Ein Jahr nach dem Aufstand

Die Gewalt der Krise

Die Entwicklungen der letzten Monate haben den Raum für Veränderung verkleinert. Ein Interview mit Lara Bitar und Sintia Issa vom medico-Partner The Public Source.

Vor einem Jahr eroberte die Bewegung im Libanon die Straßen und Plätze des gesamten Landes. Wie ist die Situation heute, ein Jahr danach – einem Jahr, das durch die ökonomische Krise, die Corona-Pandemie und die Explosion vom 4. August gekennzeichnet war?

Lara: Der 17. Oktober 2019 war eine Explosion und Forstsetzung vergangener Bewegungen, eine Akkumulation vorheriger Kämpfe. Gegenwärtig ist die Bewegung aber eher fragmentiert und desorganisiert. Es gibt eine große Müdigkeit, viele interne Konflikte und die Bewegung hat es in der aktuellen Lage nicht wirklich geschafft, eine politische Front zu organisieren, die in der Lage wäre, der fortgesetzten, extrem gewaltsamen Reaktion des Staates zu begegnen und einen politischen Plan zu entwickeln. Die Explosion am 4. August hat letztlich die Bewegung weiter fragmentiert, auch weil ein Teil der frühen Hoffnungen enttäuscht wurden.

Eigentlich müsste der 4. August doch der Bewegung weiter Auftrieb geben, schließlich hat sich doch auf eine traurige Weise vieles bestätigt, wogegen protestiert wurde?

Lara: Ja, aber die Explosion war an allen Fronten verheerend, vor allem für die Moral der Demonstranten. Im Oktober 2019 und in den folgenden Monaten hatten viele das Gefühl, vielleicht zum ersten Mal, dass Veränderung möglich ist. Doch heute setzen die meisten ihre Hoffnung darauf, auf jede erdenkliche Weise aus dem Land zu fliehen - die einzige verbliebene Hoffnung, eine bessere Zukunft zu finden. Es war für viele unmöglich, das Trauma der Explosion und die täglichen Kämpfe um das bloße Überleben abzuschütteln. Gleichzeitig waren die Versuche staatlicher Akteure, die Bewegung mit Gewalt zu kooptieren oder zu neutralisieren, bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. So streikt heute, noch vor Ablauf der Einjahresfrist der Bewegung, eine große libanesische Gewerkschaft, die lange Zeit vom Staat kooptiert worden ist. Sie demonstriert  gegen eine Politik, für die sie selbst mitverantwortlich ist. 

Das klingt sehr pessimistisch.

Sintia: Ja vielleicht. Doch möglicherweise durchleben wir gerade auch den dunkelsten Moment in den letzten 30 Jahren der libanesischen Geschichte. Eine systematisch kaputte Ökonomie und jahrzehntelanger Diebstahl führten zum Bankrott, die Oligarchie transferierte ihr Vermögen ins Ausland, während normale Leute keinen Zugang zu ihren Bankkonten haben. Über 50% der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Corona und der Lockdown haben die wirtschaftliche und finanzielle Situation massiv verschlechtert. Und die Menschen trauern nach dem 4. August; viele sind demoralisiert. All dies wirkt sich natürlich auf die Forderungen und Möglichkeiten der Bewegung aus. Es ist so, dass frühere Forderungen in der gegenwärtigen Situation einfach nicht mehr durchführbar sind.

Als NGO-Mitarbeiter muss ich das fragen: Die große Welle an Spenden und humanitärer Hilfe konnte wahrscheinlich an dieser Krise kaum etwas ändern?

Sintia: Natürlich kommen jetzt Spendengelder und Hilfe ins Land. Aber vor allem kommen neue Sparprogramme und Austerität. Das wird eine Bevölkerung treffen, die bereits mehrfach enteignet wurde und die heute schon nicht mehr in der Lage ist, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. So wird uns die nächste Welle an Sparmaßnahmen vielleicht wirklich das Genick brechen, wenn es nicht eh schon gebrochen ist. Die neuerlichen Sanktionen der USA gegen einige libanesische Politiker und die Gefahr weiterer Sanktionen haben auch gezeigt, wie hoch der Druck des Imperialismus ist, politische Bedingungen der USA und anderer zu erfüllen, Druck, im Prinzip so gut wie alle internationalen Auflagen zu akzeptieren, denn der Libanon ist de facto kollabiert und die Oligarchie sieht keinen anderen Weg, an der Macht zu bleiben, als zu kapitulieren. Das ist ihre Priorität, der alles andere untergeordnet wird, vor allem unsere Lebensgrundlagen, aber auch das, was von unserer Souveränität, unserer Umwelt und unseren öffentlichen Gütern übrig geblieben ist.

Wenn ihr sagt die Bewegung sei ursprünglich auch eine Akkumulation gewesen: Worüber sprecht ihr denn, wenn ihr sagt, heute sei die Bewegung gespalten und zerstritten? Was sind die politischen Räume, in denen das deutlich wird?

Lara: Zu Beginn, in Zeiten des Protestcamps in Beirut downtown, gab es Zelte von zivilgesellschaftlichen und sozialen Organisationen. Hier wurde diskutiert, Wissen ausgetauscht. Es war eine sehr lebendige, vibrierende Situation mit täglichen Begegnungen. Hier wurden auch Pläne geschmiedet und Strategien diskutiert. All das ist jetzt verschwunden. Gelegentlich, seit dem Lockdown Mitte März, wird versucht den Diskussionsraum ins Digitale zu verlegen. Doch leider waren diese Versuche nicht wirklich erfolgreich. Der Schritt ins Digitale hat der Bewegung eher geschadet.

Sintia: Durch die verschärfte ökonomische Krise – mit Lebensmittelpreisen, die sich zum Teil vervierfacht haben – steigt eben auch die Hürde, an solchen Veranstaltungen zu partizipieren. Allein der Zugang zu den dafür nötigen Ressourcen – Internetanschluss, Elektrizität, Computer – ist heute derart limitiert, dass an solchen Diskussionen nur die üblichen Verdächtigen teilnehmen. Man könnte auch sagen: Digitale Verbundenheit ist mehr denn je zu einer Frage der Klasse geworden. Aus diesem Grund vermute ich, dass im digitalen Bereich viele nicht aktiv sind.

Das war auf den Plätzen in downtown ganz anders, hier waren viele einfache Leute – die unteren Klassen – dabei, oder?

Lara: Als wir noch Zugang zu den öffentlichen Orten im Stadtzentrum hatten, war vieles anders. Es waren auch nicht bloß Orte der öffentlichen Debatte, sondern hier gab es auch Solidaritätsstrukturen, die Hilfe bereitstellten. So kamen viele Leute - mit ganz unterschiedlichem sozialen Hintergrund -hierher und unterstützen sich, praktizierten gelebte Solidarität. Weil das Protestcamp ein sicherer Ort für sie war, ein Ort für viele die sonst nirgendwo mehr wirklich willkommen sind. Die gesamte Innenstadt ist stark auf Konsum gedrillt, es gibt nur noch wenig öffentliche belebte Orte, wo man nicht zum Konsumieren gezwungen wird. Die Protestbewegung hat sich einige dieser Orte zurückerobert, und sie für eine kurze Zeit von Orten des Konsums zu Orten der Solidarität gemacht.

Sintia: Ja, sie wurden zurückerobert, wie so häufig in verschiedenen Bewegungen der letzten Jahre. Es sind genau solche Orte, die besonders seit den frühen 90ern immer weniger werden: seit der neoliberalen Privatisierung der Stadt und den damit einhergehenden Landnahmen und Enteignungen zu Gunsten der Oligarchie. Als der Lockdown begann, nutzte die Regierung Corona natürlich, um das Camp und die Zelte endgültig zu zerstören und damit auch die Rückgewinnung dieser Räume zu beenden.

Diese Form von neoliberaler Stadtpolitik ist jetzt auch nach dem 4. August ein großes Thema…

Sintia: Ja, denn die Explosion und die Zerstörung schafft auch ein Feld für neue neoliberale Operationen. Ein Feld neuer ökonomischer Angriffe kann sicherlich der Hafen sein. Gerade im Arbeiter*innen- und Migrant*innenviertel Karantina ist die Gefahr neuer Enteignungen groß und auch allgemein ein neues, dem Wiederaufbauprogramm „Solidere“ aus den 90er Jahren ähnliches Programm eine wirkliche Gefahr. Nach einer Katastrophe - ob Krieg, massive Überschwemmungen oder eine Explosion wie die, die wir am 4. August überlebt haben - gibt es immer jemanden, der das nächste große Geschäft plant. Es werden Fragen wie "Welches Gebäude wird abgerissen und welches bleibt erhalten" entschieden und natürlich stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage dies geschieht. Denn auf diese Weise werden letztlich Menschen vertrieben. Für die Investoren gilt es, Aufträge zu gewinnen, Milliarden zu verdienen und die Stadtviertel umzugestalten.

Kann man sagen, dass die Bewegung nicht nur an internen Fragen gescheitert ist, sondern auch am Gewicht der ökonomischen Krise? Gibt es in einem solchen Kollaps überhaupt einen politischen Raum für Kämpfe um eine beseere Zukunft und um Demokratie? Und wie geht es weiter in der Krisenpolitik?

Sintia: Der Kampf hat auf jeden Fall die gesamte Situation gegen sich. Es gibt eine riesige Unsicherheit in dieser Krise und einflussreiche lokale wie regionale Player, deren ganzes Gewicht auf der libanesischen Situation lasstet. Die politische Situation wird jeden Tag dramatischer und es gibt nicht bloß ein Unglück, sondern eine Vielzahl. Die Verhandlungen finden hinter geschlossenen Türen statt, es ist also nicht ganz einfach eine Prognose zu geben. Aber die Richtung scheint klar: Finanzialisierung, Enteignungen, Privatisierungen und neoliberaler Post-Explosions-Wiederaufbau. Aber das ist natürlich keine Lösung, 

Lara: Ja, die aufeinanderfolgenden und sich überschneidenden Krisen sowie die Explosion und die Pandemie sind  zum Vorteil des Regimes gewesen. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Räume für den Kampf mehr gibt oder dass der Widerstand zum Erliegen gekommen ist. Es bedeutet nur, dass der Kampf um einiges schwieriger geworden ist. 

Gibt es denn überhaupt eine nationale Lösung in dieser Lage?

Lara: Gegenwärtig sind die Möglichkeiten jedenfalls sehr begrenzt. Wir haben die Möglichkeit, entweder zu verhungern oder einfach nur zu hungern. Sogar unsere Vorstellungskraft hat durch unsere Realität einen schweren Schlag erlitten. Es sei denn natürlich, wir denken an eine „wirkliche Revolution“, die die Oligarchie stürzt und enteignet und die natürlich gleichzeitig auch noch eine Front gegen die globale politische Ökonomie sein müsste (lachen beide).

Bleibt denn nicht trotzdem – trotz der politischen Niederlage – nicht einiges übrig von der Bewegung, ein "point of no return",  wie Monika Borgmann von UMAM es in einem medico-Interview sagte?

Sintia: Auf der politischen Bühne wird jetzt darüber diskutiert, ob Ex-Premierminister Hariri zurückkehrt. Jener Hariri also, den die Bewegung aus dem Amt demonstriert hat. Wir stehen also wieder am Anfang. Aber was bleibt, ist ein massive, artikulierte Unzufriedenheit und die wird so schnell nicht verschwinden. Die Wut, die darin zum Ausdruck kommt, kann immer wieder Katalysator für Veränderungen sein. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber es bleibt etwas.

Lara: Ich bin sogar etwas optimistischer als Sintia. Zumindest in den ersten Monaten des Aufstands gab es eine neue Art von „Klassenbewusstsein“ jenseits der religiösen Zugehörigkeiten. Die Menschen haben ein sehr tiefes Verständnis davon entwickelt, wie sehr das klientelistische System ihre Leben beschädigt - dass sie zwar immer wieder von diesen Systemen abhängen, aber dass diese Abhängigkeit mittel-und langfristig weder ihre eigenen noch die Leben ihrer Kinder verbessert. Die Menschen sind also zunehmend gegen diese Systeme, auch wenn sie von ihnen abhängen und in ihnen feststecken. Wenn diese Netzwerke und Systeme nachhaltig unterbrochen und gestört werden, wenn es gelingt, ihre Bedeutung für die soziale Infrastruktur, für einen Platz in der Universität oder im Krankenhaus aufzubrechen, dann kann sich langfristig etwas ändern. Dafür wurde eine Grundlage geschaffen. Die Menschen stellen dieses ökonomische und politische System permanent und selbstverständlich in Frage. Das kann eine Basis sein für vieles in den nächsten Jahren. In den nächsten Tagen werden wir außerdem einen Eindruck bekommen, wo die Mobilisierungsfähigkeit Bewegung heute steht. Es gibt jedenfalls immer noch – trotz der aktuellen Situation– eine gewisse Sentimentalität dem Aufstand im letzten Jahr gegenüber.

Das Interview führte und übersetzte Mario Neumann.

Veröffentlicht am 16. Oktober 2020

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