Die Mühen des Gemeinsamen

Ein Besuch bei der Rikschafahrerkooperative von Dhaka

Es ist Oktober, Ende der Regenzeit, die Temperaturen in Dhaka konstant bei schwülen dreißig Grad. Wir sind in Bangladeschs Megacity, um die Partner von Gonoshastaya Kendra (GK) zu treffen, einer großen, an vielen Orten des Landes aktiven sozialmedizinischen Hilfs- und Entwicklungsorganisation. Treffen wollen wir auch einige der Menschen, denen das neueste Projekt von GK gilt: die Rikschafahrer.

Die Gonoshastaya Rickshawpullers Health Cooperative, die GK mit der Hilfe medicos aufbaut, soll sich zu einer Solidarkasse entwickeln, die den Fahrern und ihren Familien eine medizinische Grundversorgung und damit ein Mindestmaß sozialer Sicherheit gewährt. Uns ist das nicht unbekannt: Im 19. Jahrhundert haben sich die Arbeiter in den damals schnell wachsenden deutschen Großstädten in ähnlichen Vereinen gegenseitiger Hilfe organisiert und damit den Grundstein des hiesigen Gesundheitssystems gelegt.

Die, die zuviel sind

Die Kollegen von GK hatten uns gewarnt. „In Dhaka besteigt man Fahrzeuge nicht, um schneller zu sein als zu Fuß, sondern weil der Weg zum Laufen zu weit ist.“ Im Stadtverkehr kommt unser Wagen nur zentimeterweise voran, der Fahrer kämpft um jede kleine Lücke, nutzt dazu wie alle anderen unausgesetzt die Hupe. An jeder Kreuzung, jeder Straßeneinmündung, überall dort, wo ihre Wendigkeit den Ausschlag gibt, drängen ganze Pulks dreirädriger Fahrradrikschas nach vorn, nutzen dazu auch die Gehwege am Straßenrand. Sie schließen nach hinten mit einer Sitzbank ab, über die sich ein bunt bemaltes, meist nicht mehr funktionierendes Faltdach wölbt. Man sitzt abschüssig in ungesicherter Position, wenn auch um ein Vielfaches bequemer als der schweißüberströmte Rickschawpuller. Der muss, um sein Gefährt überhaupt in Gang zu bringen, aus dem Stand in die Pedale treten. Er zieht dann drei, viermal, fünfmal durch, gewinnt an Schwung, kann sich setzen, muss wieder anhalten. Weil diese mühsame, aufreibende Prozedur im Dauerstau von Dhaka längstens alle zehn Meter wiederholt werden muss, schließen die Fahrer so dicht aufeinander auf, dass sie ihr Dreirad auf das voraus fahrende aufrollen lassen: das spart den Zug an der meist abgefahrenen Bremse.

In Asiens Sprung nach vorn liegt die Stadt an guter Position. Die Wirtschaft boomt, an der Spitze die Textilindustrie, weit oben der Bausektor. Das zahlt sich aus: für die nationalen und internationalen Unternehmen, aber auch für die rapide wachsende Mittelklasse, die ihren Wohlstand im eigenen PKW demonstriert. Ihr Beispiel lockt täglich Hunderte, Tausende von Armen vom Land in die Stadt. „In den 1950er Jahren“, sagt uns Maya Altafunessa, die Direktorin von GK, „hatte Dhaka noch 500.000 Einwohner. Heute leben hier vierzehn Millionen.“ Das sprengt die aus der europäischen Urbanisierungsgeschichte bekannten Dimensionen um ein Vielfaches.

Die Garagen von Adabar

Zu diesen Armen vom Land gehören auch die etwa eine Million Rikschafahrer Dhakas. Sie sind fremd in der Stadt, in der sie deshalb zunächst allein leben, oft allein bleiben. Zwei Drittel von ihnen kehren nach längstens zehn Jahren aufs Land zurück. Die anderen versuchen zu bleiben, gründen eine Familie mit drei oder vier Kindern. Die Hälfte der Fahrer besucht einmal im Monat für zwei, drei Tage die Verwandten im Heimatdorf, an den restlichen Tagen wird gefahren.

Doch sind die Puller anders als die Tagelöhner „Selbstständige“, die ihr Dreirad von einem „Rickshawlord“ mieten, dem sie dafür einen Teil ihrer Tageseinnahmen überlassen. Der Durchschnitt der Fahrer verdient ca. 500 Thaka täglich, eine winzige Minderheit besonders erfolgreicher, wohl auch gerissener Fahrer kommt auf bis zu 800 Thaka am Tag: das sind 8 Euro. Zahlen müssen sie auch für den Schlafplatz, den wiederum der Lord stellt, im oberen Stockwerk seiner „Garage“. Das ist ein zweistöckiger Holzbau mit einem offenen Waschplatz, verqualmter Kochstelle und drei, vier Toiletten. Schlafplatz muss wörtlich genommen werden: Man überlässt die Rikscha dem Fahrer der nächsten Schicht, steigt über eine Holzleiter nach oben, rollt die Matte aus und schläft, nach dem stundenlangen Kampf um jeden Zentimeter eine Sache schierer Erschöpfung. Im offenen Raum ruhen stets auch andere Fahrer, manchmal zehn, manchmal zwanzig; von Moskitos übertragenes Denguefieber ist deshalb eine der häufigsten Erkrankungen. Im Slumviertel Adabar gibt es eine Vielzahl solcher Garagen. Wir sind mit dem Wagen hierher gekommen, zusammen mit dem Arzt Arman, der Soziologin Nusrat und zwei „Promotoren“, die uns mit ihrem chinesischen Elektrobike vorausfahren. Die Kollegen sind auf Werbetour, suchen Mitglieder für die Gonoshastaya Rikshawpullers Health Cooperative. Die hat jetzt rund 700 Mitglieder, soll in der Zukunft auf zwei-, vielleicht dreitausend anwachsen.

Der Jahresbeitrag der Kooperative liegt bei 100 Thaka, die ein Neumitglied nach Möglichkeit bar dem Werber gibt. Im Mitgliedsbuch wird der Name des Fahrers vermerkt, hat er Frau und Kinder, werden sie ebenfalls eingetragen. Mit der Mitgliedschaft erwirbt er das Recht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung in dem achtstöckigen Hospital, das GK im Stadtteil Dhanmondi betreibt. Damit ist allerdings schon einer der Gründe genannt, die dem Beitritt im Wege stehen: zwar grenzt Dhanmondi südlich an Adabar an, doch verlangt der ewige Stau über eine Stunde Fahrzeit.

Wir stehen vor einer Garage, Nusrat erklärt per Megafon die Idee der Kooperative. Bald schon kommt die Frau eines Fahrers und bittet Arman, sich den Klumpfuß ihres Sohnes anzusehen. Natürlich kann der Arzt den Jungen hier nicht behandeln. Trotzdem eine gute Gelegenheit, die Vorteile einer Mitgliedschaft zu erklären. Denn im Gonoshastaya Nagar Hospital könnte der Junge operiert und mit den nötigen Medikamenten versorgt werden. Für sich allein kann sich so etwas in Adabar niemand leisten.

Das Gemeinsame

Der erste Fahrer, der dem Werber seinen Beitrag zahlt, erhält mit dem Mitgliedsbuch eine Baseballkappe, ein T-Shirt und ein Moskitonetz. Allein dass Netz übersteigt den Wert des entrichteten Beitrags, ist deshalb ein handgreiflicher Gewinn und baut das tiefe Misstrauen der Leute ab. Tatsächlich treten in kurzer Zeit zehn Fahrer bei, „nicht schlecht!“, freuen sich die Kollegen. Das Misstrauen der Fahrer ist der Ausdruck ihrer gemeinsamen Lebenserfahrung und ihr wichtigster Schutz – auch wenn es sie zugleich von einander trennt. Denn gemeinsam ist ihnen zunächst nur die rückhaltlose Vereinzelung unter Millionen Fremden: Sie kamen allein vom Land in Stadt, um ein minimales Auskommen zu finden; ihren Platz in der Menge müssen sie erst erstreiten und in Konkurrenz zum jeweils nächsten Armen täglich neu verteidigen. Arm sind drei Viertel aller Bewohner Dhakas – trotz des Wachstums der Mittelklasse. Dabei sind die Rikschafahrer besser gestellt als die Tagelöhner auf dem Bau, rangieren aber noch unter denjenigen, die in der Textilindustrie arbeiten. Die verdienen zwar weniger, sind aber fest angestellt und deshalb immer häufiger gewerkschaftlich organisiert. Das ist es auch, was unseren Partner GK zu den Rikschafahrern geführt hat. Denn mit dem Beitritt zur Gesundheitskooperative sind die Fahrer nicht mehr völlig nur auf sich zurückgeworfen, finden ein erstes Gemeinsames – für 100 Thaka im Jahr, also für einen Euro. So lässt sich der auf den nächsten Tag konzentrierte Überlebenskampf auf eine Zukunft hin öffnen. Denn Gesundheitsvorsorge ist ein Luxus, auf den die Armen in Adabar zumindest heute gut verzichten können: Der Laden an der Ecke verkauft für wenig Geld Schmerztabletten, die tun’s im Notfall auch.

Die Ein-Euro-Mitgliedschaft wird natürlich nicht reichen, und das umso weniger, je mehr der Kooperative beitreten. Auch das erinnert an die Armen im Berlin oder im Ruhrgebiet des 19. Jahrhunderts. Deren Solidarkassen wurden durch die geringen Beiträge einer Mitgliedschaft gespeist, in der die Einzelnen eigentlich nichts zu erübrigen hatten. Um ihr Versprechen einer Gesundheitsfürsorge auf der Basis gegenseitiger Hilfe einlösen zu können, waren die Gesundheitsvereine auf den politischen Kampf der Arbeiterbewegung angewiesen. Durch ihn wurde die Gegenseitigkeit der Hilfe auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt und zum garantierten Recht aller Einzelnen – zumindest im Ansatz. Wenn das unvermeidliche Minus in den Bilanzen der Gonoshastaya Rickshawpullers Health Cooperative durch die Hilfe medicos ausgeglichen wird, markiert dies einen Unterschied zwischen 21. und 19. Jahrhundert. Denn trotz seiner rasanten Ökonomie wird Bangladesch für seine Armen nicht allein aufkommen können. In den Garagen von Adabar wird insofern ein Anfang gewagt, der auf dauerhafte Solidarität angewiesen bleibt.

Projektstichwort

Anders als auf dem Land, kann Gesundheitsfürsorge im städtische Raum nicht auf schon bestehende Gemeinschaft der Betroffenen setzen, sondern muss ein solches Gemeinsames erst schaffen. medico fördert die Rikschafahrerkooperative von Dhaka zunächst mit 50.000€ und wird das Experiment weiter unterstützen. Spenden unter dem Stichwort: Bangladesch.

Veröffentlicht am 09. Dezember 2010

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