In Lentas, einem kleinen Küstenort im Süden Kretas, steht an dem kleinen Dorfstrand Sonnenschirm an Sonnenschirm. Die Restaurants mit Meerblick sind gut gefüllt. Anders als im Norden sind hier vor allem Individualtourist:innen unterwegs. Althippies, Wildcamper:innen und Rucksackreisende genießen Sonne und Natur. Aber dieses Jahr kommen nicht nur Tourist:innen aus Deutschland, Holland oder Skandinavien – der Süden Kretas wird zum Ankunftsort einer neuen Fluchtroute von Ostlibyen über das Mittelmeer. Kleine überfüllte Holzkähne stranden hier, etwa 15 Meter lang, mit 50 bis 100 Menschen an Bord.
Odysseas Tsapakis betreibt im Nachbardorf die Bar Memorys. Es gibt Pizza, Bier und Livemusik. "Die meisten Menschen kommen aus dem Sudan oder aus Ägypten, manchmal sind auch Frauen mit kleinen Kindern dabei", erzählt er. Wenn ein Boot ankommt, rufen ihn seine Nachbar:innen direkt an. Gemeinsam mit seinem Vater heißt Odysseas Tsapakis die Menschen willkommen, bietet ihnen Wasser, Brot und sanitäre Anlagen an. Alles ehrenamtlich und auf eigene Kosten. Seine Nachbar:innen seien skeptisch, teilweise sogar verängstigt. Einem Interview stimmen sie nicht zu. “Wenn sie dann sehen, wie jemand hilft, spürt man, dass sie tief in ihrem Inneren auch helfen wollen – aber sie schämen sich oder machen sich Sorgen, was die anderen über sie sagen würden", mutmaßt Odysseas.
Die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtenden ist im Vergleich zum letzten Jahr zwar tendenziell gesunken, doch auf Kreta steigt sie. Und das mitten in der Hochsaison.
Migrationsfeindliche Politik als Ablenkungsmanöver
Anfang Juli beschloss die rechtskonservative Mitsotakis-Regierung deswegen ein Maßnahmenpaket. Für drei Monate werden die Asylverfahren für Menschen, die von Nordafrika auf Kreta ankommen, ausgesetzt. Die Geflüchteten werden fortan in geschlossenen Lagern inhaftiert und sollen ohne Registrierung so schnell wie möglich in ihr Herkunfts- oder Abreiseland zurückgeführt werden. Der Migrationsminis-ter Thanos Plevris erhielt für diesen Plan die Zustimmung des Parlaments. Ob er vor den Gerichten standhalten wird, ist unklar.
“Meiner Ansicht nach ist diese Praxis ganz offensichtlich illegal", sagt die Juristin Katerina Drakopoulou vom Greek Council for Refugees. Sie ist überzeugt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss kommen wird, dass die neue Regelung rechtswidrig ist und so nicht angewendet werden darf. Außerdem hält sie die ‘alle-abschieben’-Regelung von Plevris für nicht umsetzbar. “Ich bezweifle, dass sein Plan realistisch ist – etwa im Fall von Sudanes:innen. Eine Rückführung dorthin halte ich für nicht durchführbar", sagt sie. Drakopoulou beschreibt die jüngste Verschärfung der Asylrechte als einen weiteren Schritt in Richtung Kriminalisierung von Geflüchteten und kündigt an, unter Umständen auch rechtlich dagegen vorgehen zu wollen.
Schon vor der Regeländerung trieb sie und auch die medico-Partnerorganisation de:criminialize eine weitere Problematik um: "Viele junge Sudanes:innen – einige davon sogar minderjährig – werden vor Gericht als Schleuser oder Helfer von Schleusernetzwerken angeklagt." Bislang wurde noch keine:r der Angeklagten freigesprochen, die Gerichte berücksichtigen nicht, dass sie sich in einer Notlage befinden und vor Krieg flüchten. In Ostlibyen leben die Geflüchteten meist unter unmenschlichen Bedingungen, es wird von Zwangsarbeit und Gewalt berichtet. Wer sich die teure Überfahrt nicht leisten kann, wird von den Schleusern gezwungen, das Boot zu steuern. “Diese Menschen haben nichts mit organisierten Schleusernetzwerken zu tun, sie sind schlicht arm und auf Schutz angewiesen”, betont die Juristin.
Im Schnitt werde eine Person pro ankommendes Boot von der Küstenwache festgenommen und in Bussen erst zur Nordküste Kretas transportiert und dann einige Tage in einem der drei provisorischen Lager untergebracht. Durch die neue Regelung landen nun alle Geflüchteten automatisch in Abschiebehaft – ohne Überprüfung eines möglichen Anspruchs auf Asyl. Die griechische Öffentlichkeit nimmt in der Regel keine Notiz von dieser staatlichen Aussetzung des Rechtsanspruches. Stattdessen wird eine vermeintliche Gefahr durch die Geflüchteten herbeigeredet. Katerina Drakopoulou vermutet, dass der Zeitpunkt der neuen Regelung kein Zufall ist. Kurz zuvor hatte die Veruntreuung von EU-Agrarsubventionen die griechische Öffentlichkeit bewegt. Es soll dabei um mehrere Hundert Millionen Euro gehen. Mittendrin im Skandal: die Insel Kreta. Öffentliche Stellen hatten die Anzahl der Ziegen und Schafe auf der Insel bewusst aufgebläht, um so mehr Geld aus dem EU-Topf abzuzwacken.
"Vor der neuen Asylregelung war dieser Skandal ganz oben auf der Agenda. Nun wird Migration genutzt, um davon abzulenken", sagt Giannis Vasilakis und fährt fort: “Man stellt Geflüchtete als ein Problem dar, das die Gesellschaft spaltet – und plötzlich redet niemand mehr über etwas anderes." Vasilakis lebt in Rethymno, eine Stadt an der Nordküste von Kreta mit verwinkelten Gassen und unzähligen Souvenirshops. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen versucht Vasilakis aufzutreiben, was die frisch ankommenden Geflüchteten brauchen: Schuhe, Kleidung, Spielsachen für die Kinder. Vor wenigen Wochen haben die griechischen Beamt:innen ein provisorisches Lager für Geflüchtete auf einer Wiese nahe einem Wohngebiet in Rethymno errichtet. Noch am gleichen Tag versammelte sich davor ein Mob wütender Menschen. "Da standen 200 Leute vor dem Camp – mit dem erklärten Ziel, die Geflüchteten zu vertreiben", erzählt Vasilakis. Die Situation sei so weit eskaliert, dass der Mob aus wütenden Bürger:innen und griechischen Neonazis Brandsätze auf die Zelte des Camps geworfen haben. “Viele hier, die keine Geflüchteten wollen, argumentieren mit dem Tourismus: Die Urlauber:innen bräuchten Ruhe und Sicherheit. Aber das ist unsinnig. Es gibt kein Problem mit den Geflüchteten", urteilt der Inselbewohner.

Tourist:innen ja, andere Gäste nein
Wenn Tourist:innen nicht per Zufall an der Südküste die Ankunft eines Bootes mit-kriegen, geht die Wahrscheinlichkeit gegen Null, dass sie die ankommenden Geflüchteten überhaupt auf Kreta sehen. Die Übergangslager sind geschlossen und abseits der Tourismushochburgen. Trotzdem hat der Verband der Tourismusunter-nehmer:innen einen Brief verfasst, in dem sie monieren, sie wollen keine Geflüchteten auf Kreta.
In der Altstadt von Chania stolpern sich Tourist:innen aus aller Welt über die Füße. Restaurants, Bars und kleine Läden säumen die kleinen Gassen. Ein Musiker zupft auf seinem Laouto markante Töne kretischer Volksmusik. "Wir sehen keine Geflüchteten, wir haben keine Angst vor irgendjemandem und wir sind auch nicht in Gefahr", sagt eine französische Urlauberin. Sie findet, es sei kein Argument, wegen des Tourismus einen härteren Kurs gegen Flüchtende zu fahren. "Es ist wichtig, Menschen, die in ihrem Land in Gefahr sind, aufzunehmen."
Auch wenn die Details der Umsetzung der neuen Asylregelung unklar bleiben, für Katerina Drakopoulou ist sich weiterhin sicher: “Wir stehen bereit, um die notwendigen rechtlichen Schritte einzuleiten – etwa die Registrierung der Anträge von Menschen zu verlangen, die Asyl beantragen möchten, und falls das nicht geschieht, entsprechende juristische Maßnahmen zu ergreifen." Die Juristin wird auch in Zukunft die Rechte derer verteidigen, denen sie genommen werden.
Die Recherchereise wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.
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