medico: Der Name unserer Vorlesungsreihe „Turbulente Psyche[n]“, zu der wir dich eingeladen hatten, war Programm. Warum konntest du nicht an der Auftaktveranstaltung teilnehmen?
Rita Segato: Mein Fall ist nur einer unter Millionen, in denen die Pandemie nicht nur Kopfzerbrechen sondern regelrechte Kopfschmerzen verursacht. Ich hatte schon seit einiger Zeit zugesagt, ein Seminar zu dekolonialem Feminismus und über die Kolonialität der Macht in Princeton zu halten. Im ersten Jahr der Pandemie konnte ich wegen der Pandemie gar nicht reisen. Nun hatte sich die Möglichkeit wieder ergeben und das Seminar in physischer Präsenz zu geben.
Aber in Argentinien wurde ich mit dem Sputnik-Impfstoff geimpft. Und mit Sputnik darf man nicht in die Vereinigten Staaten reisen. Also begann ich, alle meine Freund:innen in vielen Ländern anzuschreiben und nach einem Ort zu suchen, an dem ich mich mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson impfen lassen kann. Kolleg:innen und Freund:innen aus Brasilien schrieben mir schließlich, dass eine Ladung Impfstoffe in Foz do Iguaçu im Südwesten Brasiliens angekommen sei.
Das bedeutet für mich, dass ich von meinem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Argentinien, Chile und Bolivien mehrere Stunden lang in die Hauptstadt der Nachbarprovinz fahren musste, von wo es einen Direktflug nach Puerto Iguazú gibt, das aber noch in Argentinien liegt. Von dort aus habe ich die Grenze nach Foz de Iguazú überquert und konnte am folgenden Tag geimpft. Am Tag darauf ging es dann den gleichen Weg zurück – und eben diese Rückreise kollidierte mit der Veranstaltung. Das war durchaus turbulent.
Vor einem Jahr haben uns deine Überlegungen, wie die Pandemie dazu führt, dass die Vulnerabilität des Lebens gnadenlos offengelegt wird, zur Konzeption der Vorlesungsreihe inspiriert. Wie siehst du das heute?
Die Pandemie ist wie ein Scanner: Sie offenbart unaufhörlich die Zerbrechlichkeit unseres Lebens und unserer Lebensweise. Was ich an dieser Pandemie schätze, ist die Ungewissheit, die sie hervorruft. Sie führt uns vor Augen, dass Zeit auch Ungewissheit bedeutet. Für Europäer:innen ist das sicher noch ein stärkerer Einschnitt, da die europäische Moderne immer Sicherheit und Gewissheit sucht und so auch die Europäer:innen. Mit anderen Worten: Präzision bei Projekten, Präzision bei Plänen. Die Pandemie zeigt, dass dies nicht möglich ist, dass es wichtig ist, die Zeit zu respektieren. So kam die Pandemie also ins Spiel, um unsere Gewissheiten zu erschüttern und uns die Unvorhersehbarkeit der Zeit bewusster zu machen. Ich nenne das jetzt Zeit. Aber was ich damit meine, sind eben auch Möglichkeiten dessen, was zu Geschichte werden kann – nicht nur das, was passiert ist bzw. passiert, sondern auch all das, was passieren könnte.
Die Zeit ist voller Ungewissheit. Und das hat die Moderne abschaffen wollen. Warum? Sie wollte die Zeit zu einer Ware machen, die man kaufen und verkaufen kann. Die Pandemie traf nun auf eine ideelle Landschaft, in der uns die Vorstellung von der Kontrolle über die Zeit und über das Leben verkauft wurde. Und dann wurde deutlich: die Botschaft, die wir alle verinnerlicht haben – dass alles unter Kontrolle ist – ist schlichtweg falsch. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Denn vor der Pandemie wurde uns gesagt, dass bestimmte Veränderungen, zum Beispiel im Geschäftsleben, im produktiven Leben, unmöglich seien – weil so eben die Gesetze des Kapitals seien. Mit anderen Worten: Das Kapital legte die Gesetze für das Zusammenleben fest – und sie wurden befolgt.
Nun plötzlich, als die Pandemie auf den Plan tritt, bewegt sich etwas. Um es metaphorisch zu sagen: Es wurden quasi einige Schlüssel im Schloss gedreht und zentrale Funktionen im Kapitalismus ausgesetzt. Die Fluggesellschaften wurden lahm gelegt, der internationale Reiseverkehr, der Zugang zum Erdöl, die Arbeitszeiten – all das, von dem man sagte, es sei unantastbar und unverrückbar. Daran zu rütteln hätte geheißen, die Gesetze der Wirtschaft zu verletzen, die regelt was wir kaufen und verkaufen, produzieren, kalkulieren, usw. All das brach plötzlich zusammen, weil eine Reihe von politischen Behörden über Nacht metaphorisch ihre Schlüssel gedreht haben.
Das ist der positive Teil, den ich aus der Pandemie mitnehme: Ich neige dazu, optimistisch zu sein und versuche immer, die gute Seite der Katastrophe zu sehen.
Bleibst du optimistisch?
Es ist und bleibt meine Überzeugung, dass die Pandemie mindestens drei Möglichkeiten eröffnet hat: Erstens, dass alles wieder so wird, wie es war. Es könnte eine Rückkehr zum Gleichen geben. Zweitens, dass es viel schlimmer kommen wird – weil die Konzentration des Kapitals in der Zeit der Pandemie zugenommen hat. Die Reichen wurden noch reicher.
Die dritte Möglichkeit ist, dass die Welt nach der Pandemie diese Lektion lernt und demokratischer wird. Es könnte neue demokratische Strukturen der gegenseitigen Hilfe und des Wiederaufbaus von solidarischen Gemeinschaften und Lebensweisen geben. Darauf hoffen einige und das konnte man an einigen Orten sehen, sogar in meinem eigenen Viertel in Buenos Aires. Menschen, die sich vor der Pandemie kaum grüßten, wenn sie ihre Häuser verließen, begannen einander anzusehen und zu verstehen, was verschiedene Menschen brauchen: die Nachbar:in, die ältere Person, die Person mit Kindern. Es entstanden Formen der gegenseitigen Hilfe: Formen der Lieferung und Verteilung von Lebensmitteln in der Nachbarschaft. Das wird es auch weiterhin geben. Weil es praktisch ist.
In den „Turbulenten Psyche[n]“ haben wir uns auf die psychosozialen Dynamiken in der Pandemie konzentriert, angefangen bei den Ängsten.
Ich habe einmal in einem Buch über Erziehung gelesen, dass es ein Zeichen von Intelligenz ist, wenn ein Kind ängstlich ist. Angst führt dazu, dass man vorsichtig ist, was eine gute Eigenschaft der Angst ist: Man braucht nicht mit dem Kopf gegen eine Wand zu stoßen, um zu wissen, dass dort eine Wand ist. Stattdessen ist es der Angst zu verdanken, dass man auch politisch umsichtig wird: Man kämpft für Maßnahmen der Absicherung, man erstreitet Gesetze und erkämpft gesellschaftliche Schutzmechanismen.
Nur gibt es eben auch eine Angst, die lähmt. Eine Angst die als Vorwand dient, um sich von der Welt zurückzuziehen, um keine Risiken einzugehen. Aber ich sage, „man kann nicht sterben, bevor man tot ist“: Es gilt im Leben, ständig auf die Gegenwart und in die Zukunft zu schauen. Das bedeutet auch, die Verpflichtung zu erfüllen, die man dieser Welt gegenüber hat – nämlich progressive Schritte zu machen. Abgründe gibt es immer, und trotzdem ist es notwendig, weiter zu gehen.
Zwischen Menschen gibt es große Unterschiede in ihrem Verhältnis zur Angst vor der Pandemie. Es gibt Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit viel bewusster sind. Und andere, die sich ihrer Verletzlichkeit viel weniger bewusst sind.
Bei deinem Beitrag auf der (Re-)Konstruktionskonferenz im Frühjahr 2021 hast du über die Abwehrmechanismen gesprochen, die sich gegen die Angst und die Entblößung der Verletzlichkeit manifestieren.
Dazu will ich etwas berichten, was schon viel länger zurück liegt: In Brasilien gab es Ende des 19. Jahrhunderts die so genannte „Impfstoffrebellion“. Damals versuchte man, die schwarzen Bevölkerungsgruppen gegen, ich glaube es waren die Pocken zu impfen. Aber die Menschen rebellierten und das ist absolut verständlich, denn sie hatten Angst. Angesichts der Sklaverei und der Völkermorde hatten sie erlebt, wie ihre Familie und ihre Vorfahren misshandelt und ermordet wurden. Also vertrauten sie weder dem Staat, noch dem öffentlichen Gesundheitssystem. Warum sollten sie?
Nun reagiert aber ein relevanter Teil der Bevölkerung in einem Land, das die Wiege der Wissenschaft ist – wie Deutschland – in der gleichen Weise auf wissenschaftliche Erkenntnisse wie die schwarze Bevölkerung, die gerade aus der Sklaverei herausgekommen ist. Wie kann es ein solches Misstrauen in diesem Land geben, in dem es so viele wissenschaftliche Entdeckungen gab? Das sind keine Menschen, die sich gerade aus der Sklaverei befreit haben und befürchten, dass ein mörderischer Staat – ein völkermordender Staat – sie umbringt, sie mit dem Impfstoff ausrottet. Ich würde mich freuen, wenn mir jemand diesen Unglauben, diese Leugnung der Wissenschaft in der Wiege der Wissenschaft erklären könnte.
Gegenfrage: Wie würdest du das erklären?
Eines der Dinge, die mir an der Gegenwart auffallen – und das gilt, denke ich, weltweit – ist, dass es ein riesiges Vorkommen von Hass und Ressentiment gibt. Und wenn ich von Ressentiments spreche, dann meine ich eigentlich immer Ressentiments, die sich in Politiken niederschlagen bzw. politisch genutzt werden. Eine er großen Fragen, die ich mir stelle, lautet: Woher kommt das massive Ressentiment heute? Ich sehe so viel Hass und Groll mit globalem Ausmaß, der für rechtsextreme Politik und das Wiederaufleben des Faschismus zur Verfügung steht. Warum hassen die Menschen heute so sehr? Warum sind die Menschen so voller Groll? Was erzeugt Frustration? Was führt also zu Ressentiments und was ist deren wirtschaftliche Grundlage?
Wenn wir an den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus denken, dann war der Nationalsozialismus auch massiv auf Ressentiment gebaut, das – soweit ich es verstanden habe – kurz nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg entstand und geschürt wurde: Die Niederlage in einem Krieg und die Gefühle der Unterlegenheit wurden zur zentralen Quelle tiefer Unzufriedenheit und zum Nährboden für Ressentiment und Hass. Heute müssen wir sie besser verstehen.
Und hier habe ich eine Beobachtung gemacht: Wer ist heute voll lebendig? Als Messlatte für das Leben der Menschen wurde die Figur des Helden bzw. der Heldin angelegt: Der Held und die Heldin, das sind Menschen, die medial inszeniert werden und im öffentlichen Leben bzw. in der öffentlichen Wahrnehmung existieren. Für viele Menschen ist ein solch inszeniertes Leben die volle Existenz. Die aber gibt es im „realen Leben“ nicht: es gibt also ständig ein Versprechen, das die Moderne macht, das sich aber nicht erfüllt. Es geht bei diesem Versprechen nicht bloß darum essen, sich einkleiden, einkaufen zu können oder auf die eigene Gesundheit zu achten. Es geht um etwas anderes: um die Form der vollen Existenz. Das hat vor allem die jüngere Moderne versprochen. Dass sie es nicht hält ist eine ständige Verunsicherung der Subjekte. Ich bin der Meinung, dass wir Dynamiken wie diese beobachten und verstehen müssen, um die massiven Ressentiments zu verstehen, die in Hass umschlagen, der sich in politischen Hass verwandelt.
Manche sagen, diese Verunsicherung hätte mit dem Feminismus zu tun und würde die Männlichkeit angreifen.
Ich akzeptiere die These nicht, dass die Männlichkeit durch den Feminismus angegriffen wird. Zweifellos gibt es Formen der Entmannung im Bestehenden – nämlich durch die Auslösung von Gewalt, die Möglichkeiten von Männern beschneidet. Wenn ich aber von Gewalt spreche, verbinde ich das keinesfalls mit etwas, was feministische Bewegungen auslösen. Die Anforderungen zu erfüllen, die an Männlichkeit gestellt werden und es nicht zu können – das mag eine Form der Entmannung sein. Aber ich sehe nicht, dass das was eine Möglichkeit vereitelt, etwas mit Feminismus zu tun hat. Stattdessen sind es die wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart und eben auch die Frustration, in dieser Gegenwart nicht existieren zu können – im Sinne einer vollen modernen Existenz. Das ist im Kapitalismus eingeschrieben und das führt auch zu Ressentiments.
Wenn du vom heutigen Kapitalismus sprichst, dann sprichst du von ihm als „apokalyptischem Kapitalismus“. Was meinst du damit?
Ich spreche von der apokalyptischen Phase des Kapitals, weil ich sage, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ausreicht, mit dem Vokabular der 1960er und 70er Jahre von „Ungleichheit“ zu sprechen.
Ich verbinde die apokalyptische Phase des Kapitals ganz zentral damit, dass wir heute mit einer Welt der Eigentümer konfrontiert sind – wie eine große Refeudalisierung der Welt, allerdings mit weniger kommunalen Räumen als im Mittelalter und mit viel gigantischeren Lehnsgüter. Es gibt keine wirklichen Gesetze, die die Eigentümer kontrollieren und einhegen könnten, weil sie Macht und Kapital in extremer Weise angehäuft haben. Und eben auch Land. Wir können auf dem Planeten nicht nur die krasse Akkumulation von Kapital sehen, sondern auch eine riesige Aneignung und Anhäufung von Grund und Boden. Wir befinden uns in einem Moment in dieser Phase des Kapitals, das sich in der Aneignung des gesamten Lebens als bloße Sache ausdrückt.
Das ist deine Definition der „Pädagogik der Grausamkeit“, richtig?
Ja, das stimmt. Da werde ich oft falsch zitiert – weil die Leute nur den Titel lesen und sagen, „die Pädagogik der Grausamkeit ist der Grund, warum wir grausam sind“. Aber das ist es nicht. Die Pädagogik der Grausamkeit bezieht sich auf all das, was uns darauf programmiert, das Leben als eine Sache zu sehen und damit sowohl das Leben als auch menschliche Körper zu verdinglichen. Und diese Verdinglichung des Lebens und der Körper beginnt in der Phase der Eroberung und Kolonisierung des amerikanischen und afrikanischen Kontinents: In diesem Prozess kommen die sogenannten Entdecker von dort nach hier. Sie sehen ein Universum, das sie nicht verstehen. Die einzige Möglichkeit des Zugangs besteht darin, es als einen Schatz zu betrachten, den man sich aneignen kann. Und damit beginnt eine entmenschlichende, verdinglichende, eine grausame Phase. Grausamkeit ist auch eine Form der Persönlichkeit, die es den Subjekten ermöglichen, das Leben wie eine Sache zu behandeln.
Das ist apokalyptisch, weil es im Kapitalismus – trotz der großen Aneignung von Ungleichheiten – dennoch gewisse Regulierungen gab. Aber diese Regulierung des Kapitals ist verloren gegangen, denn die extreme und immer schnellere Konzentration des Reichtums macht es unmöglich, die Handlungen der mächtigsten Eigentümer der Welt zu regulieren. Im apokalyptischen Kapitalismus ist es kaum noch möglich, Rechtsvorschriften wirksam zu machen und den Eigentümern – den Herren der Welten – Grenzen zu setzen. Das ist apokalyptisch – möglicherweise so, wie man sich das Ende der Welt aus mittelalterlicher Sicht vorgestellt hat.
Um auf den Anfang des Gesprächs und den Optimismus zurückzukommen: Die apokalyptische Erzählung enthält doch auch immer ein gewisses Moment der Utopie, oder?
Wir leben, weil wir Hoffnung haben. Es gibt immer Zwischenräume, die über die Gegenwart hinausweisen.
Das Interview führte Julia Manek.
Die Ringvorlesung Turbulente Psyche(n) erkundet globale Affektpolitiken und psychosoziale Kämpfe um Gesundheit und Gerechtigkeit in pandemischen Zeiten. Die Veranstaltungsreihe wagt einen globalen Blick auf neue Subjektivierungen. Sie fragt danach, was die Pandemie mit „uns“ gemacht. Gleichzeitig geht es um die Differenzierung eben jenes „wir“ und dessen extrem unterschiedlichen Formen von Subjektivierung. Wer werden „wir“ geworden sein?