Der Zerbrochene Rohrstab

Gibt es noch eine Chance für den Frieden für Israel und Palästina?

Von Uri Avnery, Tel Aviv

»Siehe, verläßt du dich auf diesen zerbrochenen Rohrstab, der jedem, der sich darauf stützt, in die Hand dringen und sie durchbohren wird?« So warnte, vor rund 2500 Jahren, ein assyrischer Feldherr den König von Judäa vor Ägypten.

Muslimische Palästinenser kennen das Alte Testament nicht. Sonst würden sie diesen biblischen Ausspruch (2. Könige 18) gegen Amerika anwenden. Arafat ist nach Camp David gekommen, weil Clinton es befahl. Dort spielte Clinton den leutseligen Vermittler, den unparteiischen »honest broker«. Aber schon während der Konferenz behaupteten die Palästinenser, daß Clinton die Vorschläge Baraks als seine eigenen weitergab. Und kaum war das Treffen zu Ende, als Clinton dem israelischen Fernsehen ein von ihm bestelltes Interview gab, in dem er Arafat wütend angriff und Barak in den Himmel lobte.

Von Anfang an hatten die drei Protagonisten dieses Gipfeltreffens sehr verschiedene Ziele. Barak ist ein guter General. Wenn er einen Plan entwirft, hat er immer ein alternatives Ziel vor Augen. Wenn der Hauptplan mißlingt, ist ein zweiter bereit. So auch in Camp David. Der Hauptplan war, natürlich, Arafat zu zwingen, Baraks Vorschlag für eine permanente Lösung anzunehmen. Der Zweitplan war, im Falle des Mißerfolgs Arafat die Schuld zuzuschieben. Der erste Plan ist mißlungen. Der zweite Plan hat sich glänzend bewährt, obwohl Clinton Arafat feierlich versprochen hatte, im Falle eines Mißerfolgs keiner Seite Schuld zu geben. Barak – und nur er – wollte ein Gipfeltreffen, um Arafat in einen Nußknacker zu zwingen. Auf der einen Seite Barak, auf der anderen Clinton. Von Tag zu Tag wurde der Druck stärker. Aber Arafat, eine harte Nuß, hielt Stand.

Warum ist Arafat überhaupt gekommen? Er konnte nicht anders. Er hatte keine Illusionen, aber im Kampf um die Weltöffentlichkeit, kurz vor den Datum, an dem er den Staat Palästina ausgerufen will, konnte er sich nicht weigern, zu verhandeln. Schon seit Jahren war es eines der wichtigsten strategischen Ziele Arafats, die einseitige, pro-israelische Politik Amerikas zu verändern. Es sah so aus, als wäre das gelungen. Bevor sie daran dachte, sich als Senator von New York wählen zu lassen, sprach Hillary sich eindeutig für einen Palästinastaat aus. Auch Bill hat sich im Laufe der letzten Jahre der palästinensischen Sache genähert.

Arafat wußte natürlich, daß vor den Wahlen in Amerika Clinton praktisch ein Geisel Baraks ist. Seine Frau ist in New York auf die jüdischen Stimmen und Spenden angewiesen, und ebenso Al Gore im ganzen Land. Es konnte für Clinton gar nicht in Frage kommen, irgend etwas zu tun, das anti-israelisch aussehen würde. Darum konnte Clinton auch Barak nicht ein Gipfeltreffen verweigern, obwohl der Erfolg von Anfang an zweifelhaft war und er keine Lust hatte, sich noch am Ende seiner Amtszeit zu blamieren. Trotzdem hätte er doch gerne einen Nobel-Friedenspreis ergattert. So kam das Treffen zustande.

Barak glaubte, daß er Arafat ein Abkommen aufzwingen könnte. Er weiß, daß Arafat die Anerkennung des Staates Palästina durch Israel und Amerika sichern möchte. Darum war Barak sicher, daß Arafat logischerweise für diesen großen Preis alles andere opfern würde. Auch Jerusalem. Auch den Tempelberg. Um ihm das zu erleichtern, haben Baraks Gimmickschmiede eine ganze Anzahl von Tricks erfunden: Abu Dis (ein armseliger Ort in der Nähe Jerusalems) könnte als eine Art Ersatz-Jerusalem die palästinensische Hauptstadt werden; der Tempelberg könnte den exterritorialen Status einer Botschaft genießen; arabische Stadtviertel könnten eine »erweiterte Autonomie« genießen; man hat sogar eine »teilweise Souveränität« erfunden. Alles, außer das Eine, das alle Palästinenser fordern: Souveränität über das ganze arabische Ost-Jerusalem als Hauptstadt ihres Staates.

Unglücklicherweise hat Barak keine Ahnung von der Geisteswelt der Palästinenser. Der ehemalige Generalstabschef kennt die Palästinenser nur als Untertanen der israelischen Militärdiktatur in den besetzten Gebieten. Seine einzigen Ratgeber sind Armeeoffiziere und Geheimdienstler, die die Palästinenser nur von oben herab sehen. Darum ignorierte Barak eine wichtige Tatsache: kein arabischer Führer, und sei er noch so stark, kann auch nur daran denken, auf eine arabisch-muslimische Souveränität über die zwei heiligen Moscheen auf dem Tempelberg zu verzichten. Dazu kommt die Herrschaft über die Jerusalemer arabischen Stadtviertel, die 1967 von Israel annektiert worden sind, und in denen jetzt 200 000 Palästinenser leben. Das hätte Barak wissen müssen.

Wenn er nicht bereit war, das anzunehmen, war das ganze Treffen nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich. Es stimmt, daß Barak in Camp David weiter gegangen ist, als je ein anderer israelischer Ministerpräsident. Er hat den Rand des Abgrundes erreicht, den er überspringen muß. Aber dann wagte er nicht, den Sprung zu machen. In einer ähnlichen Lage ist de Gaulle gesprungen. Ist Ben Gurion gesprungen. Ist sogar Begin (am selben Ort) gesprungen. Barak hat im entscheidenden Augenblick versagt. Hic Rhodus, hic salta. – Man sagt, daß das Treffen doch erfolgreich war, weil in Israel der »nationale Konsens« über Jerusalem endgültig zerbrochen ist. Es stimmt, daß die Mantra »vereinigtes Jerusalem ewige und alleinige Hauptstadt Israels« mit großem Getöse eingestürzt ist. Aber dieser Konsens war schon seit langem eine Fiktion. Jeder Israeli weiß, daß das arabische Ost-Jerusalem eine andere Stadt ist. Kaum ein Israeli betritt sie, die meisten Israelis wissen noch nicht einmal, wo die Viertel liegen, über die jetzt so wütend gestritten wird.

Natürlich geht es nicht nur um Jerusalem. Es geht um Grenzen, Siedlungen, Flüchtlinge, Boden, Wasser. Um die Problematik zu verstehen, muß man bedenken, daß Israel vor 1967 schon 78% des ehemaligen Landes Palästina in den Händen hatte. Es geht jetzt um die restlichen 22%. Über die möchte Israel einen »Kompromiß« schließen, während die Palästinenser behaupten, daß die Abgabe von 78% schon Kompromiß genug ist. Barak will sogenannte »Siedlungsblocks« annektieren. Man spricht von 10% und sogar nur 5% des Westjordanlandes. Das klingt gemäßigt, ist aber irreführend. Wenn man die verschiedenen Territorien zusammenfügt, die Barak behalten will – darunter auch die Siedlungen um Jerusalem herum und das Jordantal, das er für 100 Jahre »pachten« will – dann kommt man leicht auf 30% des Westjordanlandes. Damit wäre der Palästinastaat auf 16% des ursprünglichen Landes Palästina zusammengeschrumpft. Auch das ergibt nicht das richtige Bild. Denn dieses Restgebiet ist durch die Siedlungsblocks und »Umgehungsstraßen« so zerstückelt, daß es am Ende wie ein verrückter Salamander aussieht. Für die Palästinenser wäre das eine Karikatur ihrer nationalen Bestrebungen. So ein Abkommen wäre ein neuer Versailler Vertrag. Er würde keinen Frieden bringen. Wenn Barak die Statur hätte, die er gerne haben möchte, müßte er jetzt der Öffentlichkeit erklären: der Preis eines wirklichen Friedens ist ein Palästinastaat im ganzen Westjordanland und Gazastreifen, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Die Alternative ist ein neuer Krieg, vielleicht ein ewiger Konflikt. Wenn ihr diesen Frieden wollt, werde ich ihn bringen. Wenn nicht, macht euch euren Kram alleine. Ich gehe nach Hause. Wie Luther im historischen Augenblick: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.« Leider ist Barak kein Luther. Er hat Angst vor der eigenen Courage. Er ist ein General. Nur ein General.

Wie wird es jetzt weiter gehen?

Gibt es noch eine Chance für den Frieden? Nach dem unglückseligen Treffen sind einige Sachen passiert, und sie sind alle negativ. Erstens: Clinton hat dem israelischen Fernsehen das skandalöse Interview gegeben, in dem er sein Versprechen, keiner Seite Schuld zu geben, zynisch gebrochen hat. Er verhimmelte Barak, beschuldigte allein Arafat, drohte, die Palästinenser wirtschaftlich zu erdrosseln wenn sie ihren Staat ohne amerikanische Genehmigung ausrufen. Mehr als das: er versprach, die jüdischen Einwanderer aus den arabischen Ländern, die in den 50 Jahren nach Israel gekommen sind, auf Kosten der palästinensischen Flüchtlinge zu entschädigen; sowie der israelischen Armee neue Waffengattungen zu gewähren und – das allerschlimmste – die amerikanische Botschaft von Tel-Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Das ist praktisch eine Kriegserklärung an das palästinensische Volk. Damit ist auch die amerikanische Vermittlerrolle zu Ende. Kein Palästinenser kann jetzt noch glauben, daß die Amerikaner unparteiisch sein könnten.

Zweitens: Barak hat eine Rede gehalten, in der er versprach, nicht nur die Sicherheit Israels zu beschützen, sondern auch »Israels Heiligtümer«. Diese etwas mittelalterlich anmutende Erklärung war schon erstaunlich. Er fügte aber noch hinzu, daß den Muslimen zwar die Moscheen auf dem Tempelberg gehören, daß aber unter ihnen der Tempel begraben ist, der den Juden gehört. Das hat bei vielen Palästinenser beinahe Panik ausgelöst. Sie stellen sich vor, daß die Israelis, falls der Tempelberg in ihre Hände fällt, die Moscheen demolieren werden, um ihren Tempel auszugraben und wieder herzustellen.

Drittens: Shimon Peres hat unglaublicherweise die Wahl zum Staatspräsidenten in der Knesset zugunsten eines Niemand verloren. Für Arafat bedeutet das, daß in der Knesset keine Mehrheit für einen Kompromiß besteht. Es könnte also passieren, daß er, Arafat, Zugeständnisse macht, die innenpolitisch für ihn gefährlich sind, und daß danach das Abkommen von der Knesset abgelehnt wird. Auch ein Volksentscheid kann in Israel ohne Knessetbeschluß nicht stattfinden. Die einzige Möglichkeit wäre dann, Neuwahlen auszurufen, aber die Wiederwahl Baraks ist absolut nicht sicher.

Vorläufig macht Arafat gute Miene zum bösen Spiel. Er und alle seine Leute drücken sich optimistisch aus, keine Drohungen werden ausgesprochen, sogar Clinton wird nicht angegriffen. Warum? Die palästinensische Führung bereitet sich darauf vor, vor Ende 2000 den Staat Palästina auszurufen. Bis dahin will man Sympathie in der Welt gewinnen, die Anerkennung der Regierungen – besonders in Europa – sicherstellen. Vielleicht sogar dem Frieden noch eine Chance geben. Das ist aber zeitlich begrenzt. Wenn nicht ein Wunder geschieht – und Wunder können in diesem Land immer geschehen – wird es zu einer neuen blutigen Auseinandersetzung kommen. Hunderte, vielleicht Tausende, werden umkommen. Und dann wird man wieder vor der selben Wahl stehen, wie jetzt: den vollen Preis für einen wirklichen Frieden zu zahlen, oder den Konflikt zu verewigen. Nur eins ist klar: das zerbrochene Rohr, Amerika, wird dabei keine positive Rolle spielen.

Veröffentlicht am 26. August 2000

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