Haiti / Chile

Nichts zu verlieren

Politische Aufstände im ärmsten und im reichsten Land Lateinamerikas. Was die Proteste in Chile und Haiti gemeinsam haben. Von Katja Maurer

Dass in Haiti der Aufstand in die siebte Woche geht, kann Außenstehende nicht verwundern. Am Sonntag waren wieder Zehntausende auf der Straße, friedlich übrigens. Haiti ist zum Synonym für die Unerträglichkeit der Armut geworden. Dass in Haiti ein politischer Aufstand aus der sonst oft lähmenden Armut folgt, dürfte viel mit der haitianischen Geschichte zu tun haben.

Aber Chile? Das Land galt bislang als Oase des neoliberalen Kapitalismus. Hier schien er sich in seinem Aufstiegsversprechen zu bewahrheiten. Die Reichen wurden reicher, aber auch für die Armen fiel etwas ab. Es lebt sich heute in Chile materiell besser als vor 30 Jahren. Und dann so ein Aufstand des zivilen Ungehorsams. Wegen einer Preiserhöhung bei der Metro überwinden streikende Student_innen die Einlasssperren, ziehen in den U-Bahnen die Notbremse, fackeln die Kassen der Metro ab, dann aber auch die Mautstellen der Autobahnen und das Hochhaus von Enel, einem Stromversorger, der ebenfalls kürzlich seine Preise erhöht hat.

Plünderungen als Protestform

Neben den Protesten fanden Plünderungen in einem Ausmaß statt, für das man die Protestierenden in Haiti für immer aus der globalen politischen Zivilisation ausgeschlossen hätte. Wie mir Freunde aus Chile erzählten, die ich gestern anrief, gehören Plünderungen in Chile quasi zur Protestform. Der chilenische Staatspräsident Piñera, ein äußerst rechter Unternehmer und Profiteur des Systems, rief am Wochenende das Militär, verkündete den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre ab 19 Uhr. Zugleich hielt er nachts um halb eins eine seifige Rede, rief zum Dialog auf und äußerte Verständnis für die jungen Leute. Da hat er sich etwas beim haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse abgeguckt, der vor drei Wochen auf ähnlich Weise und zu ähnlicher Uhrzeit versucht hatte, den Protest zu ersticken und mit dieser Bigotterie nur mehr Öl ins Feuer goss. In Haiti gehen die Proteste weiter und wurden politischer.

Aus Chile kommen Bilder, die sich über die alten vom Putsch 1973 legen. Militär bewegt sich im geordneten Rückwärtsgang, weil sie von Demonstrierenden bedrängt werden, die sich nicht schrecken lassen. Pünktlich zu Beginn des Ausnahmezustands füllen sich die Straßen mit Menschen, die auf Gegenstände, die gerade griffbereit lagen, schlagen und einen enormen Krach machen. Als wollten sie den milicos, wie das Militär in Chile heißt, sagen: Ihr könnt uns mal. Die Angstgespenster des Putsches von 1973, wo Ausnahmezustand und Ausgangssperre noch eine Friedhofsruhe errichten und massenweise Angstzustände auslösen konnten, werden jetzt freudvoll und ganz ungehorsam ausgetrieben. In Chile haben die protestierenden Student_innen den bezotón erfunden, Kussmarathon unterm Wasserwerfer. Jetzt ist aber Schluss mit friedlich, jetzt kommt der Krawall. Und er findet unerwartet viel positive Resonanz, obwohl die Banken geschlossen sind und kein Benzin gekauft werden kann.

Nichts zu verlieren

Proteste, die in Santiago begannen, haben sich auf das ganze Land ausgebreitet und es beteiligen sich unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Anliegen. Bauern errichten Straßensperren aus Tierkadavern, die verdursteten, weil das Wasser für die Avocado-Plantagen der Oligarchie benötigt wird. Die Flüsse waren bis zu den Protesten ohne Wasser. Wie ein Wunder fließt es nun. Die Oligarchie wurde genötigt, etwas vom Wasser abzugeben. Künftige Renter_innen tragen Spruchbänder, auf denen steht „Ich habe keine Angst vorm Tod, ich habe Angst vor der Verrentung“. Und die Plünderungen werden gerechtfertigt mit einer Neuwortschöpfung empresasaqueo – Unternehmensplünderung. Frei nach Brecht: Was ist ein Bankraub gegen den Besitz einer Bank.

Es geht um viel mehr als um Metropreise. Es geht wie in Haiti um einen neuen Sozialvertrag: bezahlbare Wohnungen, Gesundheit für alle, kostenlose Bildung. Die Bevölkerungen des vermeintlich reichsten und des Ärmsten Landes Lateinamerikas haben ähnliche Forderungen. Zumindest in den sozialen Medien wird aufeinander Bezug genommen.

Zwei Erzählungen

Es gibt zwei Erzählungen in Chile. Die eine erzählt von der schwindenden Armut, vom Aufstieg in die entwickelte Welt mit OECD-Mitgliedschaft, stabiler repräsentativer Demokratie mit friedlichen Machtwechseln und einer sich diversifizierenden Wirtschaft weg von der Kupferabhängigkeit. Die andere erzählt von einer der höchsten Verschuldungsraten der Bevölkerung mit transgenerationalen Ausmaßen, einem der weltweit höchsten Einsätze von Psychopharmaka, einer oligarchischen Aneignung der Natur und einer durch die erwähnte Verschuldung überformten entfremdeten Arbeit, die die Menschen vereinzelt und auf sich selbst zurückwirft. Die Wahlbeteiligung liegt bei unter 50 Prozent, ein Ausdörren der repräsentativen Demokratie.

Der Aufstand kommt für die politische Elite (egal ob rechts oder Mitte-links) überraschend, wie man sich in Frankreich die Gelbwesten nicht hätte vorstellen können. Er wird möglicherweise nicht so schnell vergehen, weil sich Präsident Piñera viel zu autoritär gebärdet, und weil sich die wie keine zweite von der Ideologie des Neoliberalismus durchdrungene chilenische Elite keine am Gemeinwohl orientierten Lösungen vorstellen kann. Das würde bedeuten, dass sie etwas abgeben müsste von ihrem ungeheuren Reichtum, der sich das ganze Land untertan gemacht hat. Abgeben aber wären nötig, sonst wird es noch viel mehr Aufruhr geben, weil die Menschen nichts mehr zu verlieren haben. Der ihnen versprochene Aufstieg ist blockiert. Stattdessen sitzen sie auf einem Berg von Schulden. Ein Aufstand in Haiti interessiert leider keinen, der Aufstand in Chile könnte hingegen ein Weckruf für eine blinde Elite sein.

Veröffentlicht am 22. Oktober 2019
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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