Sierra Leone

Geheilt, aber nicht gesund

Seit Ende 2015 gilt die Ebola-Epidemie in Sierra Leone als besiegt. Noch immer aber leiden Menschen und Land unter den Folgen.

„Ihr seid gestorben, damit wir leben können“, steht auf dem schlichten Gedenkstein im Eingangsbereich des Distriktkrankenhauses von Kenema, jener Provinzstadt, in der Anfang 2014 die ersten Fälle von Ebola auftraten. Auf dem Stein sind fast 50 Namen von Menschen verzeichnet, die bei ihrem Einsatz gegen die Epidemie gestorben sind: Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, Logistiker, Techniker. Auch der Name Dr. Sheik Umar Khan ist hier zu finden. Er war der einzige Virologe des Landes und international bekannter Spezialist für Lassafieber. Noch Monate nach dem Abklingen der Epidemie liegt Trauer über dem Land. Die Trauer über den Tod von Familienangehörigen, von Freundinnen und Freunden. Aber auch die eigene Angst vor einer Infektion und das Ohnmachtsgefühl, von der eigenen Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen worden zu sein. Doch sei es bei Unterhaltungen in der Markthalle, im Restaurant oder bei Interviews – stets ist da noch ein anderes Gefühl: Die Menschen sind stolz darauf, dass sie Ebola in einem kollektiven Akt besiegt haben. Und sie wissen, dass ihr Einsatz angesichts nicht vorhandener Hilfsstrukturen überlebensnotwendig war.

Zehntausend Menschen hatten sich in Sierra Leone mit Ebola infiziert, fast 4.000 sind gestorben. Schon Jahrzehnte vor dem Ausbruch versäumten es die Regierungen, ein öffentliches Gesundheitssystem aufzubauen. In Sierra Leone arbeiten weniger als 300 Ärztinnen und Ärzte, allein in der Frankfurter Uniklinik sind es dreimal so viele. „Nicht auszumalen was los ist, wenn hier mal was wirklich Schlimmes passiert“, sagte der Menschenrechtler Joseph Pokawa über den Zustand des Gesundheitssystems in den ländlichen Regionen des Landes. Das war 2011, drei Jahre vor dem Ausbruch der Epidemie.

Tu etwas oder stirb

Es waren vor allem Nichtregierungsorganisationen und Freiwillige, die in die Bresche sprangen. „Do or die“ lautete die Antwort auf die Frage, wie sich Hunderte Community Worker, die für ihre Arbeit oft nur minimale Beträge erhielten, motivieren konnten. Über Monate sind sie von Tür zu Tür gegangen und haben Menschen über Gefahren und Schutzmöglichkeiten aufgeklärt, haben sie für die Erkrankten und gegen den Virus gekämpft. Viele haben sich aufgrund der schlechten Ausstattung der Krankenstationen selbst angesteckt und sind gestorben. Sie alle sind „Ebola Champions“, wie es auf Plakaten heißt, die landesweit die Straßenzüge säumen.

Auf einer unverputzten Mauer klebt ein anderes Plakat. Unter der Überschrift „Congratulation for kick Ebola out“ ist Präsident Ernest Koroma zu sehen, in staatsmännischer Pose, der Retter im Kampf gegen die Epidemie. Ein Zynismus. Schließlich hat die Regierung offenkundig versagt, im Vorfeld und während der Krise. Tatsächlich haben die Menschen die Seuchenbekämpfung eines Staates, den sie noch nie in einer fürsorglichen Rolle erlebt hatten, vielerorts misstrauisch beäugt oder sogar als Bedrohung erlebt. Das Misstrauen erhielt neue Nahrung, als die Behörden Dörfer oder Stadtviertel abriegelten, ohne die eingeschlossenen Menschen ausreichend zu versorgen. So wie in Komende Luyama.

In dem Dorf außerhalb von Kenema leben die Menschen wie fast überall im Land von der Landwirtschaft. Kakaobohnen liegen zum Trocknen vor dem Dorfplatz. Niemand hatte hier jemals von Ebola gehört, als Mustapha Mambu Besuch von seiner Schwester bekam. Plötzlich wurde sie krank . „Wir kümmern uns hier umeinander, alle haben ihr Essen gebracht und sie getröstet“, erinnert sich Mustapha. Als immer mehr Menschen die gleichen Symptome entwickelten und seine Schwester starb, tauchten Soldaten und Polizisten auf und stellten das halbe Dorf unter Quarantäne. „Viele sind aus Angst einfach davongelaufen“, berichtet Amie Abu, eine der Überlebenden. Die Situation drohte zu eskalieren. Erst als Community Worker von Network Movement for Justice and Development (NMJD) kamen und mit den Menschen über ihre Ängste sprachen, den Kontakt zu Verwandten in den Behandlungszentren herstellten und über Präventivmaßnahmen aufklärten, beruhigte sich die Lage.

Heute verunmöglicht vor allem die große Armut, dass die Wunden heilen können. „Wir waren vorher schon sehr arm. Während der Epidemie konnten wir unsere Felder nicht bestellen, weil wir unter Quarantäne standen. Wir haben die Ernte verloren und konnten keine Vorräte anlegen“, erzählt Musa Koroma. Seine Augen sind stark gerötet, sein sportlicher Körper ist vor Schmerzen zusammengesackt. „Während wir im Ebola-Center waren, wurde zuhause alles, was wir besaßen, verbrannt.“ Eine Sicherheitsmaßnahme, hieß es. Aufgrund seiner Schmerzen kann er sich noch heute nicht an der Feldarbeit beteiligen. „Wir stehen vor dem Nichts.“ In einem der ärmsten Länder der Welt bedroht der Wegfall einer Arbeitskraft oft die Existenz der gesamten Familie.

Tickende Zeitbomben

So wie mit dem Kriegsende 2002 nicht über Nacht Frieden in Sierra Leone eingekehrt ist, wird das Land noch lange brauchen, um die Folgen von Ebola zu überwinden. Die Erleichterung über das Ende der Epidemie und die wiedererlangte Bewegungsfreiheit wird überlagert von existentiellen Ängsten. „Einige Überlebende fühlen sich wie tickende Zeitbomben“, sagt Archchun Ariyarajah, Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Niemand kann sagen, wie sich der Virus in den Körpern der Überlebenden weiterentwickelt.“ Neben der Ungewissheit und den Begleiterscheinungen von Gelenk- und Ohrschmerzen bis zu massiven Sehstörungen – leiden viele Überlebende zusätzlich darunter, dass das Umfeld ihnen mit Misstrauen und Ausgrenzung begegnet. Mancherorts werden sie für das Unheil, das über die Gemeinden hereingebrochen ist, verantwortlich gemacht und können nicht nach Hause zurückkehren.

„Bedingt durch die extreme Armut haben viele Angehörige große Angst, Verantwortung für die Überlebenden zu übernehmen. Die Leute reagieren mit Abwehr, weil sie selbst oft nicht wissen, wie sie überleben sollen“, berichtet Abu Brima, Direktor des medico-Partners NMJD. Momentan erwägt die Regierung, den Betroffenen eine kostenlose Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen. Doch wo keine Krankenstationen in erreichbarer Nähe sind, wird das nicht viel nützen. Abu Brima schlägt daher vor, alle Maßnahmen gegen die Stigmatisierung in den lokalen Gemeinschaften zu verorten. So könnte die Verantwortung kollektiviert werden und die soziale Isolierung der Überlebenden verhindert werden. Damit wäre eine Lehre gezogen aus der Zeit nach dem Krieg, als die Kriegsversehrten in separierten Lagern untergebracht wurden.

Ebola als Equalizer

Die Epidemie hat noch eine andere Erfahrung ermöglicht. Ungläubig staunend erzählen viele immer wieder davon, dass Vizepräsident Samuel Sam-Sumana 21 Tage unter Quarantäne gestellt wurde, nachdem einer seiner Leibwächter an Ebola gestorben war; oder dass ein hochrangiger Minister an einer Straßensperre an der Weiterfahrt gehindert wurde, weil auch er sich an die verhängten Reiserestriktionen innerhalb des Landes halten musste. Die Menschen können es noch immer kaum fassen, dass das Gesetz und die Regeln zur Seuchenbekämpfung tatsächlich für alle in gleicher Weise galten. Ebola, die vor Ämtern und Privilegien nicht Halt macht, als demokratische Erfahrung? Tatsächlich wurden Willkür und Bestechlichkeit, sonst Bestandteil des alltäglichen Erlebens, während der Epidemie weniger geduldet. Die politische Klasse stand nicht wie sonst üblich über dem Gesetz, die Regierung wurde nicht mehr als unantastbar erlebt – dieses Schlüsselerlebnis hat Räume für Debatten über Demokratie und Mitbestimmung geöffnet.

Das ist umso bedeutsamer, weil im Zuge der Epidemie die politischen und wirtschaftlichen Missstände offen zu Tage getreten sind. Zum Beispiel die enorme Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffhandel und damit von den Weltmarktpreisen. In den vergangenen Jahren hatte Sierra Leone einen Wirtschaftsboom erlebt, der sich vor allem den steigenden Einnahmen aus dem Rohstoffsektor verdankte. Dann kam die Epidemie und fraß das Wachstum, das 2013 noch satte 20 Prozent betragen hatte, wieder auf. Hierfür ist laut der GlobalHealth-Expertin Laurie Garrett vor allem die politische Reaktion auf die Seuche verantwortlich: „Die von Ebola betroffenen Länder sind in eine ökonomische und politische Isolation gestoßen worden.“

Nach Beginn der Epidemie hatten 40 Staaten ohne Zustimmung der WHO eigenmächtige Reisebeschränkungen erlassen. British Airways stoppte als erste Fluggesellschaft alle Flüge von und nach Sierra Leone und handelte gegen die Empfehlungen der WHO über Beschränkung von Handel und Reisen. Die Abschottung erschwerte die Arbeit der Hilfsorganisationen und ließ gleichzeitig die Märkte zusammenbrechen. Im formellen Sektor haben einige Unternehmen die Hälfte ihrer Angestellten entlassen. Besonders betroffen sind die Bergbaufirmen, die schon länger unter einem Preisverfall von Eisenerz litten. Das ist für die Regierung ein großes Problem, weil Eisenerz das Hauptexportgut im Bergbau ist. „Der ganze Rohstoffsektor ist ins Trudeln geraten. Das Problem ist, dass die Regierung ausschließlich auf den Export setzt und im Land selbst keine weiterverarbeitende Industrie etabliert“, erläutert Abu Brima.

Strukturelle Prävention

Die Seuche hat bei Regierungen, Gesundheitsfachleuten und Nichtregierungsorganisationen die Forderung nach dem Aufbau eines flächendeckenden Gesundheitssystems salonfähig gemacht. Hierfür aber braucht es Geld, das ohne die Erhöhung der Staatseinnahmen nicht vorhanden ist. Wirtschaftliche Diversifizierung, dazu gehört die Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, und die Erhöhung der Exportsteuern könnten einen Beitrag leisten. Das steht aber nicht auf der internationalen Agenda. Die von der EU mit einigen afrikanischen Ländern verhandelten Freihandelsabkommen zielen vielmehr darauf, die Steuern auf Exporte und damit die Staatseinnahmen zu senken. Mehr Geld wäre auch nötig, um die massive Abwanderung von Gesundheitspersonal zu stoppen. Nur ein Zehntel aller Medizinstudierenden bleibt nach dem Abschluss im Land. Die meisten wandern auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten aus oder werden gezielt von Europa abgeworben.

Bei all diesen Fragen kommt es auf die Zivilgesellschaft an. In den vergangenen Monaten diente sie als Lückenbüßer, um die Schwäche staatlicher Strukturen auszugleichen. Diese Erfahrung aber hat nicht nur die tödlichen Folgen einer Politik vor Augen geführt, die nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist, sondern eigenes Handeln als Selbstermächtigung erleben lassen. Ausgehend davon geht es jetzt darum, politischen Druck auszuüben. Das „Civil Society Forum“ zum Beispiel fordert in der Folge von Ebola eine Verfassungsreform und will erreichen, dass das Recht auf Bildung und Gesundheit in die sierra-leonische Verfassung aufgenommen wird. Erfahrungen aus Südafrika zeigen, wie erfolgreich es sein kann, die Regierung auf die Einhaltung der Verfassung verklagen zu können. Auch Abu Brima, Direktor von NMJD, glaubt, dass hier der Hebel anzusetzen ist. „Um die Macht und Willkür des Staates einzuschränken, ist der Zugang zu Bildung und Gesundheit die wichtigste Voraussetzung.“

Weitere Infos im medico-Dossier zu Ebola.

Anne Jung

medico unterstützt seit vielen Jahren die Menschenrechtsorganisation Network Movement for Justice and Development in Sierra Leone in ihrem Kampf für die demokratische Teilhabe an gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Spendenstichwort: Sierra Leone

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Sierra Leone after Ebola. TV-Interview in Sierra Leone

 

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Veröffentlicht am 24. März 2016

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