Südasien

Die Vorhölle des Weltmarkts

Der von westlichen Unternehmen erzeugte Preisdruck sorgt in südasiatischen Fabriken für extreme Ausbeutung. Auch an der Arbeitssicherheit wird gespart. Das führt – wie am 24. April 2013 in Savar – fast systematisch zu Unglücksfällen. medico unterstützt den Kampf um Entschädigung und für eine verbindliche Unternehmenshaftung.

Von Thomas Seibert

Jahrelang kam es in Südasiens Textilfabriken zu Unfällen mit drei, fünf, fünfzehn Toten, ohne dass wir, die Käuferinnen und Käufer der Jeans oder T-Shirts, davon erfuhren. Heute wissen wir, wie teuer andere bezahlen müssen, was wir immer billiger kaufen können. Aufgeklärt wurden wir in der schnellen Folge dreier großer Tragödien. Den Anfang machte Pakistans „Industrial 9/11“ im September 2012, als in Karatschi 300 Näherinnen und Näher der Weltmarktfabrik Ali Textiles verbrannten. Am 24. November 2012 starben bei einem weiteren Fabrikbrand in Ashulia am Rande von Dhaka in Bangladesch über 100 Arbeiterinnen und Arbeiter, diesmal bei Tazreen Fashions. Am 24. April 2013 dann stürzte in Savar, der Zwillingsstadt von Ashulia, der Fabrikkomplex Rana Plaza in sich zusammen. Über 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter starben, mehr als 2.500 wurden verletzt. Alle drei Fabriken produzierten für europäische Unternehmen, von C&A über IKEA bis Karl Rieker und in allen Fällen auf Rechnung des deutschen Discounters KiK. Solche Unternehmen sind es auch, die den Preis der Kleidungsstücke und damit die Bedingungen diktieren, unter denen sie produziert werden müssen.

medico wurde gleich nach dem „Industrial 9/11“ von seinen pakistanischen Partnern informiert, den Gewerkschaftern der National Trade Union Federation (NTUF) und der Arbeitsrechtsorganisation PILER. Mit beiden arbeiteten wir bis dahin in der Unterstützung von Überlebenden der Fluten von 2010 und 2011 zusammen. Erste Bilder vom Rana-Plaza-Einsturz schickte uns der älteste medico-Partner in Bangladesch, die Basisgesundheitsorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK), noch am selben Tag. Ärzteteams von GK halfen bei der Bergung der Opfer aus dem Schuttberg. Die National Garment Workers Federation (NGWF), Bangladeschs größte Textilgewerkschaft, kannten wir bis 2013 nur aus politischen Gesprächen. Heute tauschen wir wöchentlich Emails aus, telefonieren regelmäßig und besuchen uns gegenseitig.

Zuletzt reiste Safia Parvin, Generalsekretärin der NGWF, durch mehrere deutsche Städte, vor ihr sprachen Nasir Mansoor und Zehra Khan von der NTUF auf medico-Konferenzen in Berlin und auf der Frankfurter Blockupy-Demonstration. Das wird so weitergehen, denn die Tragödien von Karatschi und Dhaka sind noch lange nicht ausgestanden. Und sie sind und bleiben auch unsere Tragödien.

Am Rana Plaza

Als ich Anfang Juni 2013 auf Einladung der NGWF und GK’s nach Dhaka kam, führten mich die Kolleginnen und Kollegen gleich an den Platz, an dem noch einige Wochen zuvor das Rana-Plaza-Hochhaus stand. Ein Platz wie Tausend andere in Savar und Ashulia, wo es nichts gibt außer Textilfabriken, ärmlichen Arbeitersiedlungen und Straßenmärkten. Am Tage vor dem Einsturz wurden im ganzen Gebäude tiefe Risse entdeckt, die Behörden ordneten die sofortige Evakuierung an. Die Chefs der Textilfabriken aber zwangen ihre Angestellten zur Arbeit und drohten mit Entzug des Lohnes. 5.000 Arbeiterinnen und Arbeiter wagten nicht sich zu widersetzen. Die meisten büßten dafür ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Zukunft ein.

Während wir vor der Baugrube stehen und die Transparente der Gewerkschaft lesen, die an der Absperrung hängen, spricht mich ein Augenzeuge des Zusammenbruchs an: „Das Gebäude krachte binnen Sekunden zusammen, eine ungeheure Staubwolke hüllte uns ein. Als wir wieder sehen konnten, lagen die neun Stockwerke wie ein Sandwich aufeinander. Die Eingeschlossenen schrien um ihr Leben, vor Schmerzen und Angst. Als einer nach dem anderen verstummte, blieb das Klingeln der Handys. Das ging so lange, bis die Akkus leer waren.“ Der Mann brach ab, ließ uns stehen, verlor sich im Gewühl von Savar, in dem die Dinge genau so weitergehen wie vor dem 24. April 2013.

Zu uns stoßen Aktivistinnen und Aktivisten einer neu gegründeten Arbeitsrechtsorganisation, die sich Forschungsinstitut für soziale Gerechtigkeit nennt: Das Kürzel RISE ist mit „Erhebung“, „Aufbruch“, auch mit „Auferstehung“ zu übersetzen. Gemeinsam besuchen wir Überlebende erst des Rana Plaza, dann der Tazreen Fashion. Das Gewerkschaftsbüro von Ashulia, in dem wir zusammensitzen, ist ein Zufluchtsort der Entwurzelten. Weil wieder einmal Stromausfall ist, reden wir im Kerzenschein miteinander. Wer das Wort ergreift, bekommt eine Taschenlampe, um sein Gesicht zeigen zu können. Sie teilen dasselbe Schicksal, treffen sich auf Demonstrationen in Dhaka, erzählen dieselben Geschichten. Niemand von ihnen hat einen neuen Job. Alle haben wenigstens ein Familienmitglied, mehrere Nachbarn, Freundinnen und Freunde verloren. Einige haben Entschädigungen erhalten, für den Tod der Mutter, des Bruders, des Sohnes, für die eigenen Verletzungen. Zahlungen von unterschiedlichen Gebern, ohne genauere Angaben. Ohne jemals gefragt worden zu sein, ob ihnen das reicht, zum Ausgleich des Unrechts oder auch nur zum Weiterleben. Die meisten leiden noch immer an ihren Verletzungen, doch kaum jemand ist in ärztlicher Behandlung, weil das Geld dazu fehlt. Niemand wird physiotherapeutisch oder gar psychosozial betreut. Viele, so sagt man uns, sind wieder aufs Land gezogen, zurück in die bittere Armut, aus der die meisten Bewohner Savars, Ashulias und Dhakas stammen. Diese Armut wollten sie hinter sich lassen, als sie mit nichts in die Millionenstadt kamen, auf Anstellung in einer der 4.000 Textilfabriken hoffend, in denen vier Millionen Menschen arbeiten, von denen das Überleben von 20 Millionen abhängt.

Der Stand der Dinge

Von Ashulia fahren wir nach Dhaka, ins nationale Büro der NGWF. Dort sieht es nicht anders aus als im nationalen Büro des medico-Partners NTUF im pakistanischen Karatschi, in dem ich wenige Wochen vorher zu Gast war. „Nationales Büro“: das sind in beiden Fällen drei, vier Zimmer, zugestellt mit wackligen Computerschreibtischen, auf denen sich zerfledderte Akten stapeln und Flugblätter zu Bergen türmen. Wir reden über den Stand der Entschädigungsverhandlungen, ich erzähle, was ich von Kollegen aus Karatschi weiß, die in ihren Verhandlungen ebenfalls nicht vorankommen. Ja, es hat Erfolge gegeben, das Brandschutzabkommen von Bangladesch war weltweit auf den Titelseiten, aber was ist das in der Realität wert? „Wir dürfen jetzt die Gebäudesicherheit kontrollieren, die Brandschutzvorrichtungen, die Ausbildung des Personals in Arbeitsschutzmaßnahen. Wir haben sogar das Recht, Beschwerde zu führen“, sagt Amin, Präsident der NGWF, „aber uns fehlen dazu die Leute, das Geld, die Zeit.“

Lediglich ein Prozent der Textilarbeiterinnen und -arbeiter Bangladeschs sind gewerkschaftlich organisiert, in Pakistan sind es nicht mehr. Der Grund: Gewerkschaften sind nicht verboten, aber faktisch auch nicht erlaubt. Wer ihnen beitritt, riskiert seinen Arbeitsplatz, wird manchmal in aller Offenheit und häufiger unter einem Vorwand gekündigt. Man arbeitet täglich bis zu 14 Stunden, sechs Tage die Woche, bezahlten Urlaub gibt es nicht. Die Überstunden eingerechnet, liegt der Lohn mit knapp 50 Dollar trotzdem unter der Armutsgrenze von zwei Dollar täglich, in Bangladesch genauso wie in Pakistan. „Was die Leute aufrecht hält“, sagt Amin, „ist die Hoffnung, dass es ihren Kindern einmal besser geht, weil sie hier in der Stadt zur Schule gehen können. Das reicht.“

Natürlich reicht das nicht, natürlich hält das niemand aus. Im Herbst 2013, von September bis November, brachen sich Verzweiflung und Empörung Bahn. Es gab wilde Streiks, Demonstrationen mit 50.000 Teilnehmern, eine Fabrik wurde angezündet, es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Hunderttausende forderten die Verdoppelung des Mindestlohns, erstritten eine Erhöhung um 75 Prozent. Der Aufruhr ist vorbei, die Ordnung wiederhergestellt, die Lieferungen nach Deutschland gehen pünktlich auf die Reise. Die Umsetzung der Lohnerhöhung muss jetzt von den Gewerkschaften gesichert werden. Bleibt darüber hinaus noch Zeit, kümmern sich Amin, der Präsident, und Safia Pervin, die Generalsekretärin, um die Entschädigungsverhandlungen. Sie werden dabei von der Kampagne für Saubere Kleidung und vom internationalen Gewerkschaftsbund IndustriALL unterstützt, auch von den jungen RISE-Aktivisten, die mit Hilfe medicos unentwegt Namen der Betroffenen, Zeugnisse ihrer Schicksale sammeln, gegen das Vergessen, gegen die Untätigkeit der Behörden, gegen die Ausreden der großen Handelshäuser.

Die internationalen Textilunternehmen spielen einfach auf Zeit, sagen nicht zu, sagen nicht ab, zahlen etwas, kündigen Zahlungen an, bleiben in jedem Fall weit unter dem, was gefordert wird. Das Elend und die Missachtung der Textilarbeiterinnen und -arbeiter Pakistans und Bangladeschs können nicht nur vor Ort bekämpft werden. Zum Jahreswechsel, wenige Wochen nach dem Aufruhr in Dhaka, gingen in Kambodscha Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße. Wütend schrien sie die Namen ihrer Peiniger heraus – darunter Firmennamen, deren Träger für die Brände und Gebäudeeinstürze in Karatschi und Dhaka Verantwortung tragen. Diese Unternehmen haben ihre „nationalen Büros“ und ihre Läden mitten unter uns, verkaufen „ihre“ Hosen und Shirts in unseren Einkaufsstraßen. Wir sind es, die sie am Leib tragen. Wir sind gefragt.

Projektstichwort Südasien

2013 hat medico die Notfallhilfe und Brandschutzkampagne des TIE Bildungswerks in Kooperation mit der National Garment Workers Federation (NGWF), die medizinische Behandlung von Rana- Plaza-Opfern durch die Basisgesundheitsorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) sowie die Begleitung des Rehabilitierungs- und Entschädigungsprozesses durch die Research Initiative for Social Equity (RISE) mit 37.203 € unterstützt. Die pakistanischen Partner PILER und NTUF werden finanziell im Rahmen anderer Projekte gefördert.

Veröffentlicht am 14. Mai 2014

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