Die neueste Kriegstechnologie zielt auf den Zivilisten

Von Steve Wright

Im folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Artikel von Steve Wright, der am 14. 1. diesen Jahres in le monde diplomatique erschienen ist. Der Artikel legt dar, daß knapp ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Landminen-Verbotsvertrages genau das eintritt, was medico als Begründerin der Minenkampagne immer befürchtet hat: Politik, Militär und Rüstungsindustrie nutzen das Verbot der Mine zur umfassenden Modernisierung ihrer Massentötungsmaschinerien. Besonders perfide ist, daß die Minen durch sogenannte »nichttödliche Waffen« ersetzt werden sollen, die nach den Träumen ihrer Konstrukteure dasselbe leisten, nur effizienter und weniger blutig. Steve Wright zeigt eindringlich, wie sich der politische, technische, aber auch begriffliche Irrwitz »nichttödlicher Waffen« nur nach der Art George Orwells verstehen läßt: Alle Waffen sind tödlich, manche aber sind weniger tödlich als andere.

Im Herbst diesen Jahres wird der Deutsche Initiativkreis zum Verbot von Landminen eine umfangreiche Studie zum neuesten Horrorprojekt des Militärisch-Industriellen Komplexes veröffentlichen.

Am Ende dieses Jahrhunderts gibt es immer mehr Kriege, bei denen die Kampftruppen sich nicht mehr direkt auf dem Schlachtfeld gegenübertreten, sondern sich »menschlicher Schutzschilde« bedienen. Polizei und Streitkräfte mischen sich unter die Zivilbevölkerung, damit sie keine Zielscheibe abgeben. Und Marschflugkörper erweisen sich bei einer Intervention in komplexe innere Konflikte als politisch durchaus primitive Waffen. Grafitfaserbomben mögen die Überlandstromleitungen des Gegners kurzschließen, Streubomben mögen militärische Installationen außer Gefecht setzen, zum Sieg führen sie nicht. Im Gefolge des Kosovo-Kriegs kündigt sich eine Revolution der Militärstrategie an. US-Präsident Bill Clinton servierte dem US-Militär für die nächsten 6 Jahre einen komfortablen Budgetzuwachs von 110 Milliarden Dollar, um die »militärische Einsatzbereitschaft« zu erhöhen. Nach Auffassung von William Hartung vom US World Policy Institute (New York), lässt sich die Höhe des Militärhaushalts von über 260 Milliarden Dollar jedoch nur mit politischen und wirtschaftlichen Argumenten begründen. Eine reale Bedrohung der amerikanischen Sicherheit sei nirgends erkennbar, denn »schon heute übersteigen die US-Verteidungsausgaben um mehr als das Doppelte die Summe der Militärausgaben aller Länder, die als potentielle Gegner der Vereinigten Staaten in Frage kommen. Für Hartung haben die Waffenhersteller einen entscheidenden Einfluss auf die Außen- und Militärpolitik der USA. Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage, welche neuen Waffensysteme zum Einsatz kommen könnten, wenn wir an die militärischen Interventionen des 21. Jahrhunderts denken. Seit Beginn der 90er Jahre haben die US-Verteidigungspolitiker einen neuen Traum: den vom Krieg ohne Blutvergießen. Die zweite Generation von Waffen, die zu nichttödlichen Verletzungen, zu Lähmungserscheinungen oder Bewegungsunfähigkeit führen, entsprangen der Zusammenarbeit von naiven US-amerikanischen Sciencefiction-Autoren wie den Quäkern Chris und Janet Morris mit Futurologen wie Alvin Toffler und dem US-Verteidigungsministerium. Zusammen entwickelten sie eine neue Militärdoktrin »nichttödlicher« Kriegsführung auf der Basis fortgeschrittener »Soft-kill«-Waffen.

Nach Auskunft des US-Verteidigungsministeriums sind diese »Waffensysteme ausdrücklich so konzipiert, daß sie Personen und Material nur kampfunfähig machen, während die Zahl der Todesopfer sowie der Umfang dauerhafter Körper-, Sach- und Umweltschäden minimal gehalten wird«. Die Verfechter der neuen Doktrin räumen allerdings ein, daß die nichttödliche Wirkung dieser Waffen eher Theorie ist, und sprechen daher lieber von »weniger tödlichen« oder »Soft-kill«-Waffen. Die neue Militäroption öffnet der seltsamen Truppe aus Schriftstellern und Militärs die Türen der US-Atomwaffenlaboratorien von Los Alamos, Oakridge und Lawrence Livermore. Das Etikett eines »Kriegs ohne Blutvergießen« konnte dabei kaum verbergen, daß es in mancher Hinsicht nur darum ging, an öffentliche Gelder heranzukommen. Dabei müssen sie eine Reihe von Aufgaben waffentechnologisch erfüllen: ein Gebiet abriegeln, eine Menschenmenge in Schach halten, Einzelpersonen festnehmen und Zivilfahrzeuge anhalten. Das Instrumentarium zur Erreichung dieser Zwecke umfaßt Wuchtgeschosse, die Prellungen verursachen, Wasserwerfer zum Versprühen von Reizstoffen zur Aufstandsbekämpfung, einschläfernde Chemikalien, Blendschockgranaten, Elektroschock-Betäubungswaffen, Schallkanonen, Netzwerfer, die ein Netz über die Zielperson werfen, Schaumwerfer, die klebrige Superpolymere versprühen, elektromagnetische Kanonen, kinetische Waffen, Mikrowellenstrahler, die die Zielperson bei lebendigem Leibe »kochen«, isotropische Blendlaser und nichttödliche Minen. Die hochgeheime Suche nach der unschädlichen Wunderwaffe produziert ein breit gefächertes Arsenal neuer Waffen, die eine medienfreundliche Symptombehandlung sozialer und politischer Probleme versprechen, deren wahre Ursachen aber nicht anpacken.

Das US-Militär räumt bereitwillig ein, daß die neue Doktrin keineswegs tödliche Waffen durch nichttödliche Alternativen ersetzt, sondern vielmehr die militärische Schlagkraft erhöhen soll, und zwar sowohl im Krieg als auch in »anderen Situationen«, in denen Zivilisten zu den Hauptzielgruppen zählen. In der Tat hat die Entwicklung in diesem innovativen Sektor rasche Fortschritte gemacht. Bis 1995 testete die »US Joint Non-lethal Weapons Working Group« verschiedene Geschossarten, die nicht in den Körper eindringen, sondern nur Prellungen verursachen, sowie chemische Reizstoffe, Desorientierungstechnologien, Netzwerfer und Barrieren aus wässrigem Schaum. 1996 erprobte die Arbeitsgruppe weitere Varianten von Netzgranaten mit klebrigen Substanzen, nichttödliche Splitterminen, Wirkstoffe zur Aufstandsbekämpfung, die starke Schmerzen, zeitweiliges Erblinden, Erbrechen oder Erstickungsgefühl verursachen, Schmierstoffe, die allerlei Fahrzeuge außer Gefecht setzen, nichttödliche Minen, die bei Auslösung eine Drahtbarriere entfalten sowie eine Lärmwaffe. Das umfassendste Bild über den Stand der Technik vermittelten indes die beiden Konferenzen über nichttödliche Waffen, die 1997 und 1998 von der Janes Information Group veranstaltet wurden.

Nach Angaben der zuständigen Pentagon-Abteilung, des Joint Non-Lethal Weapons Directorate, war die erste Prioritätenliste für sechs Entwicklungsbereiche nur an staatliche Forschungseinrichtungen adressiert. Diese sechs Bereiche waren: Personen aufspürende Zünder, aufplatzende Geschoßhüllen, abstimmbare nichttödliche Waffen, Abschussvorrichtungen großer Reichweite, unbemannte Fahrzeuge mit nichttödlichen Waffensystemen. Zwei Ausschüsse wählten aus den 63 eingegangenen Antworten drei Projekte aus, die wegen ihrer technischen Eigenschaften und ihrer Anwenderfreundlichkeit gefördert werden sollten: die Entwicklung übel riechender chemischer Substanzen, spezifisch abgestimmt auf verschiedene kulturelle und geographische Umwelten; Spezialfasern für Netzgranaten; nichttödliche elektromagnetische Pulswaffen, um die Bordelektronik von Fahrzeugen lahm zu legen.

Das Programm von 1998 umfasste vier Punkte: variabel abstimmbare nichttödliche Waffen; Abschussvorrichtungen großer Reichweite; »Gap Analysis«; nichttödliche Alternativen zu Antipersonenminen. Hildi S. Libby, die Systemmanagerin des US-Heeresprogramms für nichttödliche Waffen, sprach sich auf der Konferenz von 1997 dafür aus, High-Tech-Waffen zu entwickeln, »die sich in die bestehenden Waffenplattformen integrieren lassen«. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei Munitionssystemen, die geländesperrend wirken. Das ist insofern nicht überraschend, als die Vereinigten Staaten den Vertrag über das Verbot von Antipersonenminen nicht vor dem Jahr 2006 unterzeichnen werden, wenn also die »geeigneten« Alternativen entwickelt sein werden. Als mögliche Alternativen präsentierte Libby folgende Projekte: die nichttödliche Version einer Claymore-Mine, die auf dem Design der tödlichen Antipersonenmine M18 A1 beruht; über diesen Minentyp gibt es so wenig konkrete Daten, daß man nicht genau weiß, welche Wirkung er erzielt. Munition zur Aufstandsbekämpfung, die auf Wuchtgeschossen mit kinetischer Wucht beruht, führten häufig zu inneren Verletzungen, zur Erblindung oder gar zum Tod; eine 66 mm-Munition, eine flexibel einsetzbare Waffe, die im Zusammenwirken mit anderen Systemen eingesetzt werden kann, um eine Menschenmenge in Schach zu halten oder anzugreifen; Abschußkanister für ein Geländesperrsystem, das dazu dient, große Mengen so genannter nichttödlicher Minen, übel riechender Substanzen oder Wuchtgeschosse gegen angreifende Menschenmengen einzusetzen;

eine Antipersonensprengmine, die ein Netz ausstößt und damit das Opfer einfängt; schon getestete leistungsgesteigerte Versionen enwickeln zusätzlich eine Klebstoffwirkung, Schmerz verursachende Irritationsstoffe oder eine Elektroschockwirkung, bei den größeren Versionen kommen dazu noch Rasierklingen, welche die Zielpersonen zwingen, sich völlig ruhig zu verhalten, um weitere Schnittwunden zu vermeiden. Auf beiden Konferenzen der Jane's Information Group wurde weiterhin über eine Vielzahl von unsichtbar wirkenden Waffensystemen diskutiert: über das Vortex-Gewehr, das Schockwellen gegen den menschlichen Körper aussendet, über Schallkanonen, die abgestuft einsetzbar sind: Sie können lediglich »lästige Geräusche« produzieren oder aber »auf 170 Dezibel aufgedreht werden, sodaß sie Organ- und Geweberisse bis hin zu tödlichen Traumata verursachen«, sowie gepulste Hochfrequenzwaffen. Auf der letztjährigen Konferenz wurde in Form einer grafischen Zwiebel ein »mehrschichtiges Verteidigungskonzept« vorgestellt: Die äußeren Schichten bilden die »weniger tödlichen Waffen«, ganz innen sind die letalen Waffensysteme angesiedelt. Die Wirkungsweise wurde mit einem Video demonstriert: Soldaten greifen mit Mikrowellenstrahlern ein, während die begleitenden Ärzte bewußtlose Zielpersonen behandeln, die für die weitere Betreuung dann nach Zivilisten und Militärs, Verwundeten und Toten auseinandersortiert werden.

Abgesehen davon, daß die Ärzte bei dieser Operation womöglich den hippokratischen Eid verletzt haben, lassen sich die offiziellen Behauptungen, niemand sei bei der Übung zu Schaden gekommen, angesichts der strengen Geheimhaltung nicht nachprüfen. Steven Aftergood, Direktor der Federation of American Scientists, geht jedenfalls davon aus, daß hochenergetische Mikrowellen in ganz einzigartiger Weise auf den Menschen einwirken: »Sie attackieren nicht nur seinen Körper, sie durchdringen auch vollständig seinen Geist (...). Sie sollen ihn desorientieren und mental destabilisieren.« Energiewaffen wirken auf das Wärmeregulationszentrum im Gehirn und treiben die Körpertemperatur in die Höhe. So greifen etwa Hochfrequenzwaffen das Zentralnervensystem an. Sie können Hirnsignale für Bewegungen ausschalten, während Laserwaffen zu zeitweiliger Erblindung führen oder durch Auslösung elektrischer Schocks den Körper lähmen bzw. in Zuckungen versetzen können. Zahlreiche NRO‘s haben ihre Einwände gegen die nichttödlichen Waffen formuliert und darauf hingewiesen, daß schon das Wort einen begrifflichen Widerspruch darstellt. Kritiker argumentieren, dass die Einsatzkräfte unter Stress wohl kaum auf Mittel setzen, die ihre »Gegner« lediglich vorübergehend ausschalten, wenn sie auch über die Option einer tödlichen Waffe verfügen. Damit werde aber die Grenze zwischen Aufstandsbekämpfung und Massenhinrichtung verwischt. Diese Waffen verstoßen nicht nur gegen internationale Menschenrechtsbestimmungen, sie können auch unter ganz anderen als den von ihren Erfindern vorgesehenen Bedingungen zum Einsatz kommen. In Ruanda zum Beispiel konnte pro Tag eine solch ungeheure Anzahl Menschen getötet werden, weil die Täter eine bestimmte Lähmungstechnik praktizierten: Zuerst durchschnitt man den Opfern die Achillessehne, damit sie nicht weglaufen konnten, später wurden sie dann in aller Ruhe umgebracht. Durch den Einsatz von klebrigem Schaum, einschläfernden Chemikalien und Betäubungswaffen kann der Ort der Auseinandersetzung zu einer tödlichen Falle werden, wenn man gegen die bewegungsunfähige Menschenmenge anschließend tödliche Waffen einsetzt.

Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, inwieweit diese Waffensysteme internationalen Verträgen und Menschenrechtsvereinbarungen widersprechen. In diesem Sinne prüft das IKRK im Rahmen seines Sirus-Projekts derzeit die Möglichkeit des Verbots von vorgeblich nichttödlichen Waffen, die auf bestimmte anatomische, physiologische und biochemische Angriffspunkte zielen. 1998 behandelte der Grundrechte-Ausschuss des Europäischen Parlaments den Bericht »Bewertung der Technologien für eine politische Kontrolle«, die von der Kommission für Technikfolgenabschätzung des Europäischen Parlaments vorgelegt wurde. Der Stoa-Bericht formuliert folgende Empfehlungen: Die EU soll eine unabhängige Institution beauftragen, objektive Kriterien zur Beurteilung der biomedizinischen Auswirkungen sogenannter nichttödlicher Waffen auszuarbeiten. Sie soll einen Bericht über bestehende Vereinbarungen zwischen der EU und den USA anfertigen lassen. Sie soll Forschungsarbeiten über die angebliche Sicherheit der existierenden Waffen zur Kontrolle von Menschenaufläufen sowie über alle künftigen Innovationen in diesem Bereich veröffentlichen, bevor beschlossen wird, die Sicherheitskräfte mit diesen Waffen auszurüsten. Und sie soll bis zur Fertigstellung dieser Forschungsarbeiten verbieten, daß Polizei, Streitkräfte und paramilitärische Sondereinsatztruppen mit chemischen, kinetischen, akustischen, elektromagnetischen oder Elektroschockwaffen, Netzgranaten, Blendlasern, Schaumsprühgeräten und anderen Lähmungswaffen aus den Vereinigten Staaten oder aus amerikanischer Lizenzfertigung ausgerüstet werden. Bis Ende 1999 sollte auf EU-Ebene ein weiterer Bericht über die Weiterentwicklung und die Typen der Technologien zur Kontrolle von Menschenansammlungen vorgelegt werden, der auch eine Einschätzung der voraussichtlichen gesellschaftlichen und politischen Folgewirkungen enthält. Die einzigen Nutznießer solcher Versuche an lebenden Menschen sind die Produzenten nichttödlicher Kontrolltechnologien, da das wachsende Aufruhrpotential die Nachfrage nach diesen Waffen ständig steigert.

Steve Wright ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der OMEGA-Stiftung, Manchester. Übersetzung: Bodo Schulze.

Veröffentlicht am 01. Juni 2000

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