Textilindustrie

Fünf Jahre nach Rana Plaza

Die Unternehmen haben sich frei gekauft, geändert hat sich kaum etwas. Von Thomas Seibert

Vor genau fünf Jahren wurde unsere Weltwahrnehmung von Grund auf erschüttert, trotz allem, was uns vom Elend der Welt geläufig ist. In Bangladesch wurden über 1000 Textilarbeiter*innen in einer baufälligen Fabrik zerquetscht, über 2000 zumeist schwer verletzt. Der Besitzer des Rana Plaza-Komplexes hatte sie zur Arbeit gezwungen, obwohl die Einsturzgefahr polizeilich bestätigt war.

Der Schock kam nicht ganz unerwartet. Am 11. September 2012 verbrannten in einer Fabrik im pakistanischen Karatschi fast 300 Arbeiter*innen, im November nochmal mehr als hundert, diesmal wieder in Bangladesch. Vergessen sind diese Tragödien bis heute nicht, immerhin, das gilt es wach zu halten. Alle drei Fabriken haben für den Weltmarkt produziert, für Label, deren Waren wir alle tagtäglich am Leib tragen.

Abgedrängtes Unwohlsein

Beruhigt hat sich die Lage trotzdem, Verunsicherung und Unwohlsein sind erfolgreich abgedrängt. Dazu beigetragen haben vor allem die Entschädigungszahlungen. Die Rana Plaza-Überlebenden und -Hinterbliebenen haben ihr Geld schon erhalten. Die Zahlungen an die Überlebenden und Hinterbliebenen des Brandes bei Ali Enterprises beginnen in diesen Tagen. Das ist für sich ein weiterer Skandal, der belegt, dass und wie die Kommandostellen der weltweiten Produktions- und Lieferketten sich Zeit lassen können, wenn es nicht um Gewinne geht. Dass viele Betroffene, jetzt einkommenslos, zwischenzeitlich in noch einmal ärmlichere Behausungen umziehen mussten und dringend gebrauchte medizinische Hilfen nicht in Anspruch nehmen konnten, fällt da nicht ins Gewicht.

Wichtig aber war und ist, dass Geld geflossen ist, und dass das freiwillig geschah. Denn der Fokus auf die Entschädigung – dass den Opfern letztlich doch großzügig geholfen wurde – hat erfolgreich verdrängt, was eigentlich hätte geschehen müssen.

Das wäre erstens gewesen: zureichende Bestrafung der im juristischen Sinn unmittelbar Verantwortlichen, d.h. der Besitzer vor Ort, und öffentliche Bestätigung des verbrecherischen Charakters ihres Tuns. Unumgänglich wäre zweitens gewesen: politisch festzustellen, dass für die globalen Konzerne mit Sitz in Deutschland, Europa oder sonstwo die Zeit der „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ endgültig abgelaufen ist. Dass das Verhalten ihrer Manager zwar nicht im juristischen, doch im moralisch-politischen Sinn gleichfalls verbrecherisch war und ist, und dass es höchste Zeit ist, dies rechtlich festzustellen. Es wären also Gesetze auf den Weg zu bringen gewesen, die auch die Entscheidungsträger*innen der globalen Konzerne persönlich haftbar machen würden. Dem hätten Gesetze folgen müssen, die das System, in dem Ali Enterprises, Tazreen Fashion und Rana Plaza möglich wurden, auf dem Rechtsweg beendet hätten.

Unmittelbar nach Rana Plaza gab es eine fraktionsübergreifende Initiative im französischen Parlament, die nur noch den Import von Waren gestattet hätte, die unter menschenrechtsgemäßen Bedingung hergestellt worden wären. Die Initiative ist damals gescheitert, zwischenzeitlich dann massiv verwässert umgesetzt worden. Das deutsche Textilbündnis hat sich von vorneherein auf die Freiwilligkeit der nötigen Änderungen beschränkt. Traurig ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen hier noch immer mitspielen.

Vom Leid freigekauft

Am fünften Jahrestag von Rana Plaza muss man deshalb sagen: Die Weltmarktunternehmen haben sich von dem ungeheuerlichen Leid freigekauft, für das ihre Manager persönlich verantwortlich gemacht werden müssen, soll es jemals anders werden. Der Aufruhr in unserer Weltwahrnehmung wurde befriedet, das Siegel darauf haben die Entschädigungsverfahren ausgestellt. Das gilt selbst vor Ort, in Dhaka und Karatschi. In der Wahrnehmung vieler Betroffener haben sich die Tragödien zuletzt in Summen ausgezahlt, die niemand von ihnen auf anderem Wege erhalten hätte.

Um hier kein Missverständnis zuzulassen: Selbstverständlich müssen Menschen, die für unsere Jeans und Hosen mit furchtbaren Schmerzen und bleibender Verstümmelung zahlen, auch finanziell entschädigt werden. Selbstverständlich müssen auch die Hinterbliebenen zerquetschter oder lebendigen Leibes verbrannter Mütter, Väter, Geschwister, Töchter oder Söhne entschädigt werden. Doch darf nicht sein, dass die Entschädigung ein Freikauf auf freiwilliger Basis bleibt. Auch darf nicht sein, dass Manager, die eigentlich in Haft zu nehmen wären, in ihrem für andere nachweislich mörderischen Job verbleiben. Es darf nicht sein, dass sie weitermachen können, nur weil die Gesetze fehlen, die Justiz und Polizei verpflichten würden, hier unnachsichtig tätig zu werden. Auch darf nicht sein, dass Entschädigungszahlungen zum Schmiermittel globaler Produktions- und Lieferketten werden, die weltweit Millionen Menschen erst ihre Würde und dann ihr Leben rauben.

Auf Initiative Südafrikas und Ecuadors berät die UNO jetzt einen „Global Treaty“, einen rechtlich bindenden Vertrag, der die Produktions- und Lieferketten nicht nur des Textilsektors der Geltung des Menschenrechts unterstellen soll. Er soll die Unterzeichnerstaaten, auch die Bundesrepublik Deutschland, rechtlich verpflichten, Verletzungen des Menschenrechts in vollem Umfang nachzugehen, die dafür verantwortlichen Verhältnisse politisch zu ändern und die dafür verantwortlichen Personen individuell zur Rechenschaft zu ziehen.

Man kann aber beruhigt davon ausgehen, dass die Verhandlungen in einem schlechten Kompromiss zu Ende gehen werden, der dann auch nur bedingt umgesetzt wird. Deutschland, die EU, die USA wollen sich gar nicht erst an den Gesprächen beteiligen: Das Recht auf Profit wird höher bewertet. Doch wird es dabei nicht bleiben. Denn irgendwann, da können wir absolut sicher sein, werden wir wieder schockiert die Nachricht eines Fabrikbrandes oder Fabrikzusammensturzes empfangen, den es aufgrund der freiwilligen Selbstverpflichtungen der verantwortlichen Unternehmen mit Sitz auch bei uns nicht hätte geben dürfen.

Die Zeit ist abgelaufen

Wir meinen Unternehmen wie KiK oder Adler Modemärkte (Deutschland), Auchan (Frankreich), Ascena Retail (USA), Benetton (Italien), Bonmarché (England), C&A (Belgien), Camaïeu (Frankreich), Carrefour (Frankreich), Cato Fashions (USA), El Corte Inglés (Spanien), Grabalok (USA), Gueldenpfennig (Deutschland), Iconix (Lee Cooper, USA), Inditex (Zara, Spanien), JC Penney (USA), Kappa (Italien), Kanz (Kids Fashion Group, Deutschland), L.C. Waikiki (Türkei), Loblaws (Kanada), LPP (Polen), Mango (Spanien), Manifattura Corona (Italien), Mascot (Dänemark), Matalan (England), NKD (Deutschland), Premier Clothing (England), Primark (England/Irland), PWT (Texman, Dänemark), The Children’s Place (USA), Walmart (USA) oder YesZee (Italien): allesamt auf die eine oder andere Weise verwickelt in das, was vor fünf Jahren geschehen ist. Brennt es wieder, stürzt noch einmal eine Fabrik zusammen, werden wir wieder vor der Wahl stehen, ob wir uns durch Entschädigungszahlungen, die es auch dann wieder geben wird, ruhig stellen lassen. Oder ob wir vielleicht dieses Mal Gesetzesinitiativen, die es dann wieder geben wird, endlich zum längst fälligen Durchbruch verhelfen. Für heute bleibt festzuhalten, dass die Zeit der freiwilligen Selbstverpflichtungen der genannten und anderer Unternehmen vor fünf Jahren bereits abgelaufen war.

PS: Auf Initiative von Überlebenden und Hinterbliebenen von Ali Enterprises läuft am Landgericht Dortmund ein Prozess von vier Betroffenen aus Karatschi gegen den Discounter KiK, dem mutmaßlich einzigen Auftraggeber der abgebrannten Fabrik in Karatschi, verwickelt auch bei Tazreen Fashion und bei Rana Plaza. Der Prozess wird von medico international und dem European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR) unterstützt, die Kläger*innen gehören der Baldia Town Fire Affectees Association an, die mit der Hilfe des medico-Partners National Trade Union Federation (NTUF) gebildet wurde. Der Prozess wird in diesem Jahr hoffentlich zu Ende gehen, sein Ausgang ist offen. Wie auch immer er ausgehen wird, er wird den Nachweis führen, dass wir zureichende gesetzliche und mit ihnen politische Regelungen brauchen, wenn die Entwürdigungen, das Sterben und die physischen und psychischen Verstümmelungen in den Weltmarktfabriken nicht einfach weitergehen sollen.

Veröffentlicht am 24. April 2018
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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