Südafrika

Ein aufgeschobener Traum

Nach den Unruhen ist das Land auf der Suche nach sich selbst.

Von Usche Merk

Meine südafrikanische Whatsapp-Gruppe explodiert – endlose Ströme von Nachrichten, Analysen, Kommentare, links, Webinare, Geschichten, Erklärungen, Bilder. Nach der Schockstarre während der tagelangen Unruhen, die erst allmählich in die internationale Öffentlichkeit gelangten, beginnt die Suche, das Erlebte zu begreifen, zu beschreiben, zu analysieren und vor allem, das Weiterleben und eine Perspektive zu organisieren.

Weit entfernt vom Ort des Geschehens bin ich doch mittendrin, wache auf mit den Nachrichten von Freund:innen und Kolleg:innen. „Viele Schüsse seit heute Morgen um 8“ – „Wir sind jetzt 100% im Haus“ – „Etwas geschieht hier, was alles verändert“ – und gehe mit ihnen schlafen – „Die Straßen sind gespenstisch leer, nur die selbsternannte Bürgerwehr fährt angsteinflößend umher und jagt Menschen, die sie Plünderer nennen“ – „Der einzig übrige Supermarkt hatte nur 2 Stunden auf und war fast vollständig leergekauft“.

Ich sammle Worte, Texte, Analysen, Kommentare, versuche sie zu sortieren, in eine Ordnung zu bringen, frage mich, ob das möglich ist. Die nüchternen Folgen der Unruhen: über 200 Tote, 55.000 Kleinhändler und 40.000 Geschäfte betroffen, 129.000 Jobs verloren, allein in der Provinz KwaZulu-Natal 89 Einkaufszentren zerstört, 45 Lagerhäuser, 22 Fabriken, 139 Schulen, selbst Gesundheitseinrichtungen.

Jetzt, nachdem äußerlich Ruhe eingetreten ist und das Aufräumen beginnt, wird die Verzweiflung, Wut, Verstörung und Fragmentierung erst richtig deutlich. Tshabalira Lebaheng, ein Community-Journalist aus Orlando in Soweto beschreibt, wie er auf die Suche geht, um etwas zu essen zu kaufen. Er findet weder einen funktionierenden Bankautomat noch irgendeinen Laden mit Lebensmitteln, dafür aber Kinder in verschmutzter Kleidung, die das letzte Metall aus dem zerstörten Bankautomaten reißen und behaupten, dass sie das verkaufen wollen. Am Ende braucht er die Hilfe einer Freundin aus einer Mittelschichtsgegend, wo die Infrastruktur noch intakt ist, um Lebensmittel zu besorgen.

Was ist geschehen? Es scheint, als ob sich verschiedene Prozesse übereinander geschoben haben. Es begann mit der geplanten Zerstörung systemrelevanter Infrastruktur zusammen mit Aufrufen auf sozialen Medien zu Plünderungen und Gewalt durch politisch-kriminelle Kreise, die mit den Unterstützerstrukturen für den korrupten Ex-Präsident Zuma verbunden sind. „Wer die Lieferkette beherrscht, beherrscht das Land: Dies ist ein Grundprinzip der Kriegsführung.“ So beschreibt es der Investigativjournalist Richard Poplak, der sich seit Jahren mit den Zuma-Interessensgruppen beschäftigt. „Und täuschen Sie sich nicht, es gibt einen Plan. Die Unruhen in KwaZulu-Natal sind weit mehr als ein politischer Protest oder eine spontane Äußerung lokaler Ängste. Unter dem Vorwand von Zumas Inhaftierung ließ ein großes, lokales Gangsternetzwerk seine Muskeln spielen und sagte: „Wir sind hier. Haltet uns auf, wenn ihr könnt.“ Die Antwort des Staates war ebenso blutleer wie klar formuliert: „Das können wir nicht. Helft euch selbst.“

Vor diesem Hintergrund, aber unabhängig davon, entstanden spontane Aufstände und Aneignungen, die viele als Hungerrevolte bezeichnen und die eine massive Eigendynamik annahmen, auch weil die Polizei nicht oder nur hilflos eingriff. Die sofortige Organisation von privaten Milizen der Geschäftsleute, die ganze Viertel abriegelten und Jagd auf jeden machten, den sie als Plünderer sahen, zeigte die massive private Bewaffnung der südafrikanischen Mittelklasse und ihre vielfältige Spaltung entlang rassifizierter Subgruppen, die sich gegenseitig bekämpften.

Hunger und Demütigung

„Die Unruhen haben nichts mit Zuma zu tun“, erklärt Abahlali baseMjondolo, die Bewegung der Bewohner:innen informeller Siedlungen rund um Durban, in der über 70.000 Menschen organisiert sind. „Armut und Hunger waren eine Bombe und der von Zumas Leuten verursachte Zusammenbruch der Ordnung zündete die Lunte. Überall sagten Menschen, die anfingen, Essen aus den Geschäften zu nehmen, dass sie hungern und nichts mit Zuma zu tun haben und nichts für ihn tun. Auch Migranten nahmen Essen mit. Jeder, der in Südafrika lebt, nahm Essen mit, denn das Thema war Hunger und Armut.“

Durch die Pandemie haben viele Menschen Arbeit und Einkommen verloren, mehr als 74 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos. Und im April dieses Jahres wurde im Zuge einer grausamen Sparpolitik das Gesundheitsbudget gekürzt und selbst die kleine Coronahilfe von 350 Rand (etwa 20 Euro) gestrichen. In einer aktuellen Ernährungsstudie wird die Zahl von 13 Millionen Menschen genannt, die nicht genug zu essen haben, das sind über 20 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung.

Doch geht es um mehr als um Hunger, es geht um die jahrzehntelange Demütigung der Armen durch die Eliten. „Sie sehen uns nicht“, schreibt Abahlali. „Wir haben immer davor gewarnt, dass die Wut der Armen in viele Richtungen gehen kann, dass wir auf einer tickenden Zeitbombe sitzen. Die Menschen können nicht weiter in schrecklicher Armut leben, nur um Jahr für Jahr ignoriert zu werden. Der Staat hat jedes Mal, wenn wir friedlich protestieren, mit Gewalt reagiert. Jedes Mal, wenn wir ein Memorandum abgeben, wird es in den Papierkorb geworfen. Jedes Mal, wenn wir uns in gutem Glauben an die Behörden wenden, werden wir nur belogen und betrogen. Unsere Häuser wurden wiederholt zerstört, in einigen Fällen mehr als 30 Mal und dabei wurden selbst Gerichtsbeschlüsse ignoriert.“

Für kurze Zeit haben die Unruhen ein grelles Licht auf eine Wirklichkeit geworfen, in der die Verachtung der Armen und das massenhafte Plündern öffentlicher und privater Ressourcen durch die Elite als Normalität betrachtet werden.

„Die ‚Lumpen‘ und die Elite plündern gleichermaßen“, schreibt der Kolumnist Busani Ngcaweni. „Sie tun dies je nach ihrer Nähe zu Macht und Ressourcen, die geplündert werden können, und ihrem unterschiedlichen Grad an (oder Mangel an) Raffinesse.“ In Vorstandsetagen und klimatisierten Hochhausbüros habe der Kapitalismus sein eigenes ausgeklügeltes und vor allem gesetzlich toleriertes System der Plünderung aufgebaut, „einschließlich der Fähigkeit, Ausschreibungen zu fixieren, Mieten zu erpressen, Geld ins Ausland zu verschieben oder dem Steuerzahler auszuweichen.“

Während jedoch die Elite ihre Millionen vermehrt, werden die Armen auch nach den Unruhen arm bleiben. „In der Tat wird unser Leben wahrscheinlich noch viel schlechter sein“, stellt Abahlali nüchtern fest. „Wenn man die Leute fragt, was sie nach den Unruhen essen werden, sagen sie, dass sie jetzt hungrig sind. Sie werden sagen, dass Hunger tödlicher ist als Covid. Wenn man sie nach den Menschen fragt, die ihre Arbeit verlieren, sagen sie, was ist mit unseren Kindern, die ihren Abschluss gemacht haben, aber keine Arbeit haben? Die Menschen schauen nur auf die Gegenwart und nicht auf die Zukunft. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie eine Zukunft haben.“

Suche nach der Zukunft

„Der Sturm wird sich legen“, prognostiziert der Erziehungswissenschaftler Jonathan Jansen und befürchtet: „Wir werden neu starten, als wäre nichts passiert und uns nicht mit den tieferen Ursachen befassen – bis es wieder passiert.“ Gleichzeitig werde intensiv nach klaren Deutungen der Explosion der Gewalt in den Gemeinden und die groß angelegten Plünderungen gesucht: „Die Erklärungen, die gegeben werden, sind atemberaubend in ihrer Bandbreite – Tribalismus, Terrorismus, Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, pandemischer Stress und mehr.“

Am Samstag nach den Unruhen gab es ein großes digitales Treffen von über 200 Aktivist:innen, die sich im weitesten Sinne der Linken zuordnen. Alle wollen mitreden, alle haben Erklärungen, Strategien, Vorschläge, wie es weitergehen soll. Die Diskussion wird zu einem Kraftakt für die Moderator:innen, der Chat läuft über mit Statements, Kommentaren, Wünschen und Konflikten. Alte Spaltungen, Auseinandersetzungen und Kommunikationsstile zeigen sich, reiben sich auf, bremsen die Energie, wirklich neu nachdenken und anders handeln zu wollen. Danach machen alle irgendwie weiter, ohne gemeinsame Aktionen oder Bündnisse.

Eine Revolte ohne Revolution nennt der postkoloniale Jurist Jaco Barnard-Naudé die Unruhen. Und er fragt, wie es weitergehen könnte. „Das Deprimierende aus Sicht der Linken (wenn es so etwas noch gibt) ist das völlige Fehlen einer positiven utopischen Alternative.“ Es gibt keinen Spielraum für Diskurse, viele versuchen, sich erstmal gegen die Gefahr neuer Gewalt entlang von rassistischen und ethnizistischen Spaltungen zu stemmen, die demokratische Verfassung und die Unabhängigkeit der Justiz zu verteidigen und ein garantiertes Grundeinkommen zu erkämpfen, um das Weiterleben zu sichern.

Teile und Herrsche

Abahlali verschickt einen neuen dringenden Aufruf zur Solidarität im Handeln: „Die Lage in Durban ist sehr ernst. Die Politiker und ihr Umfeld versuchen, die Menschen zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen, damit sie mit ihrer Plünderung fortfahren können. Wie üblich versuchen sie, die Armen zu spalten. Es werden Falschinformationen verbreitet, um Angst und Wut zu schüren. Über die sozialen Medien wird zur Gewalt und zum Krieg aufgerufen.“

Tiefsitzende Erinnerungen und Ängste vor rassistischer, xenophober, ethnizistischer und Gewalt zwischen verschiedenen Communities brechen bei vielen auf. In Texten drückt sich das Erschrecken aus. Der Journalist Mark Gevisser zerreißt die Selbsttäuschung der Mittelschicht, die behauptet, sie tue was sie kann, während „wir unser gutes Leben in der inbrünstigen Hoffnung leben, dass der dünne Boden nicht aufbricht und das Chaos darunter zum Vorschein kommt“.

Dazu die brutale Erkenntnis, dass die Geschichte in den Menschen steckt, in ihren Körpern, in der Gegenwart. „Keiner von uns, die wir heute leben, wird jemals einen Atemzug tun, der völlig losgelöst ist von dem Strudel aus Leid, Grausamkeit und Gewalt, den wir unser Land nennen. Die Geschichte sitzt uns in den Knochen und wir geben sie an unsere Kinder weiter“. Im Leitartikel von New Frame, einer digitalen Plattform für sozial engagierte Autor:innen, versuchen sie eine radikale Konfrontation mit der Frage, ob sie sich nicht eher an die Strukturen der Unterdrückung angepasst haben, anstatt sie zu überwinden. Ob sie sich genug gegen das Abdriften in eine Politik gewehrt haben, die den Nächsten gegen den Nächsten ausspielt, die darauf abzielt, das zu nehmen, was andere haben, anstatt aufzubauen, zu wachsen und willkommen zu heißen. „Wir schieben Worte aus unserem Mund in den digitalen Kreislauf. Aber wie viel von dem, was wir sagen, ist nur die abgedroschene Wiederholung eines leeren Dogmas, ohne Nachdenken? Nur ein unbewusster Versuch, Schutzwände zwischen uns und der Welt zu errichten, die uns die Last nehmen, klar sehen zu müssen? Wie oft steckt in der Verbreitung von Worten der aufrichtige Versuch, ihre alte Haut abzulegen und den Dingen ihren wahren Namen zu geben?“

Das politisch Unbewusste

Der Psychoanalytiker Wahbie Lang spricht von einem politisch Unbewussten, das sich in den alltäglichen Beziehungen und der Gewalttätigkeit der südafrikanische Gesellschaft ausdrückt, von der Master-Slave-Dialektik in der Psychologie der Kolonisierung, die sich in immer neuen Formen wiederholt und die analysiert werden sollte – „Nation on the couch“.

Andere erinnern an die scharfen Warnungen des 2012 verstorbenen südafrikanischen Intellektuellen und Befreiungskämpfers Neville Alexander. Er mahnt vor den Folgen der tief verwurzelten, ererbten rassifizierten Identitäten, die das Bewusstsein der Bevölkerung im kolonialen und durch die Apartheid geprägten Südafrika entstellt haben, wenn man sie nicht ernst nimmt und tiefgreifend abschafft. „Die meisten Südafrikaner glauben weiterhin an diese ‚Rassenkategorien‘, weil sie darauf konditioniert wurden, sie als real zu akzeptieren. Sie sehen die Welt weiterhin durch eine Brille, die durch das überholte Konzept der ‚Rasse‘ getönt ist. Vor mehr als 60 Jahren wurde ‚Rasse‘ als ‚der gefährlichste Mythos der Menschheit‘ bezeichnet. Nach dem transatlantischen Sklavenhandel in einer früheren Periode und in Nazi-Deutschland, Jugoslawien, Ruanda und an so vielen anderen Orten während des letzten Jahrhunderts kann niemand daran zweifeln, dass ‚Rasse‘ in der Tat eines der Streichhölzer ist, das die brillantesten Errungenschaften des menschlichen Geistes niederbrennen kann.“

Weiterleben

Die Feststellung von James Baldwin, dass nicht alles, was man sieht, verändert werden kann, aber nur das verändert werden kann, was man auch sieht, wird zum Leitbild der New Frame-Autor:innen: „Wir werden nicht in der Lage sein, all das zu ändern, dem wir uns jetzt stellen müssen. Aber ohne den Mut, uns dem zu stellen, was wir sind, was wir werden und wie verzweifelt und hässlich es ist, werden wir unseren Abstieg fortsetzen und so tun, als sei eine Art Erlösung in Sicht, die zwar nur teilweise, aber ausreichend sein wird, um weiterzumachen. Alles andere als ein tiefer Pessimismus gegenüber der Gegenwart und der Mut, aus diesem Pessimismus heraus zu denken und zu handeln, um soziale Hoffnung ohne Illusionen zu erzeugen, ist kriminell.“

Für Abhlali gibt es keine Alternative zum Handeln. Über zweihundert Hütten-Bewohner:innen haben in den Unruhen ihr Zuhause verloren, als Unbekannte ihre Siedlung anzündeten. Sie brauchen Essen und Hilfe, um ihre Unterkünfte wieder aufzubauen. Und sie brauchen solidarische Unterstützung bei ihrem Widerstand gegen Spaltungen und Fake News. „Wir haben genug von der Politik des Blutes. Wenn es den politischen Gangstern gelingt, die Armen gegeneinander aufzuhetzen, werden wir für immer unterdrückt sein.“

Als medico werden wir Abhlali unterstützen, in ihren Gemeinden Nothilfe zu organisieren. Wir werden die Kämpfe um ein garantiertes Grundeinkommen und eine gerechte Gesundheitsversorgung unserer anderen Partnerorganisationen weiter begleiten. Wir werden mitfühlen, mitleiden und über die Verzweiflung schreiben, die die Kolleg:innen in Südafrika aushalten müssen. Aber wir werden uns auch fragen, wann wir die Produktion von Sinn verweigern und den Pessismismus aushalten müssen.

Langston Hughes
What happens to a dream deferred?

Does it dry up
like a raisin in the sun?
Or fester like a sore—
And then run?
Does it stink like rotten meat?
Or crust and sugar over—
like a syrupy sweet?

Maybe it just sags
like a heavy load.

Or does it explode?

Veröffentlicht am 29. Juli 2021

Usche Merk

Usche Merk ist in der Abteilung für transnationale Kooperation seit 1995 zuständig für das Thema Psychosoziale Arbeit, außerdem ist sie verantwortlich für Projekte in Südafrika und Sierra Leone. Die Pädagogin und systemische Beraterin hat drei Jahre lang beim medico-Partner Sinani in Südafrika in der Friedensarbeit mit gewaltgeprägten Gemeinden gearbeitet. Daneben unterstützt sie als Supervisorin und Trainerin Menschen, die in Krisenregionen oder mit Flüchtlingen arbeiten.


Jetzt spenden!