Ägypten

Geopolitik mit humanitärem Anstrich

Ägypten leistet humanitäre Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten. Welche Ambitionen stecken hinter der Hilfe? Von Wassifa Abu Sweilam*.

Seit Jahrzehnten hat sich die politische Mobilisierungskraft der palästinensischen Sache nicht auf die besetzten Gebiete beschränkt. Besonders im Nachbarstaat Ägypten, dessen moderne politische Geschichte mit der palästinensischen so eng verflochten ist, spielte das eine Rolle. Sogar die Ereignisse von 2011 wurden von Beobachter*innen mit der zweiten palästinensischen Intifada in Verbindung gebracht. Die Proteste in Solidarität mit den Palästinenser*innen in Ägypten der 2000er Jahre (vor allem in den Jahren 2000 und 2002) waren die ersten Massenproteste seit 1977. Während unter der eisernen Hand Mubaraks im Jahr 2000 Parolen ausschließlich für Palästina gerufen wurden, verbanden sich im April 2002 die pro-palästinensischen Rufe mit der Kritik an Präsident Mubarak: Bei Protesten in der Nähe der Kairo-Universität riefen Protestierende „Hosni Mubarak und Sharon sind dasselbe“ – damals ein Tabu-Bruch, auf den mit brutaler Polizeigewalt reagiert wurde.

Verbunden mit der Nakba, den verlorenen Kriegen der 1960er und 1970er Jahre und der ersten Intifada war Palästina für große Teile der ägyptischen Gesellschaft das Ebenbild der Unterdrückung, bei dessen Anblick jede*r eine politische Meinung hatte. Ein gemeinsames Dach, vielleicht sogar das politische Dach, unter dem sich Linke, Anhänger*innen des politischen Islam und liberale Kräfte unterschiedlicher Richtungen, sowie politisierte Studierende und Schüler*innen und weniger politisierte Bürger*innen sammeln konnten. Bevor „die Massen“ gegen Mubarak auf die Straßen gingen, gingen sie für die Palästinenser*innen und gegen die Besatzung auf die Straße. Der Weg zum Tahrir verlief über Jerusalem.

Verschiebung der Rhetorik

Dabei spielte auch Ägyptens besondere Stellung in der Geschichte des Konflikts eine Rolle. In der Ära der „Politik der offenen Tür“ nach dem 1978 unterzeichneten Camp-David-Friedensabkommen war Ägypten die Vorreiterin der Normalisierung der Beziehungen mit Israel in der Region. Mit der Anerkennung Israels als politischer und ökonomischer Partner waren die ägyptisch-palästinensischen Beziehungen entsprechend schlecht. Die palästinensische Frage wurde dann vor allem als politische Karte für die eigenen Interessen gespielt. Sichtbar wird das auch aktuell wieder einmal am Rafah-Korridor, der einzigen palästinensischen „Grenze“, die nicht von Israel kontrolliert wird, sondern von Ägypten. Während in den offiziellen ägyptischen Medien berichtet wurde, dass der Korridor geöffnet worden sei, um Verletzte aus Gaza im ägyptischen Al-Arisch zu behandeln, dementieren Aktivist*innen vor Ort, dass die Grenze geöffnet worden sei. Das ist nicht neu.

Was allerdings in der gegenwärtigen Situation neu ist, ist die Verschiebung der ägyptischen Rhetorik gegenüber Palästina. Zum ersten Mal spricht mit Außenminister Shoukry ein ägyptischer Staatsmann über das palästinensische „Recht auf das eigene Geburts- und Herkunftsland“. Und es bleibt nicht nur bei einer Rhetorik der Solidarität: Ägypten schickte humanitäre Hilfe über den Rafah-Korridor und der ägyptische Rote Halbmond arbeitet in den palästinensischen Gebieten Die ägyptische Gesundheitsministerin Hala Zayed bestätigte am Abend des 17. Mai, dass die Lieferung von „medizinischen Hilfsgütern“ im Wert von 14 Millionen ägyptischen Pfund (890.000 US-Dollar), darunter 65 Tonnen chirurgisches Material, Sauerstoffflaschen, Spritzen, Antibiotika und Salbe für Brandwunden in den palästinensischen Gebieten ankäme. Vor dem Hintergrund des militärischen Nationalismus, den das Regime Al-Sisi seit 2013 schürt, klingt es in den Ohren vieler wie Musik: Ägypten unter Al-Sisi hilft den Palästinenser*innen. Doch wenn man genauer hinhört, erinnert die Melodie an Schuberts „Karneval“: fröhlich, euphorisch und besänftigend, doch darunter liegt ein unheilvoller Ton.

Dieser „unheilvolle Ton“ ist in der ägyptischen Innenpolitik weder dezent noch versteckt. Am selben Tag, an dem sich das Außenministerium für die humanitäre Unterstützung der „palästinensischen Geschwister“ aussprach, wurden drei Menschen festgenommen, die öffentlich die palästinensische Flagge gezeigt hatten. Außerdem sitzen seit zwei Jahren der palästinensisch-ägyptische Menschenrechtsaktivist Ramy Shaath, der Menschenrechtsjurist Haitham Mohameiden, der Aktivist und Regisseur Hisham Fouad sowie der Journalist Mohammed Al-Massry und weitere mehr in Haft. Alle wegen ihrer Rolle in politischen Kämpfen mit Palästina-Bezug und vor dem Hintergrund des allgemeiner angelegten staatlichen Crackdowns gegen Menschenrechtsaktivist*innen. Anstatt Ramy Shaath und die anderen Inhaftierten im Zuge der Solidarität mit den palästinensischen Gebieten freizulassen, wurden weitere Personen, die ihre pro-palästinensische Position auf der Straße zum Ausdruck brachten, festgenommen.

Nicht nur Innenpolitik

Es ist offenkundig, dass die ägyptische Regierung aus Angst vor einer Mobilisierung und einem zweiten 2011 jeden Ausdruck von Unzufriedenheit einhegt und in humanitäre nationalistische Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung wendet. Es handelt sich dabei aber um mehr als eine bloße Instrumentalisierung der palästinensischen Frage aus innenpolitischem Interesse, denn das humanitäre Engagement erfüllt auch eine außenpolitische Funktion. Seit dem Militärputsch 2013, vor allem aber infolge der stärkeren Einflussnahme Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate in der Region sowie der stärkeren Umorientierung der Türkei in Richtung der arabisch-sprachigen Länder und dem Horn von Afrika, hat Ägypten nach und nach seine strategische Rolle in der Region verloren. Die Türkei fährt eine aggressive Politik in Jemen und Syrien. Die Emirate intensivieren ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in der ganzen Region bis nach Äthiopien. Und unter dem Begriff „Neo-Ottomanismus“ wendet sich die Türkei entschlossener als bislang Schlüsselkonflikten in der Region zu – wie in Libyen oder Syrien. 

Die Schwächung der ägyptischen Rolle sieht man im Jemen, wo Ägypten in ökonomischer Abhängigkeit von Saudi-Arabien an seiner Seite mitkämpft; in den Vermittlungsversuchen in Libyen, wo die Türkei eine führende Rolle hat und Ägypten eher bedeutungslos erscheint; und nicht zuletzt in der palästinensischen Frage. Da sind die Vereinigten Arabischen Emirate und ihre Normalisierung der Beziehungen mit Israel auf der einen Seite und auf der anderen die Türkei mit Erdogan, der sich als Repräsentant der „islamischen Welt“ inszeniert. Ägypten möchte in dieser Gemengelage die Rolle als Regionalmacht neu spielen, nachdem das Land von der Türkei und den Emiraten weggedrängt worden ist.

Ägyptens alte Rolle als Erdgasexporteur und Türhüter der Grenzen, sowohl nach Gaza als auch in Richtung Europa, ist vorbei, vor allem, weil an dem „Milliarden-Dollar-Gas-Deal“ zwischen Israel und den Emiraten trotz der Ereignisse in Gaza weiter gefeilt wird. Die beiden Länder verhandeln über eine Zusammenarbeit bei der Erschließung und Ausbeutung von Gasfeldern im Mittelmeer, die sich unter anderem vor der Küste Gazas befinden. Bis vor kurzem hat Ägypten Gas nach Israel exportiert. Nun wird Ägypten aus Israel Gas importieren.

Mit einer Sicherheitspolitik, die zeigt, dass Ägypten, wie während der „Operation Gegossenes Blei“ gegen Gaza 2008/2009, eine Deeskalation in Palästina-Israel in Gang bringen kann, kann das Land in der internationalen Arena seinen Ruf und seine Macht restaurieren. Dies macht das Sisi-Regime aufgrund der neuen geopolitischen Lage aber durch die palästinensische und nicht durch die israelische Tür. Am 18. Mai beschlossen Al-Sisi (Ägypten), Macron (Frankreich) und Abdullah II. (Jordanien), zusammen die Führungsrolle im „Friedensprozess“ zu übernehmen. Gemeint war eigentlich nur ein „Waffenstillstand und Ende der Feindseligkeiten“. Am selben Tag kündigte Al-Sisi aber auch an, dass Ägypten 500 Millionen US-Dollar für Gazas Wiederaufbau bereitstellen wird – durchgeführt allerdings nur von ägyptischen Unternehmen. Am 20. Mai wurde dann nach ägyptischen Vermittlungsbemühungen ein Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel geschlossen.

Ein weiterer israelisch-emiratischer Dorn im außenpolitischen Auge Ägyptens hängt mit Äthiopien zusammen. Der dort inzwischen schon stehende Damm wird Ägyptens (und Sudans) Nilwasserrate stark reduzieren. Die Aushandlungsprozesse dazu verliefen nicht zugunsten Ägyptens oder des Sudans, weil die äthiopische Regierung durch privatwirtschaftliche und staatliche israelische, emiratische und chinesische Interessen in ihrer Position bestärkt wurde. Äthiopien will Investoren aus jenen drei Ländern daran beteiligen, die durch den Damm entstehenden neuen Möglichkeiten in den Bereichen Energieversorgung, Landwirtschaft und Wirtschaft auszunutzen.

Geopolitik mit humanitärem Anstrich

Die geopolitische Karte verändert sich und Al-Sisi will seinen Platz haben. Ein Wiedererstarken der regionalen Rolle verheißt eventuell auch eine gute Beziehung mit dem neuen Weißen Haus. So wahrscheinlich die Hoffnung. Das wird sich nicht nur auf die Aushandlungsprozesse um den äthiopischen Damm positiv auswirken, sondern auch auf Ägyptens Interessen im libyschen Geschehen. Eine starke Rolle in der Außenpolitik begünstigt im Umkehrschluss aber auch die Legitimation von Repressionen im Inneren. Wenn das ägyptische Regime auf dem internationalen Parkett Erfolge verbuchen und Präsident Al-Sisi das Land quasi „zu alter Größe“ zurückführen kann, sehen ihm größere Teile der ägyptischen Gesellschaft seine Politik der eisernen Faust im Inneren nach.

Dabei hilft die Hilfe. Ägypten ist da kein Sonderfall. Was heißt es, wenn im Gewand  humanitärer Hilfe Menschenrechte verletzt und Repression begünstigt und eventuell bestärkt werden? In der feministischen Theorie ist durch und mit der Afghanistan-Invasion der Begriff „Embedded Feminism“ entstanden. Unter ihm versteht man das staatliche Manöver, feministische Motive wie Frauenrechte zu benutzen, um repressive Politiken durchzusetzen. Feministische und damit mögliche befreiende politische Elemente, sind hier eingebettet in repressive unterdrückende Politiken, um sie zu rechtfertigen. Auch die humanitäre Hilfe soll – so ja schon der Name – den Menschen im Mittelpunkt haben. Die vier Prinzipien der humanitären Hilfe sind Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit.

Dass die humanitäre Hilfe auf diesen vier Prinzipien aufbaut, ist aus historischen Gründen verständlich und wichtig. Dennoch kann auch die humanitäre Hilfe in repressive und gefährliche Politiken eingebettet werden, wie der Fall der ägyptischen humanitären Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten exemplarisch zeigt. Denn jede Intervention, auch humanitärer Natur, ist politisch und nie neutral. Selbst angenommen, sie wäre neutral in der Intention, hätte sie doch keine neutralen Konsequenzen.

* Wassifa Abu Sweilam ist ein Pseudonym.

Veröffentlicht am 15. Juni 2021

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