Die Vergessenen sind erwacht

Ein Reisebericht aus Kairo von Tsafrir Cohen und Andreas Wulf

Es geht laut zu im Cafe Hurriya. Vorbei die Zeiten, als hier Künstler, politische Aktivisten und Flaneure vorsichtig um sich schauten, bevor sie sich zum politischen Gespräch trafen. Kein Tisch ist frei, alle reden bei Kaffee oder einem Bier durcheinander, begrüßen die ständig eintretenden Neuankömmlinge, die aus dem Kairoer Gewusel in das grelle Neonlicht reinplatzen, und schreien zwischendurch in ihre Mobiltelefone. Noch immer liegt die Aufstandseuphorie des 25. Januars in der Luft und die Menschen merken erst jetzt, wie sehr Hoffnungslosigkeit und Apathie die Zeit davor und alle Lebensbereiche geprägt hatten. Hier treffen wir Reda Shukry, eine resolute linke Aktivistin alter Schule. Sie leitet die Nichtregierungsorganisation Al Shehab, die seit Jahren in einem der größten Elendsviertel von Kairo kommunale Gesundheitsarbeit aufbaut: In Ezbet Al Haggana. Dorthin brechen wir auf, denn die ägyptische Revolution des 25. Januar 2011 war nicht nur eine Rebellion einer internetaffinen Jugend, sondern auch der Bewohner von Ezbet Al Haggana, der Ärmsten der Armen. An der Ausfahrtsstrasse nach Suez gelegen, eingezwängt zwischen riesigen Militärkomplexen und wohlgeordneten Ober- und Mittelklassesiedlungen, wächst dieses städtische Elendsviertel seit Jahrzehnten ohne kommunale Planung oder städtische Verantwortung. Gleich am Eingang zu Haggana verjüngt sich die Straße derart, dass aus beiden Richtungen kommende Autos sich stets gegenseitig blockieren. Im Inneren des Viertels sind die staubigen und ungeteerten Wege für Fahrzeuge völlig unpassierbar. Während manche Gebäude noch einstöckige Baracken sind, wurden andere im Lauf der Jahre zu achtstöckigen Häusern hochgezogen, in denen sich einzelne Etagen noch im Rohbau befinden. Niemand kennt die genaue Anzahl der Menschen, die in diesen halbfertigen, käfigähnlichen und aus rotbraunen Ziegeln gemauerten Behausungen leben. Schätzungen schwanken zwischen 60.000 und bis zu einer Million.

Der Ort der Namenlosen

Vier Demonstranten aus Ezbet Al Haggana starben während des Aufstands gegen Mubarak, Dutzende wurden verletzt. Trotzdem, die Euphorie ist auch hier noch nicht verflogen, die Erwartungen sind groß: Alles soll sich ändern. Jetzt. Sofort. Aber der Alltag holt die Bewohner des Viertels wieder ein. Den durch Hartgummischrot an den Augen Verletzten fehlt das Geld für postoperative Behandlungen, Verwandte von Toten kommen nicht an die versprochene staatliche Kompensation, da nur die wenigsten in den inoffiziellen Siedlungen behördlich registriert waren. Und wer formal nicht existiert, der hat auch keinen Anspruch auf Entschädigung. Denn für den Staat existiert Ezbet Al Haggana eigentlich nicht. Zehntausende Kinder und Jugendliche leben hier, aber es gibt nur ganze zwei Schulen, in denen bis zu 80 Schüler in einer Klasse sitzen. Eine einzige staatliche Tagesklinik soll die gesamte Bevölkerung betreuen, aber der Arzt verdient so wenig, dass er nur zwei Stunden in seiner Praxis ist und ansonsten lukrativere Privatpatienten versorgt. Kaum ein Haus ist an das Wassernetz angeschlossen und im Sommer ist der Wasserdruck derart gering, dass alle das vielfach teurere Tankwasser kaufen müssen. Polizei, Post, Nothilfe, Feuerwehr – Fehlanzeige.

Selbstermächtigung statt Vormundschaft

Nachdem der alte Raïs Mubarak verjagt wurde, wartet niemand auf den neuen Pharao. Die Bewohner nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Dabei spielt unsere Begleiterin Reda Shukry und ihre Organiastion Al Shehab eine große Rolle. Von linken Aktivisten und Studenten gegründet, mobilisiert diese lokale Organisation für einen kommunalen Kampf, der die Verwirklichung grundlegender Rechte zum Ziel hat. Reda Shukry stammt aus dem nahe gelegenen Nasser City, einem Stadtteil für die (untere) Mittelschicht. Die Aktivisten beobachteten vor zehn Jahren das Entstehen des Elendsviertels und begannen hier zu arbeiten. Es dauerte lange, das Vertrauen der lokalen Gemeinde zu gewinnen. Heute gehört Reda Shukry zu denjenigen, die gerufen werden, wenn die bestehenden Konflikte zwischen Muslimen und Christen, die nach der Revolution durch noch aktive Mubarak- Agenten geschürt werden, ins religiös und ethnisch vielfältige Ezbet Al Haggana überschwappen. Vertrauen gewinnen ist für Al Shehab von zentraler Bedeutung, gerade weil die Organisation nicht karitativ helfen, sondern sozial mobilisieren möchte. Die ansässige Bevölkerung – Christen wie Muslime aus dem bitterarmen ländlichen Oberägypten, Flüchtlinge aus Sudan, Somalia, Palästina oder dem subsaharischen Afrika – muss sich über die althergebrachten familiären oder religiösen Solidargemeinschaften zusammenfinden, wenn Ezbet Al Haggana eine entwicklungsfähige Zukunft haben soll. Al Shehab versteht sich hier als Katalysator. Etwa im Müllsektor. Obwohl die Müllabfuhr mit der Stromrechnung bezahlt wird, bleibt in Ezbet Al Haggana der Müll liegen und wird stattdessen von den Bewohnern verbrannt. Al Shehab propagiert angesichts dieser gesundheitsgefährdenden Misere einen Streik: Keiner soll die Stromrechnungen bezahlen, solange die Müllabfuhr nicht kommt. Gleiches gilt für die Wasserversorgung. Al Shehab konnte mehrere Hundert Familien an das Trinkwassernetz anschließen, indem vor Gericht das Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen eingeklagt und dadurch auch das Hygiene- und Umweltbewusstsein im Viertel gestärkt wurde.

Künftige Kämpfe um Hegemonie

Allerdings: Aus sich selbst heraus können die Bewohner von Ezbet Al Haggana ihre Probleme nicht lösen. Dafür bedarf es grundlegenderer Veränderungen des gesamten politischen Systems. Die eklatante Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist in Ägypten sprichwörtlich und vergrößerte sich durch die wirtschaftliche Privatisierung seit der Ära Sadat, ab Mitte der 1970er Jahre in rasender Geschwindigkeit. Millionen Ägypter leben in auswuchernden inoffiziellen Siedlungen wie Ezbet Al Haggana und ganze Großfamilien leben vom Einkommen weniger Familienmitglieder, die sich als Tagelöhner oder Hausangestellte verdingen. Nur eine kleine Schicht von Neureichen, die in bewachten und staatlicherseits geförderten Luxusbezirken lebt, profitierte von der kleptokratischen Verflechtung zwischen Kapital und Staat, trieb ganze Staatsbetriebe absichtlich in den Ruin, um dann die heruntergewirtschafteten Industrieanlagen mit enormen Profiten weiter veräußern zu können. Im Ägypten nach Mubarak ringen eine liberale Strömung, ein religiöser Block und eine Vielzahl kleinerer linker Parteien um die politische Hegemonie. Alle sind sich einig, dass die allgegenwärtige Korruption beendet werden muss, und auch die religiösen Muslimbrüder scheinen das Konzept einer repressiven Alleinherrschaft verworfen zu haben. Umstritten ist dagegen die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Die Liberalen favorisieren einen modernen Kapitalismus, die Muslimbrüder ziehen ein Konzept der Mildtätigkeit vor, die linken Kräfte fordern stärkeres staatliches Engagement. Doch angesichts des real erlebten korrupten Alltags der ägyptischen Bürokratie scheint es fragwürdig, ob die Mehrheit der Ägypter wieder auf den Staat alleine setzen möchte. Die Selbstorganisation in Ezbet Al Haggana und die Arbeit von Al Shehab könnte dabei ein Vorbild sein.

Projektstichwort

In den Februartagen des Tahrir-Platzes, überbrachte medico 10.000 Euro in bar an unsere Kontakte in der ägyptischen Demokratiebewegung. Was als unmittelbare Nothilfe für die Opfer der politischen Gewalt begann, wollen wir jetzt erweitern. Um die konkrete Arbeit im Slum Ezbet Al Haggana zu ermöglichen und für die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit im neuen Kairo. Das Spenden-Stichwort lautet: Ägypten.

Veröffentlicht am 11. April 2011

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