Interview

Affekte am Werk

Usche Merk und Julia Manek bilden bei medico das Tandem für Psychosoziale Arbeit und haben die Reihe „Turbulente Psyche(n)“ zu den Folgen der Corona-Pandemie organisiert.

medico: Was hat euch dazu gebracht, die Pandemie hinsichtlich ihrer affektiven Wirkungen auf Individuen und Gesellschaften zu beleuchten?

Julia Manek: Das Virus hat in der Breite der Gesellschaft große Angst erzeugt. Sehr schnell sind aber auch Angstabwehr, Leugnung und Verschwörungsmythen aufgetaucht. In Deutschland haben sie die Straße erobert, etwa in Brasilien sogar die Regierungspolitik bestimmt. Offenkundig waren Affekte am Werk, die Ventile gesucht haben. Gleichzeitig hat die Pandemie auch Dinge ausgelöst, die niemand für möglich gehalten hatte. „Und plötzlich stand der Kapitalismus still“, so sagte es Rita Segato. Und es gab auch vielfältige solidarische Erfahrungen wie kollektive Trauer und gegenseitige Fürsorge. Diese paradoxen Gleichzeitigkeiten wollten wir verstehen.

Die meisten der Redner:innen, darunter viele bekannte Namen, kamen aus antirassistischen und feministischen Spektren. Wie kam das?

J.M.: Vor und auch während der Pandemie waren sowohl die Black-Lives-Matter-Bewegungen als auch die weltweiten feministischen Aufbrüche sehr präsent und wirkmächtig. In diesen Kämpfen werden auch viele Entwicklungen in der Corona-Krise thematisiert. So nahm weltweit patriarchale Gewalt zu, verfestigten sich patriarchale und rassistische Ökonomien und wurde hierarchisiert, welches Leben wie schützenswert ist. Auch die genannten Erfahrungen in der Pandemie – von kollektiver Trauer und Wut über Sorgearbeit bis zur Schaffung von sicheren Räumen – schließen an Positionierungen an, die in antirassistischen und feministischen Bewegungen zentral sind.

Habt ihr bei den Vorlesungen denn den Eindruck gewonnen, dass die Pandemie global wirklich eine gemeinsame Erfahrung ist?

Usche Merk: Tatsächlich gab es vielerorts ähnliche Entwicklungen. Das Ausmaß und die konkreten Folgen unterscheiden sich aber sehr. Während hierzulande über Tests, FFP2-Masken und Impfungen gestritten wurde, sind diese Produkte andernorts für die Breite der Bevölkerung bis heute nicht verfügbar. Und wenn Mpumi Zondi aus Südafrika berichtete, dass der Lockdown für Menschen in den Townships bedeutete zu hungern und durch Militär kontrolliert zu werden, hat das wenig mit den Lockdown-Erfahrungen der dortigen und hiesigen Mittel- und Oberschicht zu tun. Auch die ökonomischen und politischen Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfung unterscheiden sich. Anders gesagt: Das Leid, das die Pandemie verursacht hat, ist nicht überall das gleiche Leid.

Gleichwohl hat die Pandemie im ansonsten so abgesicherten Europa ein Gefühl des Bedrohtseins erzeugt, wie man es hier kaum kannte. Verändert das etwas?

U.M.: Ja, es gibt darin durchaus den Moment von „Welcome to the world“. Ich würde sagen, dass es zu einer neuen Form des Austauschs beiträgt. Trotz aller Unterschiede hat die Pandemie als globales Phänomen einen Gesprächsanlass geschaffen, der Grenzen überwindet. Das haben wir auch bei den Anfragen zu der Ringvorlesung gemerkt: Alle fanden die Idee unmittelbar einleuchtend.

Die geplante Reihenfolge der Vorlesungen geriet durcheinander, wegen technischer Probleme und auch wegen Corona selbst. Ist das Teil der globalen Erfahrung?

U.M.: Unbedingt. In einer krisenhaften Welt ist auch das Miteinandersprechen nicht jederzeit leicht. Aber wir müssen es immer wieder versuchen. Auch die Redner:innen sind alle dabeigeblieben. Es gibt ein großes Interesse an einem transnationalen Austausch und daran, diese Räume zu erproben.

J.M.: In den Vorlesungen wurde das auch immer wieder als Antwort auf die Spaltungen der Welt, die pandemischen und andere, formuliert. Verónica Gago sprach von einer „Reziprozität, noch jenseits der Solidarität“. Es geht darum, sich bei allen Unterschieden in Beziehung zu setzen und solidarische Beziehungsweisen zu entwickeln. Das muss nicht immer harmonisch sein. Es braucht auch Wut und Mut für Hoffnung und Solidarität.

Turbulente Psyche[n] – Affekte und Kämpfe in der Pandemie. Die Ringvorlesung erkundet globale Affektpolitiken und psychosoziale Kämpfe um Gesundheit und Gerechtigkeit in pandemischen Zeiten.

Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.

Veröffentlicht am 30. Mai 2022

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