Guatemala

Enttäuschte Hoffnung

Am 29. Dezember 1996 beendete die Unterzeichnung der Friedensverträge den jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Guatemala. Heute ist die Bilanz ernüchternd.

Von Knut Henkel

„Diario Militar“ heißt das 53-seitige Heft. Mit der Schreibmaschine getippte Visitenkarten befinden sich darin, jede mit einem Foto versehen, oft mit einer Nummer und teilweise mit einem Zahlencode. Einer aus der Liste war Amancio Villatorre. Dessen Identität konnten die Expert:innen der Stiftung für forensische Anthropologie (FAFG) 2008 lüften. Auf die Überreste Villatorres, Generalsekretär der Gewerkschaft beim Kaugummihersteller Adams in Guatemala-Stadt, waren die Forensiker der Stiftung in einem Massengrab auf einem ehemaligen Militärgelände nahe Chimaltenango gestoßen. Irritiert hat sie nicht nur die ungewöhnlich große Statur des Mannes, sondern auch seine Hose. „Das war eine Levis Jeans und so etwas war damals rund um den Fundort im guatemaltekischen Hochland ungewöhnlich“, so Katia Orantes, Mitarbeiterin der FAFG.

Die Stiftung hat ihre Zentrale in Guatemala-Stadt, am Rande des historischen Kerns in einem einfachen, dreistöckigen Wohnhaus. Dort befindet sich auch das Museum, das auf Wunsch der Angehörigen von Villatorre eingerichtet wurde. Über Jahre hat die Familie nach dem linken Gewerkschafter gesucht, den die Militärs als mutmaßlichen Guerillakämpfer eingestuft hatten, konnte ihn aber nicht finden. Dass der 47-jährige Familienvater zu den rund 45.000 im guatemaltekischen Bürgerkrieg (1960-1996) gewaltsam Verschwundenen gehören könnte, hatten sie bereits vermutet. Doch Sicherheit brachten erst die Recherchen der FAFG-Forensiker, die seit 1992 in Guatemala vor allem auf Wunsch der Angehörigen im Einsatz sind. Sie werden nicht vom guatemaltekischen Staat finanziert, sondern über internationale Spenden, so der ehemalige FAFG-Direktor José Suasnavar.

Der Archäologe arbeitet seit 1997 für die FAFG und ihm bedeutet die Arbeit mit den Angehörigen viel. „Sie bringen uns oft auf die Spur: Massengräber auf Militärgelände, geheime Friedhöfe oder schnell gebuddelte Grabstätten in Wäldern. Die gibt es nach wie vor. Wir sind längst nicht am Ende der Recherche, aber sie wird immer schwieriger“, so der 52-jährige Wissenschaftler mit bitterer Mine. Geld ist knapp, so dass die Stiftung in den letzten fünf Jahren ihr Personal von 150 auf rund sechzig Mitarbeiter:innen reduzieren musste. Ein Grund für das sinkende Spendenaufkommen ist auch die Tatsache, dass die FAFG weniger stark in Erscheinung getreten ist. So gab es in den vergangenen drei Jahren keinen großen Kriegsverbrecher-Prozess, wo die FAFG mit Expertise, Rekonstruktionen und Fakten in Erscheinung trat. Auch eine Folge des politischen Kurses der Regierung von Alejandro Giammattei, die wie jene seines Vorgänger Jimmy Morales die Nähe zu den Militärs sucht und als korrupt gilt. Keine guten Voraussetzungen, um Licht in die von den Militärs verübten Menschenrechtsverbrechen im Bürgerkrieg zu bringen.

Ein letzter bedeutender Bürgerkriegsprozess?

Gleichwohl steht für Anfang 2022 in Guatemala ein Mammutprozess an, in dem es auch um den Fall Amancio Villatorre geht. Angeklagt sind insgesamt elf ranghohe Militärs, die als Verfasser des „Diario Militar“ gelten. „Militärisches Tagebuch“ heißt das auf Deutsch und ist letztendlich eine geheime Todesliste, auf der die Namen von 183 Menschen, unter ihnen 27 Frauen, stehen, die zwischen 1983 und 1985 verschwunden sind. Verhandelt wird der Fall an einem  der drei Strafgerichtshöfe für Kapitaldelikte (Tribunales de Mayor Riesgo). Sie wurden auf den Rat der UN-Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG) vor zehn Jahren eingerichtet und gelten heute als letzte Bastion der unabhängigen Justiz. Mit Richter Miguel Ángel Gálvez wird das Verfahren ein Richter leiten, der als brillant und obendrein als unbestechlich gilt.

Mit seiner Weisung, die elf Militärs, von denen sich einige in medizinischer Behandlung befinden, in Untersuchungs- und nicht in häusliche Haft zu verfrachten, lieferte Gálvez bereits einen ersten Beweis seiner Unabhängigkeit. Genau das ist in Guatemala spätestens seit dem Abzug der CICIG, die das Justizsystem des Landes starken sollte und das auch überaus effektiv tat, seltener geworden. Seit dem Rauswurf der CICIG im September 2019 läuft ein Rollback im Justizsektor, für den die Flucht ins Exil der ehemaligen Generalstaatsanwältin Thelma Aldana genauso steht wie die der Verfassungsrichterin Gloria Porras und die des Leiters der „Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit“ (FECI), Juan Francisco Sandoval. Die drei werden nicht die letzten sein, prognostizieren Juristen wie Paula Barrios oder Michael Mörth. Der Druck auf Richter:innen wie Erika Lorena Aifán oder Yassmín Barrios ist derzeit immens und es wird mit allerlei rechtlichen Winkelzügen versucht gegen sie vorzugehen. „Der Grund dafür ist einfach: Sie stehen der Übernahme der Justiz im Wege, die immer weiter unter Kontrolle der Regierung und des Paktes der Korrupten gelangt“, so Paula Barrios.

Die Anwältin hat in einem anderen historischen Mammutprozess Recht erstritten: für die Frauen von Sepur Zarco. Zu Beginn der 1980er Jahre waren fünfzehn indigene Frauen von Soldaten in der Region El Estor von Soldaten sexuell versklavt worden, nachdem die Männer von mehreren von ihnen gewaltsam verschwunden gelassen worden waren. Sie hatten sich für Landrechte engagiert, was damals in  den Augen von Militärs und Großgrundbesitzern bereits als Aufruhr galt, so Paula Barrios. Das Urteil aus dem Februar 2016 gilt zwar als wegweisend, denn die Täter, zwei Militärs, wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, aber die zuständigen Ministerien haben bis heute die gerichtlich fixierten Reparationsleistungen nicht erbracht. Dazu gehört nicht nur der Erwerb von Land für die Frauen, sondern auch die Errichtung einer Gedenkstätte, eines Krankenhauses und die Verbesserung der Bildungssituation in der abgelegenen indigenen Gemeinde, kritisiert die Anwältin und Koordinatorin von „Frauen transformieren die Welt“.

Für sie ist der Friedensprozess stecken geblieben. „Die Bilanz ist eher ernüchternd und ich glaube, dass in der Regierung und in den Ministerien das Bewusstsein, dass es diesen blutigen und überaus brutal geführten Konflikt gab, und dass es diesen Jahrestag der Unterzeichnung eines progressiven Friedensabkommens gibt, nur bedingt vorhanden ist“. Das historische Datum jährt sich am 29. Dezember zum 25. Mal und wie in jedem Jahr wird im Kulturpalast, wo das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, am Monument für den Frieden eine weiße Rose niedergelegt. Dazu wird vielleicht auch Präsident Alejandro Giammattei auftauchen, sicher ist das aber nicht.

Sicher dabe sein wird Rigoberta Menchú, die 1992 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsaktivistin. Sie war im Februar 2016 auch regelmäßig beim Sepur Zarco-Prozess anwesend und prognostizierte schon damals, dass es schwierig werden könnte, das Urteil umzusetzen. Eine Vorahnung, die sich weitgehend bestätigt und für Paula Barrios Hintergründe hat. „In Kolumbien sind die ersten Erfahrungen mit einer Sonderjustiz durchaus erfolgreich. Wir haben alles unserer von Diktaturen und Militärs geprägten Justiz überlassen, sie versucht zu reformieren und sind damit aus heutiger Sicht gescheitert“, analysiert Barrios. Ein bitteres Fazit, das allerdings auch viel zu tun gehabt hat mit fehlendem internationalem Rückhalt.

Eine Gesellschaft dominiert vom „Pakt der Korrupten“

Tatenlos haben die USA und auch die Europäische Union zugesehen als es 2017 und 2018 drauf ankam und Präsident Jimmy Morales, eine Marionette der Militärs, der CICIG den Laufpass gab. Da wäre ein Wink aus dem Weißen Haus durchaus hilfreich gewesen. Doch der kam nicht, moniert Menschenrechtsexpertin Claudia Samayoa. „Als Gesellschaft haben wir uns in den 25 Jahren deutlich weiter entwickelt. Heute wissen die Menschen, dank der CICIG, die unzählige Korruptions-Fälle aufdeckte, wie die Eliten und die Militärs sich den Staat einverleiben: Nur fehlt uns das richtige Instrumentarium dagegen vorzugehen“.

Das zeigen die letzten Wahlen 2015 und 2019, als konservativ und letztlich korrupt gewählt wurde. Das war fatal für die Umsetzung des durchaus zukunftsweisenden Friedensabkommens, das Maßnahmen für Akzeptanz und Förderung indigener Identität genauso vorsieht wie die Lösung der Landfrage und sozioökonomische Förderprogramme. „Doch wenig bis gar nichts wurde umgesetzt und mit der Auflösung der Institutionen, die für deren Implementierung zuständig waren, wie das Sekretariat für Agrarangelegenheiten, wurde der Prozess endgültig abgewürgt“. Die Unterschrift dafür leistete im Mai 2020 der amtierende Präsident Alejandro Giammattei. Der hat ohnehin wenig für Sozialprogramme übrig und setzt auf Privatisierung der letzten staatlichen Infrastruktur. Die Lösung der einseitigen Landverteilung, eine Ursache des Bürgerkriegs, gehört somit nicht auf seine Agenda.

Überraschen mag angesichts dieser Konstellation, dass in Guatemala noch einmal ein Megaprozess über Bürgerkriegsverbrechen ansteht. Doch der ist nicht ganz freiwillig von der Justiz anberaumt und dafür ist Amancio Villatorre mitverantwortlich. Der am 30. Januar 1984 spurlos verschwundene Gewerkschafter mit der dunkel getönten Brille und den zurückgekämmten schwarzen Haaren wurde am 3. September 2003 in gut zwei Meter Tiefe neben vier weiteren Leichen auf dem Militärgelände nahe Chimaltenango gefunden. Mehrere Jahre dauerte es dann noch bis anhand von DNA-Analysen die Identität von Villatorre festgestellt werden konnte. Das war die Grundlage, um seinen und einige weitere Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens aus dem „Diario Militar“ vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Ein juristischer Erfolg, der in Guatemala nicht überall gern gesehen wurde.

Die Richter der höchsten juristischen Instanz der Region sprachen nämlich 2012 den guatemaltekischen Staat des gewaltsamen Verschwindenlassens, der außergerichtlichen Hinrichtung und der Folter für schuldig. Zudem verurteilten sie die Justiz des Landes dazu, rund um das „Diario Militar“ zu ermitteln. Neun Jahre später kommt es nun zum Prozess. Für die Regierung und die Militärs ein unbequemes Verfahren, für die Opfer ein neuerlicher Hoffnungsschimmer. Allerdings nicht viel mehr. „Bisher ist ein breites Bündnis, das den politischen Wandel wie in Honduras auch in Guatemala initiieren könnte, nicht in Sicht. Das müssen wir bis zu den Wahlen 2023 lernen“, hofft Claudia Samayoa. Dann könnten noch einmal die progressiven Verträge des Friedenschlusses von 1996 auf die politische Agenda kommen.

Veröffentlicht am 20. Dezember 2021

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