Editorial

Liebe Leserinnen & liebe Leser,

Zu Beginn des Monats Juni bewegt sich der Koordinator der Berliner Koalition, Bundeskanzler Gerhard Schröder, auf erhabenem Parkett: Er eröffnet die Leistungsshow EXPO 2000 und inauguriert im Beisein von Bill Clinton ein komplementäres Symposion in Berlin über moderne Regierungsformen im neuen Jahrtausend. In Anwesenheit von Statisten, die als Regierungschefs einiger weniger reicher Länder ihnen zur Seite standen, proklamierten sie ihren neuen allgemeinen Weltfeind: »Die Schurkenstaaten«. Unterschiedlich definieren die zwei Chefs einzig die Technik der als notwendig erkannten »Abschirmung«. Die Terminologie des »Sicherheitsgürtels« reflektiert die Form durchgängiger Weltgestaltung: Elektronische Sicherheitssysteme hermetisieren die Enklaven der Eliten in Washington wie in Bangkok. Sie beschirmen den Weg des mondialen Managements über gesicherte Highways in die mit Codierungsanlagen versehene Tiefgarage aus denen der Weg über weitere Identifikationsprüfungen schließlich in den High Tech Offices endet. Mit dem »Rumsfeld-Report« des gleichnamigen früheren Verteidigungsministers wurde das Programm der »Strategic Defense Initiative«(SDI) zur offiziellen Doktrin zum Schutz aller Privilegierten, die das allgemeine Böse nur außerhalb der eigenen Mauern ausmachen und zu diesem Zweck die Begrifflichkeit der »rogue states«, der »Schurkenstaaten« entwickelt haben, deren namentliche Auflistung das US State Departement jedes Jahrs aufs neue arrangiert. Der tatsächliche militärische Gewinn, die Sicherheit etwa vor der Bedrohung durch Interkontinentalraketen ist äußerst fragwürdig und der erwartbare Security-Nutzen steht in keinem Verhältnis zum finanziellen Aufwand. Wenn es wirklich nur um die »Eindämmung« von vielleicht 6 oder 7 prekären Staaten auf dem Globus ginge, dann stünden einfachere, jedoch wirkungsvollere Mittel zur Verfügung. Was hier zur Einrichtung wird, korrespondiert mit einem grundlegenden Weltverständnis: Draußen wimmelt es von Irren und Kriminellen, von Fanatikern und Islamisten, die man weder verstehen muß noch belehren kann, sondern die man am besten auf Abstand hält. Diese innere Orientierung der Eliten und Privilegierten, in einer Sicherheitszone leben zu wollen, die jenseitig nur Aufstand und Massaker kennt, entspricht durchaus der Wirklichkeit. Während das Berliner Clinton/ Schröder Symposion immer reguliertere Ordnungssysteme der internationalen Herrschaftsausübung für das neue Jahrtausend ausarbeitet, deren Regulationen immer gleichförmiger die Existenz der Eliten fixieren, wächst außerhalb der allgemeine Kampf ums Überleben, gedeihen Kriege und Bürgerkriege, verschwinden in Afrika und Asien gewachsene eigene Ordnungsstrukturen und brechen überkommene Wertesysteme vor dem Ansturm des Globalkapitalismus rettungslos zusammen. Unbildung, Armut und Zukunftslosigkeit provozieren politischen Extremismus und religiösen Fanatismus und gebären den millionenfachen »Schurken« nicht nur in ganzen Kontinenten, sondern sogar noch in den prekären sicherheitsrelevanten Enklaven der Metropolen reicher Länder. Diese »Schurken« sind das »Überflüssige«, das die assistierenden akademischen Akteure des Berliner Symposions ebenfalls beseitigen wollen. »The redundant people«. Eine Art caput mortuum, ein unzerstörbarer Rest des insgesamten kapitalistischen Geschehens, von diesem ausgegrenzt, aber durch dieses selber geschaffen, sieht es sich konfrontiert mit seiner Negation durch diejenigen, die es außen vor gelassen haben. Dies »Überflüssige« ist das Lebendige, das beseitigt werden sollte – und das doch erhalten bleibt. Gerade jetzt erhalten bleibt und erstmals mit dem mondialen Sieg des Kapitalismus seine eigene ungeahnte Chance erfährt: tatsächlich voll und ganz ausgeschlossen zu sein aus allen Zusammenhängen der Verwertung, des Warenfetischismus, der sozialen Zurichtung und Konditionierung. Der weltweit millionenfach produzierte für alle Zeiten Ausgeschlossene, der keinen Arbeitstag mehr kennt, mag nachdenken über die Form der Wiedergewinnung der Freiheit für den Menschen, mag endlich sich vereinen zur »Association der Freien und Gleichen«. Um die Macht nicht zu übernehmen, sondern um sie abzuschaffen. Damit endlich Produktion und Lebens menschlich werden. Davon ist die Rede in diesem Heft: mit Johannes Agnoli am Anfang: Warum die in Berlin vorgestellte Zukunft uns nicht braucht.

Herzlichst

Ihr Hans Branscheidt

Veröffentlicht am 01. Juni 2000

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