Die Selbstbemächtigung als Methode der Traumapädagogik

Traumapädagogik in Zeiten des explodierenden Kapitalismus

Vortrag von Wilma Weiss und kritische Würdigung des Eingangsvortrags auf der Fachtagung "Trauma und Politik" am 24.01.2013 im Haus am Dom, Frankfurt. Wilma Weiss ist Leitung des Zentrums für Traumapädagogik der Welle in Hanau.

Als Leiterin des Zentrums für Traumapädagogik vertrete ich die Pädagogik der Selbstbemächtigung als emanzipatorische Methode der Traumapädagogik in Zeiten des explodierenden Kapitalismus. Das ist ein großartiger Titel und das muss es auch erst noch werden. Doch ein minimaler Anfang ist gemacht:

Trauma ist, so lernen wir von der Psychotraumatologie, ein Ereignis oder eine Ereignisfolge, das die Individuen bis in die Grundfesten erschüttert. Zentral ist das Erleben von Ohnmacht, von Objekt sein. Die Aufgabe des Selbst ist der Preis fürs Überleben.

Traumabearbeitung bedeutet deshalb das Herauskommen aus der Erstarrung, die Rückeroberung des Selbst. Die Pädagogik der Selbstbemächtigung beinhaltet das Selbstverstehen, z. B. wie reagieren Kopf und Körper auf traumatische Erlebnisse. Die Psychotraumatologie hat dafür gesorgt, dass diese Kenntnisse uns heute zur Verfügung stehen. Mithilfe dieser Kenntnisse lernen wir uns zu verstehen. Mithilfe der Zurückeroberung der Körperwahrnehmung lernen wir unser Selbst zu spüren. Schritt für Schritt können wir üben, Traumafolgen wie Erstarren, Dissoziieren, Explodieren zu regulieren, die Fernbedienung auszuschalten und wieder unsere eigene Frau und unser eigner Herr, wieder Subjekt zu werden, uns unseres Selbst wieder zu bemächtigen. Und das ist eine Voraussetzung zur sozialen Teilhabe, eine Voraussetzung, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen ich lebe, wahrnehmen und beeinflussen zu können.

Das Konzept des guten Grundes

Traumafolgen, die sekundären Traumasymptome – oder wie immer wir sie nennen – sind normale Reaktionen auf eine große Stressbelastung. Die Traumawissenschaften ermöglichten und ermöglichen die Erkenntnis, dass nicht die Konstitution eines Menschen über seine Probleme und Handlungen entscheidet. Erfahrungen tragen dazu bei, dass Menschen Überlebensstrategien entwickeln, mit denen sie sich selbst und/oder anderen möglicherweise schaden. Also keine Pathologie, sondern die Erkenntnis, der Mensch entwickelt sich immer im Kontext seiner realen Wirklichkeit, in der Traumapädagogik sprechen wir von dem Konzept des guten Grundes. Die Traumapädagogik ist Bestandteil der Psychotraumatologie. Das ist nicht selbstverständlich: einige Mediziner und Psychologen z. B. in psychiatrischen Einrichtungen halten uns für größenwahnsinnig. Mittlerweile ist anerkannt, dass psychosoziale Fachkräfte einen Hauptanteil der Traumaarbeit leisten. Das ist auch eine Chance, da psychosoziale Fachkräfte in der Regel aus anderen beruflichen Traditionen kommen, als Mediziner. Gegenüber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie kommen wir eher aus dem prozesshaften, systemischen Denken. Die Psychotraumatologie ist nicht mehr Herrschaftswissen, das Wissen ist allen zugänglich, ein wichtiger Fortschritt. In unserem und in vielen anderen Konzepten der Traumaarbeit finden wir die Vermittlung des Wissens der Psychotraumatologie und die Überprüfung dieses Wissens mit den Betroffenen, den Experten für schwierige Lebenslagen als wichtigen Baustein der Hilfe.

Trauma ist immer politisch

Da Traumatisierung immer auch ein Erleben von höchster Verlassenheit bedeutet, sehe ich in der Belebung der Gruppenarbeit als Bestandteil von Traumabearbeitung einen wichtigen Beitrag gegen die Individualisierung von Leid. Gruppen ermöglichen es, sich gemeinsam mit den Folgen traumatischer Erlebnisse auseinanderzusetzen und gemeinsam Strategien einzuüben, wie sie sich wieder ihres Selbst bemächtigen können. „Trauma/Traumatisierung stellt nicht nur eine individuelle seelische Störung von Menschen dar, sondern ist als Symptom einer gesellschaftlichen Störung zu begreifen!“, so Magret Dörr auf der Tagung der BAG TP 2011 in Mainz. Trauma ist immer politisch, weil die Beschreibung von Traumata gesellschaftliche Zustände beschreibt, so die Psychotraumatologin J. L. Herman in dem Standardwerk zu Traumata „Die Narben der Gewalt“(1993). Und so hat die Psychotraumatologie viel hilfreiches Wissen und auch Methoden auf den Weg gebracht. Die Schwachstellen einiger Ansätze – zum Beispiel Methodenzentrierung kontra Individualität in der Traumatherapie - werden deutlicher und Veränderungen angestrebt. Allerdings stoßen wir jetzt extrem an gesellschaftlichen Grenzen.

Die Zukunft der Traumaarbeit in Deutschland

Wie wird es in Deutschland angesichts der neoliberalen Globalisierung weitergehen? In der Kinder- und Jugendhilfe warten wir mit hochgezogenen Schultern auf die Auswirkungen der Schuldenbremse. Schon jetzt berichten Einrichtungen davon, z. B. in NRW, dass Kommunen die Unterbringungen einfach nicht mehr bezahlen (im konkreten Fall ca. 200.000 €, für Heime eine große Summe). Wie wird sich unter dem fiskalischen Druck die Traumaarbeit zu einer wirklichen Unterstützung weiterentwickeln können? Und wie wirken die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Entwicklung, die Emanzipation oder Selbstbemächtigung des Einzelnen: Ein rapide anwachsender Anteil von Kindern und Jugendlichen leben in sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen, die bereits frühzeitig Problemlagen implizieren (vgl. Gahleitner/Pauls 2013). Diese ökonomischen und soziokulturellen Veränderungen treffen diese Menschen besonders hart, betreffen allerdings auch immer häufiger breitere Bevölkerungskreise. Und auch ohne direkt betroffen zu sein, wirken die sozioökomischen Veränderungen der neoliberalen Globalisierung auf das psychische Wohlbefinden jeden Einzelnen.

Psychosoziale Fachkräfte befinden sich in einem prekären Spannungsfeld zwischen professionellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Psychosoziale Arbeit war schon mal emanzipatorischer. Ich erinnere an die Gemeinwesenarbeit, an den Arbeitskreis kritische Sozialarbeit, etc. Ich habe anno 1973 an der Fachhochschule für Sozialpädagogik auch Politökonomie studieren können, heute geht es um Evaluationsbögen und Kennzahlen. Wir erleben auch in der Traumarbeit ein Rollback: „Angesichts des fortschreitenden Biologismus in der Psychiatrie und der fortschreitenden Medikamentalisierung der Psychotherapie braucht es Menschen, die zum Bindeglied werden zwischen denen, denen es zunehmend schlechter geht, die psychischer Ungesundheit ausgesetzt werden und den sozialen Begebenheiten, die in dieser Gesellschaft existieren“ (Gahleitner/Pauls 2013, S. 65). Wir, psychosoziale Fachkräfte, müssen uns jetzt immer mehr mit diesem Rollback auseinandersetzen.

Voraussetzungen für eine gute Gesellschaft

Wenn es richtig ist, dass es zum Ethos demokratischer Gesellschaften gehört, traumatisierten Menschen Lebensbedingungen zur (Rück)Gewinnung individueller Autonomie bereit zu stellen (vgl. Prof. M. Dörr, Fachtag BAG TP 2011), dann sind wir wohl auf dem Weg zu einer undemokratischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft stellt immer weniger gute Bedingungen zur Traumabewältigung bereit. Eine Gesellschaft, die die sozialen Bedürfnisse vieler Menschen ignoriert, erschwert damit die Entwicklung von Empathie. Empathie brauchen alle Menschen, Traumatisierte umso mehr. In Veränderung eines Slogans aus den frühen Siebzigern, bzw. der 68er „Das Persönliche ist auch politisch“ möchte ich das heutige Erleben überschreiben mit dem Satz: Das Politische ist auch persönlich.

Was brauchen nun psychosoziale Fachkräfte um gegenseitiges Mitgefühl oder Verständnis entwickeln und halten zu können? Was brauchen wir als psychosoziale Fachkräfte, um das Spannungsfeld von gesellschaftlichen, professionellen Veränderungsprozessen und eigenen fachlichen und menschlichen Ansprüchen wahrzunehmen? Vielleicht sollten wir uns wieder mehr zusammenrotten, so wie wir es heute hier tun, um unsere gesellschaftliche Funktion und unsere Möglichkeiten der Auflehnung zu diskutieren und zu planen. Was bedeutet für uns eine gute Gesellschaft?

„Eine gute Gesellschaft ist eine anständige Gesellschaft, und eine Gesellschaft ist anständig, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen.“ (Margalit 1999).

• Menschen nicht demütigen in menschenunwürdigen Verfahren zur Hilfeerlangung aller Arten.
• Kinder und Jugendliche nicht demütigen, indem ihre Lebensleistung nicht gesehen wird.
• Die Ursache für nicht gelungene oder sagen wir lieber: originelle Anpassungsleistungen nicht pathologisieren.
• Hören wir auf, belastete Menschen zu vereinzeln, indem wir vielmehr Selbsthilfegruppen oder andere Gruppen ermutigen, sich ihrer selbst zu bemächtigen.
• Tragen wir dazu bei, die Verhältnisse, die beengen, Angst und Ohnmacht auslösen, zu dechiffrieren.
Das kann auch bedeuten, dass in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe das Gespräch über die Auswirkungen struktureller Macht auf das Leben der Einzelnen, auf das Leben der Geschlechter und die Suche, Möglichkeiten der Gegenwehr in Strukturen in der Einrichtung und auch im sozialen Umfeld mit den Kindern und Jugendlichen wieder zum pädagogischen Programm wird.
• Entwickeln wir wieder Utopien: Wie kann eine Gegenwart aussehen, eine Welt, in der die physischen und seelischen Grundbedürfnisse der Menschen respektiert werden und traumatisierte Menschen lernen können, sich wieder sicher und selbstwirksam zu fühlen?
• Überprüfen wir die Schwachstellen der Traumaarbeit. Entwickeln wir emanzipatorische Inhalte und Methoden.

Traumaarbeit ist vor allem Selbstbemächtigung in sozialen Beziehungen und bedeutet der politischen Natur von Leid Rechnung zu tragen, ohne psychologische Dimensionen zu verleugnen. Politisch tätig zu werden, sich wehren, aufzustehen ist Traumaarbeit und ist Prävention von individueller und kollektiver Traumatisierung. Ich sehe es als Aufgabe der Traumapädagoginnen und Pädagogen in Kontexten der Traumawissenschaften und in ihren professionellen und sozialpolitischen Bezügen die angesprochenen Haltung und Ansichten immer wieder zur Sprache zu bringen und damit zur Veränderung beizutragen.

Beenden möchte ich meine Ausführungen mit einem Zitat von Paolo Freire:

Will man nicht länger die Beute der Unterdrückung bleiben, muss man sich daraus erheben und gegen sie wenden. Dies kann nur mit Hilfe der Praxis geschehen: durch Reflexion auf die Welt und Aktion an der Welt, um sie zu verändern." (Freire 1973, S. 38).

Literaturangaben:

Dörr, M. (2011): „Das Ethos des sozialen Ortes ‚Heim‘ und die Haltung von PädagogInnen – eine notwendige und doch störbare Einheit“. Tagung der BAG Traumapädagogik 2011, Mainz.
Freire, P. (1973): „Pädagogik der Unterdrückten“. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
Gahleitner, S. B.; Pauls, H. (2013): „Biopsychosoziale Diagnostik als Voraussetzung für eine klinisch-sozialarbeiterische Interventionsgestaltung. Ein variables Grundmodell“. In: Gahleitner, S. B.; Hand, G.; Glemse, R.: Psychosoziale Diagnostik, S. 61 – 79. Köln: Psychiatrie Verlag.
Herman, J. L. (1993). „Die Narben der Gewalt - Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“. Paderborn: Junfermann.
Margalit, A. (1999): „Politik der Würde – Über Achtung und Verachtung“. Frankfurt a.M.: Fischer.
Weiß, Wilma (2013): „Selbstbemächtigung/Selbstwirksamkeit – ein traumapädagogischer Beitrag zur Traumaheilung“. In: Lang, B. et. Al. (Hrsg.): Traumapädagogische Standards in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim: Beltz Juventa.

Veröffentlicht am 05. Februar 2013

Jetzt spenden!