Moria

Bewusstes Sterbenlassen

Die EU und Deutschland nutzen die Coronakrise, um die Menschen an ihren Grenzen im Dreck zu Grunde gehen zu lassen.

Von Ramona Lenz

„Wir begannen, unser Leben im Elend zu organisieren, wir versuchten, unsere Würde zu schützen, aber wir können nicht gegen ein Virus kämpfen ohne minimale Hygienestandards“, schreiben Flüchtlinge aus Moria in ihrem Appell an die EU und die Bundesregierung. Seit Wochen nehmen sie die Corona-Prävention in dem vollkommen überfüllten Lager auf Lesbos selbst in die Hand. Nun drängen sie darauf, mit dieser Verantwortung nicht länger allein gelassen zu werden. Alte, Kranke und Kinder sollen evakuiert und für die anderen endlich eine gute Versorgung mit Lebensmitteln sowie gute hygienische und medizinische Bedingungen sichergestellt werden. Zumindest solange die Pandemie anhält. Denn auf Dauer sollte kein Mensch in einem Lager leben. Corona führt uns gerade deutlich vor Augen: Dichtgedrängt und ohne Zukunftsperspektive in einem Dauerprovisorium leben zu müssen, ist per se gesundheitsgefährdend.

Mehr als 20.000 Flüchtlinge sind es in Moria, über 35.000 insgesamt auf den griechischen Inseln. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. In der Sahelzone nimmt die Zahl der Hungernden und Vertriebenen derzeit stark zu. Terrorist_innen versuchen im Windschatten der Pandemie Geländegewinne zu verzeichnen. Auch in Libyen, wo vor den Augen der Weltöffentlichkeit tausende Menschen seit Jahren in Folterlagern gequält werden, eskaliert der Krieg, während alle über Corona reden. Und seit Jahren sitzen Hunderttausende in den größten Flüchtlingslagern der Welt fest: in Kutupalong in Bangladesch zum Beispiel, in den riesigen Lagern Kenias und Ugandas oder auch in Syrien und seinen Nachbarländern. Hinzu kommen Millionen von Menschen in den Slums des globalen Südens. Wenn Corona hier ausbricht, werden die Folgen verheerend sein.

Und worüber redet Deutschland? Über 50 Flüchtlingskinder, die man nach monatelangem Ringen und in viel geringerer Zahl als ursprünglich geplant nun endlich handverlesen aus den griechischen Lagern evakuiert. Ein minimales Zeichen der Humanität, während gleichzeitig die Abschottung Europas mit aller Härte vorangetrieben wird. Dank Corona geschieht die tödliche Flüchtlingsabwehr an Europas Grenzen in diesen Tagen noch unverblümter als zuvor: die lebensgefährlichen Pushbacks an den Landesgrenzen oder auf hoher See, auf dem Balkan, in der Ägäis oder auf dem zentralen Mittelmeer. Illegale und bewusst Menschenleben gefährdende Maßnahmen. Sie geschehen seit Jahren, aber sie erfahren unter den Vorzeichen der Seuchenbekämpfung eine neue Dynamik und Legitimierung.

Ganz egal, wo das Epizentrum der Pandemie liegt: Es sind die Elenden der Welt, die zur Bedrohung erklärt und bekämpft werden. Dabei waren es nicht mittellose Flüchtlinge und Migrant_innen, die maßgeblich zur rasanten Verbreitung des Virus beigetragen haben, sondern eher die Privilegierten der Welt: Tourist_innen, Geschäftsleute und andere viel Reisende. Während Deutschland dennoch zügig und ohne Widerstände 200.000 Urlauber_innen aus aller Welt zurückholte, ist die Aufnahme von ein paar Flüchtlingskindern aus Griechenland hoch umstritten. Es wird gefragt, ob es sich dabei wirklich um Kinder handelt oder nicht doch schon um Jugendliche und ob sie auch wirklich genug mitgemacht haben, um als vulnerabel zu gelten. Gleichzeitig ruft die Bundesregierung Rettungsschiffe aus dem Mittelmeer zurück und stellt das Resettlementprogramm des UNHCR zur humanitären Flüchtlingsaufnahme ein. Das ist Rassismus und bewusstes Sterbenlassen unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung.

Diktaturen nutzen die Corona-Krise, um sich unliebsamer Regime-Kritiker_innen in überfüllten Gefängnissen zu entledigen. Die EU und Deutschland nutzen die Krise, um die Menschen an ihren Grenzen im Dreck überfüllter Lager und in den Fluten des Meeres zu Grunde gehen zu lassen. Dabei wäre eine dezentrale Flüchtlingsaufnahme eine wichtige und wirkungsvolle Maßnahme zur Eindämmung des Virus. Ebenso wie der Erlass von Schulden, um den Ausbau funktionierender Gesundheitssysteme im globalen Süden zu ermöglichen. Dazu müssten wir uns aber endlich von der nationalistischen und rassistischen Abschottungslogik befreien. Wir müssten verstehen und akzeptieren, dass die Welt unentwirrbar verflochten ist und dass wir globale Antworten auf globale Probleme brauchen. Sich selbst mit allen Mittel vor dem Virus schützen zu wollen, während andere an den Nebenwirkungen unserer Schutzmaßnahmen sterben, ist durch nichts zu rechtfertigen.

medico international unterstützt die Selbsthilfe der Geflüchteten in Moria, die die Menschen im Lager in verschiedenen Sprachen aufklären, wie sie sich und andere vor dem Virus schützen können. Mit Megaphonen und Plakaten vermitteln sie Verhaltensregeln. In einem provisorischen Atelier sind andere dabei, Atemschutzmasken zu nähen, die dann im Lager verteilt werden.

Veröffentlicht am 16. April 2020

Ramona Lenz

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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