Occupy Sri Lanka

Demokratisierung durch die Straße

Eine breite Protestbewegung drängt Präsident Rajapaksa in Richtung Rücktritt. Aber ihr Erfolg hängt auch vom Umgang mit der blutigen Vergangenheit Sri Lankas ab.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Am 18. Mai 2022 jährt sich zum dreizehnten Mal das Ende des Bürgerkriegs auf Sri Lanka. Zwei Monate lang hatte die Armee die letzten 1000 Kämpfer*innen der Tamil Tiger an der Ostküste eingekesselt. Mit ihnen rund 300.000 Zivilist*innen, die in den Tagen und Wochen zuvor in panischer Angst vor der von allen Seiten vorrückenden Armee geflohen waren. Der Küstenstreifen war nur zehn auf zwei Quadratkilometer groß, geschätzt 70.000 Menschen verloren im achtwöchigen Trommelfeuer ihr Leben. Die Überlebenden wurden über zwei Jahre in den Lagern von Manik Farm gefangen gehalten.

In erster Linie verantwortlich für das Massaker waren und bleiben der damalige Präsident, Mahinda Rajapaksa, und sein Bruder Gotabaya, damals Verteidigungsminister. Die Familie regiert das Land auch am dreizehnten Jahrestag ihres einstigen Triumphs, steht aber wie nie zuvor unter Druck. Mahinda Rajapaksa, bis 2015 im Amt, 2019 als Premierminister an die Macht zurückgekehrt, ist bereits zurückgetreten. Sein Bruder, der Ex-Verteidigungsminister, 2019 mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt, ist zwar noch im Amt. Doch gehen auf Sri Lanka viele davon aus, dass er sich nicht mehr lange wird halten können.

GotaGoGama

Erreicht hat das eine Protestbewegung, die ihren Lauf im März begann und im April das ganze Land erfasste. Getragen wird sie von ganz verschiedenen Leuten. An ihrem Anfang standen Aktionen von Fischern ganz im Süden ebenso wie Arbeitsniederlegungen von Zimmerleuten nahe der Hauptstadt Colombo, Straßenblockaden von Busfahrern in der Landesmitte, branchenweite Proteste im Gesundheitswesen, wilde Streiks in den Freihandelszonen und ebenso lautstarke Proteste vieler junger Menschen und vieler Frauen im Süden, in der Mitte und im Osten der Insel. Protestiert wurde und wird aber auch im Norden, zahlenmäßig geringer und weniger laut. Und natürlich nahm die Bewegung auch Colombo in Besitz.

Inbesitznahme ist dabei wortwörtlich zu nehmen: Seit fünf Wochen zelten Tausende zumeist junger Leute auf einem Gelände an der Küste, dem sogenannten Galle Face Green oberhalb eines international bekannten alten Kolonialhotels gleichen Namens. In Anspielung auf die internationalen Occupy!-Proteste heißt das besetzte Gelände „Occupy Galle Face“ oder, auf Singhalesisch, „Gota Go Gama“, „Geh Gota-Dorf“. Dass Gotabaya Rajapaksa endlich gehen soll, ist die Hauptforderung der Proteste, in der sich wirklich alle einig sind.

Gotas Bruder Mahinda trat am 9. Mai zurück, dem Tag, an dem die bis dahin meist friedliche Bewegung erstmals gewalttätig werden musste. Vorangegangen war ein Überfall von Anhängern des Regimes auf das GotaGoGama am Tag zuvor. Die Platzbesetzer*innen wehrten sich, vertrieben den Mob – und zündeten dann viele der Busse an, mit denen die Angreifer herangekarrt worden waren. Busse, die nicht abbrannten, landeten im Wasser oder wurden entglast auf ihr Dach gelegt. In der folgenden Nacht griffen Protestierende landesweit über 50 Amtsgebäude oder Privatanwesen von Ministern, Bürgermeistern und Abgeordneten der Regierungspartei an. Einige davon wurden zerstört, viele beschädigt. Im Gegenzug kam es zu Hunderten von brutal durchgesetzten Verhaftungen und zum zweiten Mal seit Beginn der Proteste zur Verhängung von Ausnahmezustand und Ausgangssperre.

Seither herrscht zwischen der Regierung und den Protestierenden ein spannungsgeladenes Patt. Den nächsten Zug zog der Präsident, indem er ausgerechnet einen langjährigen Widersacher, Ranil Wickremesinghe, zum Nachfolger seines Bruders ernannte. Wickremesinghe war schon mehrfach Premierminister. Er handelte 2002 den Waffenstillstand mit den Tamil Tigern aus: den einzigen Moment, an dem historisch eine friedliche Beilegung des Konflikts möglich schien. Er führte die Regenbogenkoalition, die die Rajapaksas 2015 vorübergehend von der Macht trennte. Aber: Er ist bisher stets gescheitert, und das immer auch durch eigenes Versagen. Viel spricht dafür, dass er auch diesmal scheitern wird. War die Losung des Aufbruchs 2015 „Yahapalanaya!“ (gutes Regieren), lautet sie heute auch deshalb „Aragalaya!“ (Kampf).

Sri Lankas Staatsbankrott

Allerdings steht der jahrzehntelange Konflikt zwischen der singhalesisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft und den tamilisch-hinduistischen bzw. muslimischen Minderheiten nicht im Zentrum der gegenwärtigen Krise. Er bildet nicht einmal deren Hinter-, wohl aber deren Untergrund. Die Krise selbst ist ökonomisch bedingt: Sri Lanka ist bankrott. Die sri-lankische Rupie tendiert im Wert ebenso gegen Null wie die Bestände des Staates an Dollar und Euro. Dem Alltag der Leute prägt sich das schneidend ein. Mehrmals am Tag wird der Strom abgestellt, manchmal bis zu sieben Stunden. Wer sein Fahrzeug mit Benzin oder Diesel betanken will, muss sich stundenlang anstellen, um zuletzt doch abgewiesen zu werden. Die Arzneimittelbstände der Krankenhäuser und Apotheken sind dramatisch geschwunden, die Verwaltungen verfügen kaum noch über Papier. Die Preise für ausnahmslos alle Güter des Überlebens haben sich verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Nichts geht mehr.

Das hat natürlich mit Corona zu tun: Sri Lankas Ökonomie hängt am Tourismus und an den vergleichsweise hohen Rücküberweisungen seiner oft gut ausgebildeten Arbeitsmigrant*innen. Beide sind 2019 weggebrochen. Der Bankrott hängt aber auch am dreizehn Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg: der Sieg über den de facto-Staat der Tamil Tiger verdankte sich einer komplett auf Pump gegründeten Hochrüstung der Streitkräfte. Und: Die Politik der Rajapaksa-Familie kreiste um ebenfalls auf Pump gebaute Infrastrukturprojekte wie Autobahnen, Flug- und Seehäfen. Darauf antworten die Proteste. Sie antworten aber auch auf den zutiefst korrupten Autoritarismus des Regimes, fordern die Abschaffung der Präsidialherrschaft, die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Trotzdem weisen die Protestierenden auch die Oppositionsparteien zurück, werfen ihnen vor, selbst dem „System Rajapaksa“ zuzugehören. Damit distanzieren sie sich vom Regenbogenaufbruch von 2015, als die Rajapaksas durch eine Koalition fast aller Oppositionsparteien abgelöst wurden. Premierminister wurde damals – Ranil Wickremesinghe. Ihn haben die Rajapaksas jetzt zu Hilfe gerufen. Das hängt auch an seiner internationalen Anerkennung, nicht zuletzt beim IWF.

Aragalaya!

Trotz der sozialökonomischen Katastrophe wird das politisch weitreichendste Moment der Protestbewegung überall dort erreicht, wo ihr Aragalaya den Untergrund der sri-lankischen Krise aufwühlt: den ethnisch-religiösen, aus Sicht der Minderheiten rassistischen Konflikt. Hier ist die ansonsten denunziatorische Rede der Rajapaksas von „Jugendprotesten“ tatsächlich gerechtfertigt: Es sind vor allem die jungen, meist gebildeten Singhales*innen, es sind singhalesische Frauen der Mittelklassen, die eine Demokratie einfordern, in der alle Bürger*innen Sri Lankas gleich und frei sein sollen, unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Herkunft. Gewännen sie an Einfluss, ließe sich perspektivisch das Nord-Süd-Gefälle auch in den Protesten reduzieren, in dem die Bewegung im tamilischen Norden deutlich schwächer ausfällt. Dort will man zu Recht nicht vergessen, dass Gotabaya Rajapaksa 2019 mit absoluter Mehrheit Präsident wurde und im Parlament sogar über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügte.

Ebenfalls zu Recht zweifeln viele im Norden an Oppositionsführer Sajith Premadasa, dem mutmaßlich ersten Nachfolger der Rajapaksas: er gilt wie sie als singhalesisch-buddhistischer Nationalist. Und: Im Norden zweifelt man auch an der seit Jahren stärker werdenden Linkspartei JVP, die von allen Parteien am entschiedensten die Proteste unterstützt und die Abstandsforderung der Protestierenden trotzdem anerkennt. Zumindest bis zum Ende des Bürgerkriegs war auch die JVP stramm singhalesisch ausgerichtet. Gegen alle diese Zweifel stehen bis jetzt nur erste Symbolismen einer Umkehr. Zu ihnen gehört das überall zirkulierende Foto eines Plakats, auf dem eine singhalesische Demonstrantin die berühmten Sätze des deutschen Widerstandspfarrers Martin Niemöller ins Sri-lankische übersetzte: „First they came for the Tamils. I did not speak, because I’m not a Tamil. Then they came for the Muslims. I did not speak, because I’m not a Muslim. Then they came for me and there was no one left to speak for me.”

Niemand kann den Protestierenden abverlangen, aus einer über siebzigjährigen postkolonialen Geschichte einfach herauszuspringen. Gelingen könnte ein solcher Sprung obendrein nur, wenn er von Tamil*innen und Muslim*innen mitgesprungen würde – wofür es ebenfalls vernehmbare Stimmen gibt. Insofern wird sich die Protestbewegung über ihr soziales Anliegen hinaus erst dann bewähren, wenn sie im ursprünglichen Sinn zu einer politischen Bewegung wird: zu einer Bewegung von allen für alle und eine jede. Ob ihr das gelingt, ist offen.

Die Schulden streichen

Schließen wir aus, was von vielen auf Sri Lanka noch immer befürchtet wird: dass die Rajapaksas versuchen werden, sich mit Gewalt zu halten. Nehmen wir also an, dass sich der vieltausendfache Ruf „Gota go!“ demnächst erfüllt. Nehmen wir weiter an, dass die Nachfolgeregierung wieder eine Regenbogenkoalition wird, mit einer trotz notwendigen Abstands starken Mitwirkung der Parteien der Linken wie der tamilischen und muslimischen Minderheit. Nehmen wir schließlich an, dass der Aragalaya in der dauerhaften politischen Autonomie einer Protestbewegung fortlebt, die Zug um Zug zur Demokratisierungsbewegung auch im Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheiten werden würde. Sri Lankas Handlungsspielraum wäre selbst dann verschwindend gering. Das Land ist bankrott. Mögliche Kreditgeber*innen sind die Finanziers der Rajapaksas: der IWF, China, die USA, Indien, zuletzt die EU. Mächte allesamt, die nachweislich keine Förderer*innen der „Gleichfreiheit“ (Balibar) aller und einer jeden sind. Mächte außerdem, die in den nächsten Jahren mit ähnlichen Krisen überall im globalen Süden konfrontiert sein werden. Mächte, die das heute schon wissen.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab es eine globale Protestbewegung, die den Schuldenerlass für die in die Verschuldung gezwungenen Länder des globalen Südens zu einer ihrer Hauptforderungen erhoben hatte – trotz der Mitverantwortung seiner korrupten Eliten. Um diese Forderung ist es ruhig geworden. Um diese Forderung darf es aber nicht länger ruhig bleiben. In Sri Lanka selbst wird zunächst einmal viel daran hängen, wie dort der 18. Mai diesen Jahres begangen wird. Gehen die Hoffnungen (nicht nur) der Bewohner*innen des GotaGoGama auf, wird die mit einem Schuldenerlass ja nur einzuleitende Demokratisierung des Nord-Süd-Gefälles immer dringlicher: im Land und weltweit.

Shreen Saroor, Feministin muslimischen Hintergrunds und langjährige medico-Partnerin, zum Regierungsantritt Ranil Wickremesinghes.

Veröffentlicht am 17. Mai 2022
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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