Sri Lanka

Epizentrum einer globalen Krise

Folgt Sri Lankas Niedergang dem Bankrott des Libanon und Haitis, gilt schon als ausgemacht, dass viele Länder des globalen Südens ähnlichen Zusammenbrüchen entgegengehen.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Anfang Juli schon war für die Washington Post nicht die Ukraine, sondern Sri Lanka das „Epizentrum einer globalen Krise.“ Noch vor kurzem mit China, Brasilien, Südafrika und nur neun weiteren Ländern des globalen Südens als „upper middle income country“ eingestuft, taumelt das Land dem ökonomischen Aus entgegen. Überschuldet bereits aus dem 2009 so blutig wie teuer beendeten ethnischen Krieg, brachte die Corona-Pandemie Sri Lankas Haupteinnahmequellen zum Versiegen, den Tourismus und die Rücküberweisungen seiner vergleichsweise gut ausgebildeten, deshalb oft besser verdienenden Arbeitsmigrant:innen.

Zeitgleich führte das Verbot der Verwendung chemischer Dünger zu einer Missernte bisher ungekannten Ausmaßes: ökologisch legitimiert, sollte das Verbot nur kaschieren, dass die Devisen des nahezu vollständig importabhängigen Landes schon im letzten Jahr gegen Null tendierten, der Ankauf von Dünger ebenso unmöglich war wie der von Treibstoff und Medikamenten.

Heute ist der Staat bankrott, erzielt Einnahmen nur noch, wenn er die Notenpresse in Gang setzt, um neue Rupien zu drucken: eine international nahezu wertlose Währung. Die Inflation liegt bei 80 Prozent, die Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt. 70 Prozent aller Bewohner:innen des Landes können täglich wenn überhaupt dann nur noch eine Mahlzeit zu sich nehmen. Aufgrund des Mangels an Benzin und Diesel kommt der motorisierte Verkehr zum Erliegen. Sieben, acht, neun Stunden täglich wird der Strom abgestellt. Die Schulen sind seit Wochen geschlossen, die Krankenhäuser erklären sich außer Stande, Patient:innen angemessen zu versorgen. Dass in den letzten Monaten offiziell 400.000 Menschen des 21 Millionen Einwohner:innen zählenden Landes ihre Anstellung verloren haben, besagt insofern wenig, als 70 Prozent aller Beschäftigten ihr Einkommen ohnehin in informellen Jobs verdienen, bei denen Anstellung und Entlassung gar nicht gezählt werden.

Janatha Aragalaya – der Volkskampf

Bringt man dieses Horrorszenario auf seinen Punkt, dann ist nicht verwunderlich, dass Sri Lanka seit Anfang April zur Bühne einer Revolution geradezu klassischen Stils geworden ist. Rekapitulieren wir auch die politische Krise im Schnelldurchlauf: 2019 noch wird die mit kurzen Unterbrechungen seit 2002 regierende Rajapaksa-Familie mit einer 2/3-Mehrheit bestätigt. Demokratisch ins Amt gebracht, regiert sie vor allem deshalb autoritär, weil sie sich als Regierung allein der singhalesisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft versteht: der tamilisch-hinduistischen wie der muslimischen Minderheit bietet sie nichts als bedingungslose Unterwerfung unter der Kontrolle des hochgerüsteten Militärs an.

Jetzt aber kündigt ihr eben diese singhalesisch-buddhistische Mehrheit die Unterstützung auf. Nach wochenlangen Protesten beruft Präsident Gotabaya Rajapaksa seinen einzig ernst zu nehmenden Widersacher Ranil Wickremesinghe ins Amt des Premierministers, bietet die Bildung einer All-Parteienregierung an. Nach diesem Überraschungscoup flauen die Proteste von einem Tag auf den andern ab – um sich nach kurzer Unterbrechung ungebrochen zurückzumelden: Gota soll gehen, Ranil soll gehen.

Zum 9. Juli wird eine Großdemonstration angekündigt und postwendend verboten. Das zuständige Gericht hebt das Verbot auf: Eine Million Menschen versammeln sich auf den Straßen der Hauptstadt Colombo zur größten Demonstration der Geschichte Sri Lankas. Mit dem Präsidentenpalast werden weitere zentrale Regierungsgebäude besetzt, die Privatresidenz des Premierministers in Brand gesetzt: die Bilder vom Bad der Besetzer:innen im Swimmingpool des Präsidenten gehen um die Welt. Der Präsident flieht aus dem Land, findet nach mehrtägigem Irrflug Asyl in Saudi Arabien: das passt.

Die fortgesetzten Proteste sind maßgeblich selbstorganisiert, unabhängig auch von den Parteien der Opposition. Koordiniert werden sie von einer Art Versammlung in Permanenz, die auf einer seit Monaten schon besetzten Strandpromenade tagt, dem Galle Face Green, das sich jetzt „GotaGoGama“ nennt: „Gota-geh-nach-Hause-Dorf“. Der Sturmlauf der Revolution bringt dann ausgerechnet Ranil Wickremesinghe in die erste Reihe: Protagonist der reichen und hochgebildeten Elite, seit 1978 ununterbrochen Abgeordneter des Parlaments, seit 1993 sechs Mal Premierminister, seit dem heutigen 20. Juli durch Votum einer Sondersitzung des Parlaments erstmals Präsident. Gewählt vor allem mit den Stimmen der Rajapaksa-Partei SLPP.

Bemerkenswert: nicht eine seiner vielen Amtszeiten hat Wickremesinghe bis zum vorgesehenen Ende überstanden. Bemerkenswert weiter: 2002, im zwanzigsten Jahr des insgesamt dreißigjährigen internen Kriegs, handelte er mit der Guerilla der Tamil Tiger einen Waffenstillstand aus und damit die Möglichkeit einer Befriedung des ethnischen Konflikts. Gestürzt wurde er damals nicht nur vom singhalesisch-buddhistischen Nationalismus, sondern auch auf Betreiben der gerade erst in den „Krieg gegen den Terror“ aufgebrochenen USA.

Epizentrum einer globalen Krise

Wie lange Ranil jetzt regieren wird, ist im Moment völlig ungewiss. Unmittelbar nach seiner Wahl versammeln sich Demonstrant:innen auf verschiedenen Plätzen Colombos, vereint jetzt im neuen Schlachtruf „Ranil, go home“. Die Ungewissheit gibt uns die Möglichkeit, auf die Einsicht der Washington Post zurückzukehren, nach der nicht die Ukraine, sondern Sri Lanka „Epizentrum“ der weltweiten Krise sei – bedingt allerdings durch die Verwerfungen, die die Zerstörung der Ukraine überall zur Folge hat.

Laut Wikipedia bezeichnet das Epizentrum eines Erdbebens den Punkt der Erdoberfläche, der senkrecht über dem Tiefenherd des Bebens im Erdinneren liegt. Folgt Sri Lankas Niedergang dem vorausgegangenen Bankrott des Libanon und Haitis, gilt heute schon als ausgemacht, dass gleich mehrere, in mittlerer Frist aber viele Länder des globalen Südens ähnlichen Zusammenbrüchen entgegengehen. Wenig überraschend nennt die Washington Post im ersten Zug Kenia, Äthiopien und Somalia. Im Gespräch ist nicht zuletzt Pakistan, ein Land, das militärisch zwar atomar gerüstet, doch ökonomisch ruiniert ist. Sein vor kurzem abgewählter, wahrscheinlich aber bald ebenfalls ins Amt zurückkehrender Regierungschef Imran Khan hatte im letzten Jahr, inmitten der der Corona-Pandemie, dringlichst um Entschuldung gebeten: entgegengekommen sind ihm der IWF, die Weltbank und der globale Norden nicht wirklich.

Lässt man die Unterschiede zwischen den genannten und einer Reihe anderer Länder für einen Augenblick außer Acht, erschließt sich unmittelbar, dass hier der Punkt genannt ist, von dem der Begriff des Epizentrums eines Bebens handelt – der Punkt, um den aktuell in Colombo gerungen wird. Schließen wir kurz die Augen und malen uns aus, dass die Demonstrant:innen der Vier-Millionen-Stadt auch Ranil zu Fall bringen, dass sie zum politischen Wiederaufbau ihres Landes wie seit Monaten gefordert eine neue Verfassung verabschieden und eine Regierung bilden, die einer solchen wirklich demokratischen, auch plurinationalen Verfassung verpflichtet sein wird: Welche Chance hätten diese Verfassung, diese Regierung, ohne eine Entschuldung? Seit Monaten schon verlassen Hunderte Sri-Lanker:innen ihr Land, um sich anderswo Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Ihre Wahl mag nicht die edelste sein: Unrecht haben sie nicht.

Veröffentlicht am 20. Juli 2022
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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