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.


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