Die verschwundenen Kinder

Migration/Mexico

Mütter aus Zentralamerika suchen ihre Angehörigen und werden dabei von der mexikanischen Zivilgesellschaft unterstützt. Eine Reportage von Ramona Lenz und Dieter Müller

Lechería, wenige Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt, ist ein zentraler Verkehrsknotenpunkt, der von sämtlichen Güterzügen passiert wird, die das Land von der Süd- zur Nordgrenze durchqueren. Auf riesigen Gleisanlagen werden sie dort rangiert und fahren auf drei verschiedenen Strecken weiter Richtung USA. Mit den Eisenbahnen kommen die zahlreichen Transitmigranten und -migrantinnen aus Zentralamerika nach Lechería, die jeden Tag im Süden auf die fahrenden Züge aufspringen, um nach einer wochenlangen beschwerlichen Reise die 3.000 Kilometer entfernte US-Grenze zu erreichen. Längst nicht alle kommen ans Ziel.

Ganz in der Nähe der Gleise befindet sich die Herberge San Juan Diego. Hier herrscht ein reges Kommen und Gehen. Migranten auf dem Weg nach Norden tragen sich bei den freiwilligen Helfern am Eingang in eine Liste ein, um sich für einige Stunden ausruhen, Wäsche waschen und mit ihren Angehörigen telefonieren zu können. Andere sammeln sich schon wieder vor dem Gebäude, um ihren Weg fortzusetzen. Es ist schwieriger geworden, von Lechería aus auf einen Güterzug zu gelangen, seit die Bahnstrecke vor einigen Jahren privatisiert wurde und entlang der Gleise hohe Zäune mit Stacheldraht errichtet wurden. Die Migranten müssen nun weitere Wege in Kauf nehmen und sind stärker auf Leute angewiesen, die ihnen den Weg zur nächsten Aufsteigegelegenheit zeigen. Die Gefahr, zum Opfer von Menschenhandel oder anderer Verbrechen zu werden, stieg dadurch an.

Kommen und Gehen

Einige der Migranten und Migrantinnen, die wir an einem Sonntag im August in Lechería antreffen, sind verwundet. Traurige und misstrauische Blicke lassen die seelischen Verletzungen erahnen. Ein Fünfzehnjähriger aus Honduras ist verzweifelt. Ihm fehlt die Kraft weiterzugehen, aber zurück kann er auch nicht. „Ich habe keine Eltern mehr, auch keine Brüder und Schwestern“, sagt er. „Ich bin ganz allein. Und hier in Mexiko kann ich niemandem vertrauen.“

Es sind vorwiegend junge Männer, die wir in der Herberge antreffen. Aber auch Frauen und Paare sind unterwegs. In dem Schlafsaal, in dem rund dreißig Männer und Frauen auf engstem Raum in Stockbetten untergebracht sind, übernachtet gleich vorne am Eingang ein Paar aus Honduras, das sich von seinen drei erwachsenen Kindern und den Enkeln verabschiedet hat, um im Norden Mexikos oder in den USA Arbeit zu finden. Sie haben sich ein bisschen angefreundet mit einem ganz jungen Paar aus Nicaragua, das das Doppelstockbett neben ihnen belegt. Die junge Frau ist im fünften Monat schwanger. Auch sie rennt den Güterzügen hinterher. Vielleicht schafft sie es bis in die USA, bevor ihr Kind zur Welt kommt.

Hoffnung und Verzweiflung liegen in diesem Raum dicht beieinander. Am anderen Ende des Schlafsaals sitzen die Versehrten beisammen. Junge Männer mit zerschundenen Füßen und Wunden von Ästen, die ihnen auf dem Zugdach das Gesicht zerschnitten haben. Am schlimmsten dran ist ein junger Mann, dem die Beine amputiert werden mussten. Er war vom Zug gefallen und unter die Räder gekommen - was immer wieder passiert. Die Männer starren auf den Fernseher in der Ecke, der eine US-amerikanische Seifenoper zeigt. Eine Augenärztin, die am Wochenende aus der Stadt kommt, um unentgeltlich bei der medizinischen Versorgung verletzter und kranker Migranten zu helfen, und eine Krankenschwester kümmern sich um sie.

Entführt und erpresst

Als sei die illegale Reise durch Mexiko nicht auch so schon hart genug, haben Entführungen und Ermordungen von Migranten und Migrantinnen in den letzten Jahren stark zugenommen. Längst handeln die brutalen mexikanischen Kartelle nicht mehr nur mit Drogen und Waffen, sondern auch mit Menschen. Sie bereichern sich an der Not der Ärmsten, nicht nur indem sie den Migranten beträchtliche Summen abnehmen, um sie passieren zu lassen oder um sie auf vermeintlich sichere Migrationsrouten zu führen. Seit einigen Jahren entführen sie die Menschen aus Zentralamerika auch und bringen sie in sogenannte casas de seguridad. Mit Sicherheit haben diese Häuser jedoch nichts zu tun. Entführte werden hier zu Hunderten festgehalten, bis die Familien in ihrem Herkunftsland oder in den USA die geforderten Lösegelder bezahlt haben. Können die Familien nicht zahlen, werden sie ermordet - oder in den Dienst der mexikanischen Mafias gezwungen. 20.000 Menschen werden nach Schätzungen der staatlichen mexikanischen Menschenrechtskommission CNDH jedes Jahr entführt, sechs von zehn Frauen auf ihrem Weg durch Mexiko vergewaltigt.

Auch wenn diese Verbrechen schon seit Jahren geschehen, hat erst das Massaker an 72 überwiegend zentralamerikanischen Migranten und Migrantinnen, das im August 2010 in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas geschah, öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem erregt. Polizei und Justiz ignorieren die Vergehen in der Regel oder sind selbst in das organisierte Verbrechen involviert.

Auf der Suche

Wenn der Kontakt abbricht, wissen die Familien in den zentralamerikanischen Herkunftsländern oft nicht, wo ihre Angehörigen geblieben sind. Seit einigen Jahren organisiert die von Mexiko aus agierende medico-Partnerorganisation Movimiento Migrante Mesoamericano daher Karawanen von Angehörigen, die ihre verschwundenen Familienmitglieder in Mexiko suchen. medico unterstützte die 7. Karawane, die vom 27.10. bis 10.11.2011 stattfand. 33 Mütter aus Honduras, Nicaragua und El Salvador reisten auf der Suche nach ihren verschwundenen Töchtern und Söhnen, die sich in Richtung USA aufgemacht hatten und von denen sie teilweise seit Jahren kein Lebenszeichen mehr bekommen haben, durch Mexiko.

Dilma aus Honduras ist eine der Mütter aus der Karawane. Ihre Tochter Olga hatte Honduras vor zwei Jahren, im Oktober 2009, verlassen. Sie glaubte an den „amerikanischen Traum“. Ihre fünf Kinder ließ sie in der Obhut der Großmutter. Das letzte Mal hörte Dilma im Januar 2010 von ihrer Tochter. Olga rief aus Tapachula im Süden Mexikos an, wo sie Arbeit in einer Fabrik gefunden hatte und erstmal bleiben wollte. Seither hat Dilma nichts mehr von ihr gehört.

Auch die Spur von Marias Tochter verliert sich in Tapachula. Maria hatte sich vor zwei Jahren schon einmal eigenständig auf den Weg von Nicaragua nach Mexiko gemacht, um ihre Tochter zu suchen. Sie hatte einen Hinweis erhalten, dass sie in einem Bordell in Tapachula festgehalten und zur Prostitution gezwungen würde. Obwohl sie bei ihrer Suche bedroht wurde, gelang es Maria einmal, in einen Keller vorzudringen, in dem Frauen eingesperrt waren. „Es war grauenhaft“, erinnert sie sich. Ihre Tochter war nicht dabei. Sie hat sie bis heute nicht gefunden.

Der Gewalt ein Ende

Auf allen Stationen ihrer Karawane legen die Mütter Bilder von verschwundenen Migranten und Migrantinnen an öffentlichen Orten aus und hoffen, dass jemand ihre Angehörigen erkennt und Hinweise zu ihrem Verbleib geben kann. Sie besuchen Leichenschauhäuser, um Fotos von Unbekannten anzuschauen, die in Sammelgräbern bestattet wurden, und gehen in Gefängnisse, in denen Migranten ohne jeglichen Außenkontakt festgehalten werden. Das Movimiento Migrante Mesoamericano fordert seit langem den Zugang zu den Datenbanken von Gerichtsmedizin, Friedhöfen, Polizei, Migrationsbehörde, Jusitz, Strafvollzugsanstalten und Krankenhäusern, um die Suche zu erleichtern. Statt permanent in dem zermürbenden Warten auf Nachricht zu verharren, begeben die Teilnehmerinnen der Karawane sich aktiv auf die Suche nach ihren Kindern. Das Movimiento Migrante Mesoamericano ermöglicht ihnen eine legale Einreise nach Mexiko und unterstützt die Frauen bei der schwierigen Suche. Einige erhalten tatsächlich Hinweise auf den Verbleib ihrer Angehörigen. Über die Unterstützung der Einzelnen hinaus gelang es dem Movimiento Migrante Mesoamericano gleichzeitig, mit der Karawane in Mexiko und international die Öffentlichkeit auf das Ausmaß der Gewalt, der Migranten und Migrantinnen auf dem Weg in die USA ausgesetzt sind, aufmerksam zu machen. Damit die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko endlich geahndet werden und die Menschen in der Migration ihnen nicht länger vollkommen schutzlos ausgeliefert sind.

 

Veröffentlicht am 01. Dezember 2011

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