Südafrika

In die Würde der Menschen investieren

In Südafrika ist die Zeit reif, den „Kapitalismus zu überdenken“ – wenn man die Verfassung ernst nimmt.

Von Mark Heywood

Es war am Samstag, dem 1. Mai. Just zum Tag der Arbeit schnitt die Regierung sechs Millionen Menschen die Lebensader ab, indem sie die „Covid-19-Sozialhilfe zur Linderung von Not“ aussetzte. Für die Wohlhabenden und diejenigen, die die „Leitung gekappt“ hatten, ging das Leben ganz normal weiter. Nicht so für die Armen. Die Streichung der Unterstützung zwang sie in den Hunger, viele zum Betteln oder Stehlen, um am Leben zu bleiben. Im Kontext der durch Covid-19 verursachten sozialen und wirtschaftlichen Krise ist die Entscheidung der Regierung ein Verrat an dem in der Verfassung verbrieften Recht einer und eines jeden auf „soziale Sicherheit, inklusive einer angemessenen Unterstützung, um sich und Angehörige versorgen zu können“.

Dass die Regierung sechs Millionen Menschen ihr einziges Einkommen just zum Tag der Arbeit strich, dem Tag, der wie kein anderer die internationale Solidarität symbolisiert, setzt dem Ganzen die Krone auf. Präsident Cyril Ramaphosa hielt das gleichwohl nicht davon ab, auf einer Mai-Kundgebung des Consatu – der größte südafrikanische Gewerkschaftsdachverband – Lobeshymnen anzustimmen und den Tag als eben jenen zu bezeichnen, „an dem wir der ewigen Parole der Arbeiterklasse gedenken sollten: Die Verletzung Einzelner ist eine Verletzung aller.“ Das sollte man den Kindern im Richtersveld sagen, die, so war es zu lesen, an den schulfreien Wochenenden Flussschlamm essen, um die Schmerzen in ihren leeren Bäuchen zu lindern. Wie umgehen mit den kalten Herzen der Regierung? Warum ist ein Aufschrei nur aus der Zivilgesellschaft zu vernehmen, nicht aber aus der Wirtschaft? Was steckt hinter solchen Entscheidungen und sind sie wirklich unangreifbar?

Eine Anhäufung von Entwürdigungen

Letzte Woche versuchten von der Zivilgesellschaft organisierte Proteste, die Regierung dazu zu bringen, die staatlichen Unterstützungen solange zu verlängern, bis ein garantiertes Grundeinkommen eingeführt ist. Die Regierung ignoriert das. Gleichzeitig machte Professorin Thuli Madonsela bei einem Webinar den Kapitalismus für die Krise der wachsenden Armut verantwortlich. Ihre zentrale Aussage: Wenn Ungleichheit derart eskaliert und Südafrika nicht einmal mehr in der Lage ist, seinen verfassungsmäßigen Verpflichtungen nachzukommen, dann sei es an der Zeit, „den Kapitalismus zu überdenken“. Dazu muss man wissen, dass Madonsela eine der am meisten verehrten Persönlichkeiten Südafrikas ist. Ihre Popularität, die sie sich durch Mut und Integrität erworben hat, verläuft quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Die südafrikanische Wirtschaft und die Regierung sollten gut zuhören, wenn sie die Stimme erhebt. Denn man kann sie nicht als durchgeknallte Spinnerin der Ultralinken abtun. Und es ist offensichtlich, dass der Kapitalismus in Südafrika und vielen anderen Ländern der Welt versagt hat. Mag das Geld im Laufe der Menschheitsgeschichte eine zweifelhafte, aber nichtsdestotrotz auch nützliche Rolle im Austausch und in der Entwicklung gespielt haben: Längst arbeitet es gegen soziale Gerechtigkeit und Entwicklung. Für die Armen häuft es nichts an außer einer Entwürdigung nach der anderen.

Der kapitalistische Markt schließt weit mehr Menschen aus, als er einschließt. Und während die Arbeitslosigkeit wächst und die Besteuerung schrumpft, wird eine Liste immer länger: die der verfassungsmäßigen Rechte, die sich Südafrika aus Geldmangel nicht mehr leisten kann. Wir verschulden uns an unserer Verfassung und die Folgen werden schrecklich sein. Es gibt kein Geld, um unsere kaputte Wasserinfrastruktur zu reparieren; für wichtige Gesundheitsdienste; um die eine Million Kinder, die an ernsthaften Krankheiten leiden, medizinisch zu versorgen; um die Plumpsklos in den Schulen in Limpopo abzuschaffen; für ausreichende Ernährung und soziale Sicherheit. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die „Es gibt kein Geld“-Rhetorik führt uns unaufhaltsam Richtung Staatszerfall und sozialer Konflikte. In Wirklichkeit gibt es jede Menge Geld. Es ist nur nicht in den Händen der Regierung und diese ist nicht bereit, es im öffentlichen Interesse einzufordern. Südafrika leidet unter einem Finanzterror.

Kein Geld ist kein Argument

Madonsela argumentierte in ihrer Rede ähnlich wie Professorin Vivienne Taylor von der University of Cape Town: Die Behauptung, es gäbe kein Geld, setzt nicht die verfassungsmäßige Verpflichtung außer Kraft, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Unsere Verfassung – und nicht das Finanzministerium oder irgendeine Ratingagentur – ist die höchste Instanz. Entsprechend gibt sie auch vor, wie die Regierung mit der Covid-19-Krise umzugehen hat. Sowohl Taylor als auch Madonsela bezeichnen ein garantiertes Grundeinkommen als „rechtlichen, politischen und moralischen Imperativ“.

Das Problem beschränkt sich jedoch nicht darauf, dass angeblich zu wenig Geld vorhanden ist, um grundlegende Bedürfnisse zu decken. Hinzu kommt: Der Kapitalismus verursacht solche massiven Verheerungen, dass Regierungen auf der ganzen Welt immer stärker gezwungen sind, Geld – das sie angeblich nicht einmal haben – für die Rettung des Klimas, des Planeten und die Menschheit auszugeben. In seinem 2020 erschienenen Bestseller-Roman „The Ministry for the Future“ entwirft Kim Stanley Robinson ein Bild unserer nahen Zukunft in etwa 50 Jahren. Er schildert den Zusammenbruch des Klimas und das Versagen der politischen Führung, auch der Banken und der Industrie, ihr Verhalten zu ändern, um die Krise zu entschärfen – bis es zu spät ist. Robinson nennt dies „Todeskapitalismus“ und verweist damit auf die Wagner-Oper „Götterdämmerung“. „Diese endet damit, dass die alten Götter der vorchristlichen nordischen Mythologie in ihrem Untergang in einem letzten (selbst-) mörderischen Autodafé die Welt zerstören.“ Laut Robinsons Erzähler sind es meist Privilegierte, die vom Syndrom der Götterdämmerung befallen werden. „Sie werden sehr wütend, wenn jemand ihre Privilegien und ihr Gefühl von Vorrechten infrage stellt. Glauben sie, sie hätten nur noch die Wahl, ihren Irrtum einzugestehen oder die Welt zu zerstören, zögern sie nicht, alles in den Abgrund zu reißen. Denn einen Irrtum einsehen und zugeben – das können sie nicht.“

Das Ende von Business as usual

In einigen Teilen der Welt scheint es, dass Politiker:innen zu verstehen beginnen, dass „business as usual“ unweigerlich in die Katastrophe führt. Unerwarteterweise könnte dies in den USA der Fall sein. Präsident Joe Bidens Bemühungen, den Kapitalismus in eine andere Richtung zu lenken, mögen Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez nicht weit genug gehen. Aber seine Forderung nach einem weltweiten Mindeststeuersatz für Unternehmen, sein Plan für saubere Energie und grüne Infrastruktur sowie die Hinweise, dass seine Administration zur Überwindung der Covid-Krise sogar eine Ausnahmeregelung für die Regeln der Welthandelsorganisation zum geistigen Eigentum unterstützen könnte – all das deutet auf eine Führungspersönlichkeit hin, die eingesehen hat, dass es mit dem Kapitalismus nicht so weitergehen kann wie bisher. Seine Strategie gegen Populismus und aufkommenden Faschismus besteht darin, wieder in die Würde der Menschen zu investieren.

In Südafrika sind weder bei der Wirtschaft noch bei der Regierung ähnliche Anzeichen von dringlichem Handeln, Humanität oder mutigem wirtschaftlichen Denken zu erkennen. Niemand scheint hier einen „Imperativ“ zur Veränderung anzuerkennen. Stattdessen versinken wir in einem Sumpf aus schnöder Rhetorik, Korruption, bloßen Absichtserklärungen und der Einsetzung von Arbeitsgruppen – also allem, was der Aufrechterhaltung des entsetzlichen Status quo dient. Es ist zu traurig, dass die Regierung und die Wirtschaft den Aktivist:innen der Zivilgesellschaft nicht wirklich zuhören. Täten sie es, würden sie vielleicht von der Energie und den Ideen angesteckt, womöglich fänden sie sogar Verbündete. Unserem Land und unserer Verfassung würde das guttun. Und die Kinder im Richtersveld müssten vielleicht keinen Schlamm mehr essen.

Der Beitrag erschien am 4. Mai 2021 in der Rubrik „Maverick Citizen“ im Daily Maverick, der meistgelesenen Online-Zeitung Südafrikas. Für das medico-Rundschreiben 2/2021 hat ihn Christian Sälzer übersetzt. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 01. Juli 2021

Mark Heywood

Mark Heywood ist ein südafrikanischer Menschenrechtsaktivist mit dem Schwerpunkt auf das Recht auf Gesundheit. Er war Generalsekretär der Treatment Action Campaign, die sich für den freien und kostenlosen Zugang zu Aids-Medikamenten einsetzt, und stand bis 2019 der Nichtregierungsorganisation SECTION 27 vor, die mit Öffentlichkeitskampagnen und juristischen Mitteln für das Recht auf Gesundheit und Bildung streitet. Seitdem fungiert er als Mitherausgeber der neuen zivilgesellschaftlichen  Rubrik in der meistgelesenen Online-Zeitung Südafrikas, dem Daily Maverick, Maverick Citizen. Außerdem forscht er zu Aktivismus und Strategien zur Durchsetzung sozioökonomischer Rechte und der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik an der Verwirklichung dieser Rechte.


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