Krieg in der Ukraine

Eine Bedrohung für soziale Gerechtigkeit weltweit

Die Auswirkungen des Krieges werden bald in jedem Dorf und jeder Stadt der Welt zu spüren sein – selbst wenn die Menschen nicht verstehen, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht.

Von Mark Heywood

Der Artikel erschien am 22. Februar 2022, also vor dem Angriff auf das gesamte Territorium der Ukraine.

Über Nacht wurde bekannt, dass der russische Präsident Wladimir Putin sein Militär angewiesen hat, in die von Russland kontrollierten Gebiete im Südosten der Ukraine einzumarschieren, nachdem er beschlossen hatte, Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anzuerkennen. Da der Konflikt auf beängstigende Weise zu eskalieren droht, ist es entscheidend, die wahren Hintergründe und Auswirkungen eines möglichen Krieges zu verstehen.

Sonntag, der 20. Februar sollte eigentlich der Welttag der sozialen Gerechtigkeit sein. Doch anstatt sich auf soziale (Un-)Gerechtigkeit zu konzentrieren – Hunger, Ungleichheit, eine Pandemie, die insbesondere auf den Armen lastet – lag die Aufmerksamkeit der Welt woanders. Die meisten internationalen Nachrichten konzentrierten sich auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine und die eskalierende Gefahr eines direkten oder stellvertretenden Krieges zwischen verschiedenen militärischen (oder wirtschaftlichen) Supermächten der Welt.

Für ein Land wie Südafrika, das in einer Vielzahl sozialer Krisen verfangen ist und Gefahr läuft, mit sich selbst im Krieg zu stehen, scheinen die Kriegstrommeln über der Ukraine nicht im Zusammenhang mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu stehen. Vielleicht sind sie zu leise und zu weit weg, als dass sie die Aufmerksamkeit wert wären.

Das sollten sie aber nicht sein.

Sollte ein Krieg ausbrechen, werden seine Auswirkungen bald in jedem Dorf und jeder Stadt Südafrikas und der Welt zu spüren sein – selbst wenn die Menschen nicht verstehen, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht.

Und das tun die meisten von uns nicht.

Während die Mainstream-Nachrichten zu dem verkommen, was der Journalist John Pilger "raw propaganda" nennt, haben aktive Bürger:innen ein Recht auf korrekte Informationen und Analysen. Wir sollten das, was wir in den globalen Medien lesen und sehen, nicht für bare Münze nehmen. Wir sind schon einmal über die wahren Gründe für Kriege getäuscht worden – erinnern Sie sich an die nicht existierenden Massenvernichtungswaffen im Irak?

Wir stehen kurz davor, uns erneut täuschen zu lassen.

Vor diesem Hintergrund ist es wieder einmal Aufgabe unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen und unabhängiger Medien, die Bürger:innen dazu zu bringen, tiefgreifendere Fragen über die Vorhaben unserer Regierungen zu stellen. Wie lässt sich die Wahrheit erkennen, wenn alle Seiten Lügen erzählen? Wessen unsichtbare Hand steckt in diesem Krieg, und was sind die tatsächlichen Motive und Interessen in diesem Konflikt?

Und wenn wir diese Fragen beantworten können, wie können dann wir, die Menschen, die den Preis zahlen werden, eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes verhindern?

Fangen wir mit ein paar Fragen an.

Einer derjenigen, die sich gegen diesen Krieg aussprechen, ist Andrew Feinstein, ehemaliger Parlamentsabgeordneter und Informant über den Waffenhandel in Südafrika. Heute arbeitet Feinstein für Shadow World Investigations. In seinem Buch und Film The Shadow World: Inside the Global Arms Trade hat er die globale Waffenindustrie genauestens durchleuchtet. Heute arbeitet Feinstein für Shadow World Investigations. In seinem Buch und Film The Shadow World: Inside the Global Arms Trade hat er die globale Waffenindustrie genauestens durchleuchtet.

In England, seinem aktuellen Wohnsitz, arbeitet Feinstein mit der Stop the War Coalition (SWC) zusammen, einer Bewegung, die sich gegen das richtet, was sie als "die Kriegssucht des britischen Establishments und seine Verschwendung öffentlicher Mittel für den Militarismus" bezeichnet. In einer Petition, die bereits von Tausenden von Menschen unterzeichnet wurde, heißt es: "Großbritannien sollte diplomatische Vorschläge unterbreiten, um die Spannungen zu entschärfen und eine Lösung für die Krise in der Ukraine zu finden, anstatt sie zu verschärfen."

Die SWC verweist auf die Rolle der britischen Regierung und der Rüstungsindustrie bei der Bewaffnung beider Seiten dieses drohenden Konflikts und zitiert Untersuchungen, die "zeigen, dass [seit 2010] Exportlizenzen für militärische Güter im Wert von 56 Millionen Pfund für Russland genehmigt wurden, im Vergleich zu 38 Millionen Pfund für die Ukraine".

Wir sollten uns auch fragen, ob es Zufall ist, dass drei der Hauptakteure in diesem Krieg – Wladimir Putin, Joe Biden und Boris Johnson – allesamt mit schweren innenpolitischen Krisen konfrontiert sind.

Putin, der gestörte totalitäre Kleptokrat und frühere KGB-Agent, hat die Krise ausgelöst.

Und Johnson scheint sie weiter anheizen zu wollen. Vor ein paar Tagen stand Johnson – bis zum Hals in Korruption und Vetternwirtschaft verstrickt – kurz davor, von seiner eigenen Partei als Premierminister abgesetzt zu werden. Jetzt sieht es so aus, als hätte er von Putin ein perverses Geschenk erhalten, mit dem er sein ramponiertes Image aufpolieren und sich wie ein Möchtegern-Churchill aufspielen kann. Das wird nicht funktionieren.

Bidens Popularität wiederum ist angesichts des Unvermögens seiner Präsidentschaft, viele der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der US-Gesellschaft zu bewältigen, im starken Abwärtstrend. Nach Afghanistan ist dieser Konflikt das Letzte, was er will. Aber der Druck, eine falsche Tapferkeit an den Tag zu legen, ist für alle gefährlich.

Das sind einige der Faktoren, die uns zu der Frage bringen sollten, was eigentlich hinter der Kriegstreiberei steckt.

In einem Artikel wird vermutet, dass der wahre Grund darin besteht, die Inbetriebnahme einer Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland zu verhindern, die das geopolitische Kräfteverhältnis langsam verändern wird. Ob das stimmt oder nicht, können wir (noch) nicht beurteilen. Andere führen die Angst Putins vor einer Annäherung der Nato an Russlands Grenzen an.

Die Gründe mögen mehrere oder alle der oben genannten sein. Aber das Mindeste, dessen sich der Westen schuldig gemacht hat, ist pure Heuchelei. Denn während Russland seit der Auflösung der Sowjetunion in mindestens drei Länder einmarschiert ist, sind die USA in mehr als 50 Ländern einmarschiert oder haben dort Regime gestürzt. Zudem unterhalten sie weltweit mehr als 800 Militärbasen.

Vereinfacht ausgedrückt scheint die Logik zu sein, dass die USA zwar in den Irak, Afghanistan und Libyen einmarschieren können, während Russland sich nicht auf ähnliche Argumente berufen und "zum Schutz seiner Sicherheit" in die Ukraine einmarschieren darf. Die Invasion in der Ukraine sollte vorbehaltlos verurteilt werden, aber mit zweierlei Maß zu messen, überzeugt nicht.

Global Governance und Menschenrechte in der Krise

Traurigerweise offenbart die sich verschärfende Krise um die Ukraine (wenn es denn tatsächlich um die Ukraine geht) all das, was mit der globalen Ordnungspolitik falsch gelaufen ist – so wie es Kriege immer tun. Sie macht erneut deutlich, wie das Völkerrecht und der Multilateralismus, insbesondere die Vereinten Nationen, gescheitert sind. Zur Erinnerung: Dieser Prozess beschleunigte sich, als die USA mit Unterstützung des Vereinigten Königreichs einseitig beschlossen hatten, in den Irak einzumarschieren, wie der angesehene britische Anwalt Philippe Sands in seinem 2005 erschienenen Buch „Lawless World: America and the Making and Breaking of Global Rules“ dokumentierte.

Über Nacht hat nun Russland begonnen, Teile der Ukraine zu besetzen. Der nächste Schritt des Westens wird sich in den kommenden Stunden und Tagen zeigen. Aber wir sollten beten, dass dieser Krieg nicht zu einem ausgewachsenen militärischen Konflikt eskaliert.

Mögen wir, die Menschen in der Welt, fragen dürfen, was die größere Bedrohung für die Sicherheit der Menschen ist: Russland oder die globale Erhitzung? Die Ukraine oder die fehlende Vorbereitung auf eine Pandemie?

Es geht NICHT darum, dass Russland nicht standgehalten werden sollte – das sollte es –, sondern darum, wie und von wem und durch welche Maßnahmen.

Noch bevor die ersten Raketen abgefeuert wurden, hat dieser Krieg einen schrecklichen Tribut gefordert: Milliarden von Dollar wurden in die Aufrüstung gesteckt und aus der Bekämpfung von Armut, Pandemien, Bildung, Ungleichheit und der wachsenden Klimakrise in einem entscheidenden Jahr abgezogen.

Noch vor knapp drei Monaten sträubten sich die Industrieländer auf der COP26 gegen die Kosten einer Energiewende von der Kohle zu den erneuerbaren Energien. Der 100-Milliarden-Dollar-Klimafinanzierungsfonds galt als unerschwinglich. Doch wenn es um Mittel für den militärisch-industriellen Komplex geht, spielen Kosten keine Rolle.

Und schließlich können wir es uns nicht leisten, dass unser Planet durch nationale und regionale Feindschaften noch weiter gespalten wird, während wir versuchen, Menschen auf der ganzen Welt zusammenzubringen, um uns den großen existenziellen Herausforderungen zu stellen, die den gesamten Planeten und die auf ihm gebauten Zivilisationen betreffen.

Dies sind einige der Gründe, warum der kommende Krieg eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist und eine Angelegenheit, die jeden in Südafrika betreffen sollte. Es kann nicht sein, dass wir in Südafrika nach der Wahrheit suchen, sie aber in anderen Ländern und Regionen der Welt ignorieren.

Es ist an der Zeit, dass die Bürger:innen der Welt die Hand ausstrecken, sich einbringen, zueinander finden.

Und schließlich hat sich unsere eigene Regierung bis jetzt still verhalten. Sie muss ihre Stimme finden. Aber wenn sie das tut, dann nicht auf der Seite Russlands oder der USA, sondern auf der Seite der Wahrheit, des Multilateralismus, des Friedens, der Menschenrechte und der besten Interessen des Planeten.

Übersetzung: Anna Pagel

Dieser Text erschien zuerst am 22. Februar auf der Seite des südafrikanischen Daily Maverick.

Veröffentlicht am 24. Februar 2022

Mark Heywood

Mark Heywood ist ein südafrikanischer Menschenrechtsaktivist mit dem Schwerpunkt auf das Recht auf Gesundheit. Er war Generalsekretär der Treatment Action Campaign, die sich für den freien und kostenlosen Zugang zu Aids-Medikamenten einsetzt, und stand bis 2019 der Nichtregierungsorganisation SECTION 27 vor, die mit Öffentlichkeitskampagnen und juristischen Mitteln für das Recht auf Gesundheit und Bildung streitet. Seitdem fungiert er als Mitherausgeber der neuen zivilgesellschaftlichen  Rubrik in der meistgelesenen Online-Zeitung Südafrikas, dem Daily Maverick, Maverick Citizen. Außerdem forscht er zu Aktivismus und Strategien zur Durchsetzung sozioökonomischer Rechte und der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik an der Verwirklichung dieser Rechte.


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