Nach zwei Jahren ist der israelische Vernichtungskrieg in Gaza insofern vorbei, dass spärliche Hilfslieferungen eintreffen und die Bombardierungen nicht unablässig stattfinden. Die deutschen Eliten in Politik, Medien und Kultur atmen auf. Man spürt ihre Hoffnung, der Rachefeldzug für den 7. Oktober könnte ein Betriebsunfall gewesen sein und sie könnten möglichst schnell zur Tagesordnung übergehen. Alles wird wieder gut, auch Deutschland. Es ist eine Hoffnung mit angehaltenem Atem. Ist das globale Gedächtnis für das Grauen von Gaza kurz genug?
Man muss davon ausgehen, dass der Mainstream in Deutschland in seiner Verblendung auf dieses Vergessen setzt. Russland-Angst und Migrationsfeindlichkeit bestimmen jedenfalls weiterhin die Debatte. Schon melden sich Stimmen im Politikbetrieb, die die Abhängigkeit des deutschen Militärs von israelischen Hightech-Waffen behaupten und deshalb auf eine schnelle Normalisierung der Beziehungen zu Israel setzen. Kanzler Merz hat bereits angekündigt, dass er keine Initiative der EU, die auf die israelische Regierung Druck ausüben könnte, durchgehen lassen wird. Die völkerrechtliche und ethische Frage, inwieweit sich Deutschland der Komplizenschaft an einem Krieg schuldig gemacht hat, der einen tiefen Bruch der Nachkriegsordnung darstellt, wird hierzulande gar nicht erst diskutiert.
Der Weg in die Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Hierzulande heißt das: Die israelische Sicherheit ist deutsche Staatsräson. Als Altkanzlerin Merkel diesen Satz in Israel sagte, schien er eher eine rhetorische Figur zu sein. In ihrem Diskurs ließ er sich noch mit der Öffnung der Grenzen verbinden. Er war noch nicht Teil des Antimigrationsdiskurses. Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger bedankte sich 2016 im Deutschen Bundestag für dieses Zeichen der Mitmenschlichkeit und Großherzigkeit. Merkel ließ sich auch von der Kritik des jüdischen Zentralrats in Deutschland nicht abschrecken, der damals vor einem Anstieg des Antisemitismus in Deutschland wegen der vielen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten warnte.
Anders als der damalige Vorsitzende Ignatz Bubis, der einer der Ersten war, der beim Angriff auf die Flüchtlingsunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen auftauchte, profiliert sich Josef Schuster, seit 2014 amtierender Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, als steter Warner vor Migration. Während Bubis für ein Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden stand, die sich in solidarischer Beziehung mit anderen Minderheiten inmitten einer deutschen Mehrheitsgesellschaft sah, steht Schuster für eine fragwürdige deutsch- jüdische Renaissance. Ihr Fundament besteht in der Ablehnung der muslimisch geprägten Einwanderung. Das wäre eine Randbemerkung, würden die israelische Botschaft und ein derart aufgestellter Zentralrat nicht in erheblichem Maße die Israel- Politik der Bundesregierung bestimmen.
Schon vor dem Gaza-Krieg ist Deutschland still und leise ein anderes Land geworden. Erinnerungspolitische Kämpfe waren zwar bis Ende der 1980er-Jahre vom kulturellen Umsturz der 68er geprägt. Sie waren staatsfern und regierungskritisch. Spätestens mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes wurde diese Erinnerungskultur allerdings staatliche Geschichtspolitik. Weizsäcker erklärte den 8. Mai zum Tag der Befreiung – auch für die Deutschen. In der Frage, warum die deutschen Eliten angesichts des Gemetzels in Gaza moralisch so versagen, spielt diese Rede durchaus eine Rolle. Beredt ist, was Weizsäcker wegließ: Nämlich die Verwicklung seiner Familie in die NS-Verbrechen. Sein Vater stand in Nürnberg vor Gericht und wurde von ihm höchstpersönlich dort verteidigt. Wenn man sich heute fragt, wieso die Vertreter: innen deutscher Institutionen glauben, dass sie diejenigen sind, die am besten beurteilen können, wer als antisemitisch zu gelten hat, dann ist diese Auslassung Weizsäckers eine wichtige Spur. Antisemiten sind stets die anderen, nicht man selbst. Diese offenkundige Projektion führt unter vielen jungen Deutschen auch heute noch zu der Annahme, dass ihre Urgroßeltern nicht in Nazi-Kriegsverbrechen verwickelt gewesen seien. Hinter dieser Abwehr der eigenen, eben auch persönlichen Geschichte, die eigentlich eine ständige Selbstbefragung über Generationen hinweg verlangen würde, verbirgt sich die politisch- moralische Identität der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft bis zur „Wende“. Die guten Beziehungen mit Israel, die von gegenseitigem wirtschaftlichen und für Deutschland auch moralischem Nutzen waren, ersetzten die Selbstbefragung. Als Hannah Arendt 1948 Deutschland bereiste, war sie entsetzt über das verbreitete Selbstverständnis der Deutschen, die sich vor allen Dingen als Opfer sahen: Opfer Hitlers, Opfer der Bombenkriege, Opfer der Besatzer. Gegen diese Täter-Opfer- Umkehr helfe nur eine Revolution, schrieb sie damals, in bitterer Kenntnis der antirevolutionären deutschen Geschichte.
Die 68er hatten es wenigstens versucht. Ihre kulturellen Errungenschaften wurden eingemeindet, ihre revolutionären Fragestellungen abgewickelt. Bei Weizsäcker war die NS-Zeit nur noch ein „Irrweg“, von dem wir befreit wurden. Die Rede formulierte einen neuen Konsens, der die Antagonismen zwischen den Genrationen und politischen Parteien überbrücken sollte, schrieb der Medienwissenschaftler Schüttpelz in der Berlin Review. Der Widerstand bis hin zu den Kommunisten fand in der präsidialen Rede anerkennende Worte. Wer sich für eine gerechte Erinnerungskultur einsetzte, schien hier erfolgreich angekommen. Nun stellt aber Schüttpelz die Frage, ob in dieser Rede mit ihren Auslassungen und mit der Wiederholung der „ganzen, ambivalenten deutschen Verdrängungsmaschinerie“ begründet liegt, warum ausgerechnet die Ewiggestrigen überlebt haben. Die AfD steht in Deutschland ante portas.
In der Weizsäcker-Rede taucht schon auf, was später kennzeichnend für die staatstragende Erinnerungskultur sein sollte, die nach 1990 das identitäre Fundament des neuen Deutschlands ausmachte. Die Beziehungen zu Israel und das Wiederentstehen der jüdischen Gemeinden durch Sonderregelungen für jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion waren nun nicht mehr Interessenspolitik, sondern der moralische Garant, dass Deutschland seine Geschichte bewältigt hatte. So entstand der Erinnerungsweltmeister Deutschland, mit dem sich selbst Rechtskonservative anfreunden konnten. Das war eine verblüffende Entsorgung der Vergangenheit, indem man ihre Bewältigung zum Marketing machte: Made in Germany.
Nun konnten weder Weizsäckers Rede noch der sogenannte Historikerstreit 1986 ff. vorhersehen, wie sehr sie die Grundlagen für eine staatstragende Erinnerungspolitik im neuen Deutschland sein würden, ja sogar eine Art „Nationbuilding“ des wiedervereinigten Deutschlands begründen sollten. Denn mit der Wiedervereinigung, die zugleich den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR auslöschte, wurden Geschichtspolitik und Erinnerungskultur zu den zentralen Projektionsflächen für ein Deutschland, das aus seiner Geschichte gelernt hatte. Es ging darum zu beweisen, dass von dem größer gewordenen Deutschland keine militaristische oder nationalsozialistische Gefahr ausgeht, dass Deutschland wieder gut geworden war. Von der DDR blieb nichts außer dem Ampelmännchen. Der Wiedervereinigungsprozess verschluckte sie und spuckte sie als Unrechtsstaat mitsamt ihrem antifaschistischen Beginn wieder aus.
Erinnerungskultur befasste sich von nun an vor allen Dingen mit der Schoah als singulärem Verbrechen, als Zivilisationsbruch, und erließ damit ein Vergleichsverbot. Antifaschistischer Widerstand kam nicht mehr vor, die Rolle der Sowjetunion bei der Beendigung der NS-Herrschaft reduzierte sich auf die auf ehemaligen KZ-Geländen errichteten Zwangslager nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Antizionismus der DDR wurde als linker Antisemitismus gelesen und somit das ganze linke universalistische Judentum sozialistischer Provinienz mitverteufelt. Ob das so geplant war, weiß man nicht. Es hat sich so ergeben. Dieses an Eindeutigkeit kaum zu überbietende Geschichtsbild hat die deutsche Politik in ihrer Ausrichtung noch westlicher gemacht. Die schöne Idee vom gemeinsamen Haus Europa, die der damals in Westdeutschland extrem beliebte Sowjetführer Gorbatschow wie eine Monstranz vor sich hertrug, machte sich das neue Deutschland nicht zu eigen. Daran anknüpfend hätte man sich statt der Holocaust-Erinnerung, die sich in einen Fetisch verwandelt hat, auch eine andere Art Nationenwerdung Deutschlands vorstellen können. So aber hatte der gute Westen gegen den bösen Osten gewonnen. Das deckte sich mit dem allgemeinen Selbstverständnis der westlichen Hegemonie.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Berufung auf die Schoah als singuläres Menschheitsverbrechen zur neuen Legitimationsgrundlage Deutschlands, als Land der Täter, und des Westens wurde. Diese Universalisierung ermöglichte es, andere Menschheitsverbrechen wie die des Kolonialismus und der Sklaverei hintanzustellen und so schließlich den Diskurs der weißen Überlegenheit zu stärken. Weiß gelesene Menschen waren zum Opfer des größten Menschheitsverbrechens geworden. Man muss in der Überlebenden- Literatur wirklich lange suchen, um eine solche Wahrnehmung bei den Holocaust- Opfern selbst zu finden. So stritt Simon Wiesenthal immer dafür, auch die Vernichtung von Sinti und Roma sowie psychisch beeinträchtigter Menschen als Teil des Holocausts, nämlich als Intention der völligen Vernichtung dieser Menschen, einzubeziehen. Auch der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit seinen Millionen Toten und damit einer besonders brutalen Form des Siedlerkolonialismus fiel nach 1990 aus der staatlichen Gedenkkultur heraus. Der Zusammenhang von Judenvernichtung und Antibolschewismus wurde nicht weiter untersucht. Erst dieses Jahr erschien das Buch „Ein Krieg wie kein anderer“ des deutschen Historikers Jochen Hellbeck, der in den USA lehrt und es auf Englisch geschrieben hat. Er fordert darin nicht weniger als eine Revision der deutschen Geschichtsschreibung bezüglich dieses Krieges und seiner Zusammenhänge mit dem Holocaust. So etwas schreibt sich offenbar leichter mit großem Abstand zur deutschen Debatte.
Während die Erinnerungskultur von unten seit 1990 versuchte, sich der Opfer im Singular zu erinnern, Stolpersteine verlegte und Gedenkstätten mit den Namen aller jüdischen Opfer errichtete, instrumentalisierte die Politik die offizielle Gedenkkultur zur Legitimation westlicher Hegemonie. Sie schien die moralische Überlegenheit des Westens zu beweisen und der Bundesrepublik darin einen führenden Platz einzuräumen. Geschichte wurde mit einer Star-Wars-Romantik als ewiger Kampf des Guten gegen das Böse inszeniert. Eine bleierne Moral des „Nie wieder“ entstand. Nur der Wes- 11 ten definierte, wo Auschwitzvergleiche angebracht waren. Völker- und Menschenrecht wurden im Mund geführt. Aber sie wurden durchwirkt von einem Humanitarismus der weißen Bevormundung.
Wer sich diese Geschichte vergegenwärtigt, versteht das Drama der Gegenwart. Wenn in der Adenauer-Ära Politik Interessenspolitik war, also auch die Beziehungen zu Israel wenig Moral und viel Win-win beinhalteten, wurde Politik in den 1990er-Jahren zur reinen Moral: Wir – die Deutschen, der Westen – sind die Guten, die anderen die Bösen. Die Probe aufs Exempel waren die Beziehungen zu Israel. Die Weltordnung wurde entlang einer Linie gezogen nach dem Motto: Steht ihr an der Seite der größten Opfer oder nicht? So simpel könnte man erklären, warum Westeuropa und die USA es für eine gute Idee hielten, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) – die eigentlich versuchte, antisemitische Israel-Kritik zu definieren – zur generellen Grundlage für die Definition von Antisemitismus zu machen. Bis zum israelischen Feldzug gegen die Bevölkerung von Gaza trat sie einen weltweiten Siegeszug in vielen nationalen Parlamenten an.
Das alles ist Vergangenheit. Der „Westen“ steht mit seiner unverbrüchlichen Unterstützung Israels (Ausnahmen waren Schweden, Island, Spanien und Irland) isoliert da und ist moralisch vollends delegitimiert. Die Palästina- Frage ist zurück in der Weltpolitik. Jetzt also wird im globalen Raum verhandelt werden, was die westliche Erinnerungskultur geflissentlich außen vor ließ: Kolonialismus und Sklaverei. Der Anti-Antisemitismus hingegen ist autoritär geworden. Die Antisemitismusbeauftragten, die in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schießen, sind ihr Durchsetzungsorgan. Manche sagen schon: Berlin ist nicht mehr Kulturhauptstadt, sondern Zensurhauptstadt. Das ist das Schlimmste, was der Antisemitismusbekämpfung passieren konnte. Wer deshalb eine neue Welle des Antisemitismus befürchtet, tut dies nicht zu Unrecht.
Trotzdem gibt es kein Zurück vor Gaza. Das moralische Versagen vergisst sich nicht. Deutschland hat sein Ansehen verspielt. Ein wie auch immer neu zu gründender planetarischer Universalismus, der die Hinterlassenschaften von Kolonialismus und NS-Verbrechen überwindet, findet nicht mehr unter westlicher Vorherrschaft statt, ja nicht einmal unter Zuhilfenahme des europäischen aufklärerischen Denkens, es sei denn, es dekolonisiert sich. Es ist Zeit, sich von der Idee des absolut Guten und Bösen als Richtschnur des politischen Denkens zu trennen. Hierzu gehört, sich von ihren Begründungen zu verabschieden: der Opfer-Kult und der Opfer-Konkurrenz. Stattdessen könnte die Grundlage lauten: Nie wieder gilt für alle.
Heute gilt es zu erkennen, dass auch die linke Gegenkultur auf eine vereinfachte Abgrenzung von der NS-Zeit und den heutigen Nazis setzt. Mit der Verwandlung der Erinnerungskultur in offizielle Geschichtspolitik und nationale Identität ist sie jedoch für einen kritischen Diskurs und für viele Kämpfe unbrauchbar geworden. Daraus ergeben sich viele Fragen, denen man sich nun radikal stellen muss. Nicht nur die Herrschenden haben ihre moralische Legitimation verloren, sondern auch Linke, die sich mit der Erinnerungspolitik in ihrem „Gut-Sein“ eingerichtet haben. Wer sich diesen Fragen auch an das eigene politische Selbstverständnis nicht stellt, der kommt – das hat schon Gorbatschow gesagt – zu spät und den bestraft das Leben.
Der Große Kanton – The Rise and the Fall of the BRD
Internationale Konferenz in Zürich, 5. und 6. Dezember 2025
Gemeinsam mit Diaspora Alliance, ETH Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste veranstaltet medico Anfang Dezember 2025 die Konferenz „Der Große Kanton The Rise and the Fall of the BRD“. Mit Gästen aus aller Welt wollen wir eine Archäologie der Nachkriegsdebatten in Deutschland vornehmen - wissend, dass jetzt die Nachkriegszeit endgültig vorbei ist. Und damit alle Prämissen, mit denen sich Deutschland in die Welt gestellt sah. In Zeiten schwindender westlicher Hegemonie müssen diese Fragen radikal und frei von allen Denkverboten gestellt werden.
Mit Adam Tooze, Ana Teixeira Pinto, Anselm Franke, Behzad Karim-Khani, Daniel Marwecki, Danilo Scholz, Diedrich Diederichsen, Dirk Moses, Emily Dische-Becker, Eran Schaerf, Erhard Schüttpelz, Eva Menasse, Eyal Weizman, Katja Maurer, Nahed Samour, Patrick Bahners, Philip Ursprung, Schirin Amir Moazami, Sima Luipert, Simon Strick, Stefanie Schüler-Springorum, Sultan Doughan, Teresa Koloma Beck, Tsafrir Cohen, Yassin Elhaj-Saleh und anderen
- Weitere Informationen zur Konferenz unter dergrossekanton.ethz.ch
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