Der Westsaharakonflikt dauert nun seit über 50 Jahren an. Ausgangspunkt war die Invasion Marokkos in das Gebiet 1975. Seitdem steht das völkerrechtlich verankerte Selbstbestimmungsrecht des sahrauischen Volkes einem territorialen Anspruch Marokkos gegenüber. Trotz der Zurückweisung dieses Anspruchs durch den Internationalen Gerichtshof 1975 wurde er faktisch zur Grundlage der anhaltenden marokkanischen Besatzung. Die Westsahara ist ein dünn besiedeltes Wüstengebiet südlich von Agadir entlang der Atlantikküste, geteilt durch einen über 2000km langen, militärisch gesicherten Sandwall. Ruft man Google Maps in Marokko auf, so fehlt die gestrichelte Grenzlinie zur Westsahara, die Nutzer:innen in Deutschland und anderen Ländern sehen.
Die im Zuge des 1991 ausgehandelten Friedensprozesses eingerichtete UN-Mission MINURSO sollte durch ein Referendum den Sahrauis die Wahl zwischen Unabhängigkeit oder Integration in Marokko ermöglichen. Dieses Versprechen wurde jedoch untergraben: Seit 2006 verweigert Marokko systematisch die Option der Unabhängigkeit. Der dadurch zementierte Status quo bedeutet Militärbesatzung, gezielte Ansiedlungspolitik, Ausbeutung von Rohstoffen und Repressionen gegen sahrauische Aktivist:innen. Daraus folgt auch, dass ein erheblicher Teil der sahrauischen Bevölkerung in Flüchtlingscamps im Südwesten Algeriens verbleibt. Dort unterhält die sahrauische Befreiungsbewegung Frente POLISARIO, laut UN die legitime Vertreterin der Sahrauis, ihren Exilstaat, die Demokratische Arabische Republik Sahara, die sie 1976 ausgerufen hat.
Abkehr vom Selbstbestimmungsprinzip?
Am 31. Oktober 2025 verlängerte die Resolution 2797 des UN-Sicherheitsrates wie jedes Jahr das Mandat der MINURSO. Dieses Mal enthielt sie jedoch eine gravierende Neuerung: Erstmals wurde der marokkanische Autonomieplan von 2007 als „Basis für eine gerechte und von beiden Seiten akzeptierte Lösung“ erwähnt. Das Papier spricht von „echter Autonomie“ als der „realistischsten Lösung“, und verweist dabei auf die UN-Charta (S/RES/2797(2025)). Hauptinitiatoren der Änderung waren die USA und Frankreich.
Die Frente POLISARIO sieht ebenso wie mehrere UN-Mitgliedstaaten und Völkerrechtler:innen einen klaren Widerspruch in der Formulierung: Nach dem Dekolonisierungsprinzip der UN-Charta hat das sahrauische Volk das Recht, frei über seine politische Zukunft zu entscheiden, einschließlich der Option auf Unabhängigkeit. Eine Abstimmung ausschließlich über eine Selbstverwaltung unter marokkanischer Souveränität würde dieses Recht beschneiden und nicht erfüllen. So verschiebt die Resolution die politischen Handlungsspielräume deutlich zugunsten Marokkos, ohne dabei den völkerrechtlichen Status des Gebietes zu klären. Gleichzeitig hätte ein Nein zur Resolution jedoch die Nicht-Verlängerung der UN-Blauhelmmission zur Folge gehabt, die trotz ihrer Schwächen als deeskalierend wahrgenommen wird.
In Marokko wurde die Resolution erwartungsgemäß als politischer Sieg gefeiert und der Tag zum nationalen Feiertag erklärt, während Sahrauis in den Camps und in Europa gegen die Resolution protestierten. Die Frente POLISARIO und ihr Verbündeter Algerien lehnen den neuen Kurs entschieden ab und bestehen darauf, dass die Autonomie nicht die einzige Verhandlungsgrundlage sein darf.
Was bedeutet „Autonomie“ – und für wen?
Der marokkanische Autonomievorschlag von 2007 umfasst nur wenige Seiten und bleibt in seiner praktischen Ausgestaltung sehr vage. Eine ausführlichere Fassung soll nun von der CORCAS erarbeitet werden, einem vom König eingesetzten Gremium, das weder unabhängig noch repräsentativ ist. Angesichts staatlicher Repressionen gegen Sahrauis und des Ausschlusses unabhängiger Menschenrechtsbeobachter:innen aus der Westsahara fehlt die Vertrauensgrundlage für einen glaubwürdigen Autonomiestatus. „Echte Autonomie“, würde einen hohen Grad politischer Selbstverwaltung erfordern, das heißt eigene Verwaltung, Gesetzgebung und finanzielle Autonomie. Knackpunkte sind dabei die Zusammensetzung der zukünftigen Regierung sowie die verlässliche Teilhabe der Sahrauis, die in den besetzten Gebieten inzwischen in der Minderheit sind. Mit der Wiedereingliederung der im Exil lebenden und politisch organisierten sahrauischen Bevölkerung will sich Marokko jedoch erst befassen, wenn diese der Autonomielösung zugestimmt hat. Auch die Frage der finanziellen Autonomie ist zentral. Dabei wird die seit 2011 eingeleitete Dezentralisierung in Marokko bereits vom fehlenden politischen Willen der Zentralregierung ausgebremst, insbesondere die fiskalpolitischen Reformen. Ein funktionierendes Autonomiemodell erscheint unter diesen Bedingungen unrealistisch.
Der Wegfall der Unabhängigkeitsoption schränkt das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis und die Verhandlungsmacht der Frente POLISARIO massiv ein. Bereits 2006 hatte sie einem Autonomievorschlag zugestimmt, jedoch nur als Übergangslösung vor einem Referendum, was die Machtverhältnisse bei einer Verhandlung etwas nivellierte hätte. Unter den aktuellen Bedingungen ist zu befürchten, dass die Laufzeit der MINURSO und die humanitäre Hilfe für die Flüchtlingscamps bei den vorgesehenen Verhandlungen als Druckmittel genutzt werden, indem die weitere humanitäre Versorgung der sahrauischen Bevölkerung an die Zustimmung ihrer Regierung für den Autonomie-Plan gekoppelt wird.
Die sahrauische Journalistin Asria Mohamed Taleb fasste unlängst für das Medium OkayAfrica die Machtverhältnisse pointiert zusammen: „Saharauis spielen die Karte des Rechts, und Marokko macht REALE Politik.“ Junge Sahrauis in Deutschland, wie Emma Lehbib, weisen auf die Bedeutung alternativer diplomatischer Wege hin, etwa über die Afrikanische Union, während Aktivist:innen in den Camps wie Selma Deddi auf die stärkere Mobilisierung der Basis und von diasporischen Netzwerken bauen.
Geopolitische Funktionalisierung
Bereits in seiner ersten Amtszeit nutzte US-Präsident Donald Trump den Westsahara-Konflikt strategisch: Im Rahmen der Abraham Accords 2020 erkannte die US-Regierung Marokkos Souveränität über die Westsahara als Gegenleistung für die Anerkennung Israels an. Dies stieß sowohl bei Sahrauis als auch in Marokko und Palästina auf Kritik. Seitdem hat sich die militärische Zusammenarbeit zwischen Israel und Marokko vertieft. Nach marokkanischen Verstößen gegen das Waffenstillstandsabkommen, kehrte die POLISARIO 2020 zum bewaffneten Widerstand zurück. Marokko setzt inzwischen israelische Drohnen in der Westsahara ein, die zunehmend auch im eigenen Land produziert werden.
Europa, insbesondere Deutschland, reagierte kritisch auf die Anerkennung der marokkanischen Souveränität durch die USA. Als Reaktion darauf fror Marokko im März 2021 die Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen ein und berief seine Botschafterin für ein Jahr zurück. Deutschlands Bemühungen um Deeskalation zeigten sich unter anderem in der geringen Berichterstattung über die diplomatischen Spannungen. Im Mai 2021 öffnete Rabat dann für einen Tag die Grenze zur spanischen Exklave Ceuta, um durch das Durchlassen von Geflüchteten politischen Druck auf Spanien auszuüben. Dieses Vorgehen wurde von der deutschen und spanischen Regierung zwar verurteilt, im Rahmen der Wiederannäherungsprozesse an das marokkanische Königshaus sprachen sich beide Länder schließlich doch für die Autonomielösung aus. Gleichzeitig wirken marokkanische Lobbyisten in den USA auf Gesetzesinitiativen hin, um die Frente POLISARIO auf die Terrorliste zu setzen. Auch in Deutschland tauchte die Frente POLISARIO 2023 im Kontext von „Iran-gestützen Terrororganisationen“ in einer parlamentarischen Anfrage auf, obwohl es keine Belege für terroristische Aktivitäten gibt.
Das Einlenken der europäischen Politik auf die Interessen der marokkanischen Regierung hängt primär mit ihren geopolitischen und ökonomischen Interessen zusammen: Marokko ist ein zentraler Partner bei der Absicherung der vorverlagerten europäischen Außengrenze, bei der Anti-Terror-Kooperation im Sahel sowie bei der Versorgung europäischer und globaler Märkte mit Phosphat, Fisch, landwirtschaftlichen Produkten und zukünftig auch grüner Energie aus der besetzten Westsahara.
Trotz einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von 2024, die Handelsabkommen mit Marokko illegal erklärte, erneuerte die EU kürzlich die Verträge, ohne dabei die Zustimmung des sahrauischen Volkes einzuholen, wie vom EuGH gefordert. Dies verdeutlicht, wie wirtschaftliche Interessen den Konflikt politisch absichern. Die sahrauische Aktivistin Najla Mohamed-Lamin schrieb dazu: „Wir zahlen dafür, dass spanische Strände frei von Migrant:innen sind und Spanier:innen Cherrytomaten und Fisch haben. Wenn westliche Regierungen Kritik üben, nutzt Marokko wirtschaftliche Interessen, um sie zu bestrafen.“
Die Sahrauis warnen die internationale Gemeinschaft und die ehemaligen Kolonialmächte, dass eine realpolitische und unilaterale Lösung zugunsten der Besatzungsmacht das Völkerrecht und das Selbstbestimmungsrecht zu „unrealistischen Idealen“ degradiert. Das internationale Völkerrecht werde weiter destabilisiert.
Derweil harrt die Mehrheit der Sahrauis in den Flüchtlingscamps in Algerien aus, trotz marokkanischer Bemühungen, sie als Staatsbürger:innen zu gewinnen, und obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten einzelne ehemalige POLISARIO-Mitglieder dem marokkanischen Regime angeschlossen haben. Ihr Verbleib in den Camps ist ein deutliches Zeichen ihres legitimen Widerstands und ihres fortdauernden Kampfes für das Selbstbestimmungsrecht.

