Essay

Aus dem Krieg desertieren

Warum um es sich beim Krieg in der Ukraine um einen Krieg um die Weltordnung handelt.

Von Sandro Mezzadra

Der Krieg in der Ukraine, mit seinen verheerenden und für alle sichtbaren Folgen für die Zivilbevölkerung, ist zweifellos ein europäischer Krieg. Auch wenn «eurasische» Vorstellungen wie die von Aleksandr Dugin, eines innerhalb des Establishments um Vladimir Putin immer mehr an Einfluss gewinnenden neurechten «konservativen Revolutionärs», Russland aus kultureller und «geopolitischer» Sicht als einen autonomen Raum darstellen, bleibt das Land ein integraler Bestandteil Europas. Freilich in einer besonderen Weise: Seit dem 18. Jahrhundert richte sich, so eine gängige historiographische These, wenn es um Europas «Selbstverständnis» gehe, der Blick auf Russland, und zwar in dem Sinne, dass man in Europa auf der Suche nach einer Definition Russland als eine Art Spiegel ansehe, als einen Grenzraum, der zugleich innerhalb und außerhalb der eigenen Entwicklung liege. In gewisser Weise findet selbst die Oktoberrevolution in diesem Grenzraum einen Ausgangspunkt: Die Bolschewiki blickten nach Westen, obwohl sie sich der Besonderheiten der russischen Verhältnisse bewusst waren und die Notwendigkeiten des antikolonialen Aufstands sie nach Osten trieben. Wie dem auch sei, die Lage Russlands begründet für Europa ein Moment von Virtualität, einen Appell, die eigene Definition offen zu halten – genauer gesagt: die eigenen Grenzen und die Mechanismen der Kräfte, die darin die Politik bestimmen. Es ist dieses Moment von Virtualität, das der Krieg von Putin auszulöschen versucht. Und das ist ein erster Grund, sich diesem Krieg unbedingt zu widersetzen.

Allerdings bedarf die Feststellung, der Krieg in der Ukraine sei ein europäischer Krieg, einer Ergänzung, denn er ist nicht nur ein europäischer Krieg. Im Gegenteil: Tatsächlich geht es heute um nicht mehr und nicht weniger als um die «Weltordnung». Gewiss gibt es tatsächlich in der Welt nur sehr wenig Ordnung. Hatte sich der Entwurf multilateraler und zugleich imperialer Architekturen in den 1990er Jahren auf die weit verbreitete Zuversicht gestützt, ein «neues amerikanisches Jahrhundert» stehe bevor, so wurde im darauffolgenden Jahrzehnt – nach dem 11. September 2001 – der Versuch der USA, den eigenen Unilateralismus mit einem «globalen Krieg gegen den Terror» zu untermauern, durch die militärische Sackgasse (und dann die Niederlage) im Irak und in Afghanistan zunichte gemacht. Auf der anderen Seite hat die Finanzkrise von 2007/08 die ökonomische Stärke der Vereinigten Staaten sowie deren globale Ausstrahlung tiefgreifend erschüttert und gleichzeitig den Aufstieg Chinas und dessen Wandel von der «Werkbank der Welt» zu einer potenziellen Führungsmacht in den Bereichen digitaler Technologien, «wissensbasierter Ökonomie» und künstlicher Intelligenz beschleunigt. Das große, als «Neue Seidenstraße» oder «Belt and Road Initiative» bekannte Handels- und Infrastrukturprojekt, das seit 2013 vorangetrieben wird, aber schon lange in Vorbereitung war, ist eine Erweiterung jenes inneren Wandels, ein spezifisches chinesisches Globalisierungsprojekt. (Und es ist kein Zufall, dass die Initiative von Präsident Xi Jinping ständig in einer «multilateralen» Perspektive dargestellt und verteidigt wird.) Die Krise der globalen Hegemonie der USA – wie Vertreter:innen der Weltsystem-Theorie sie in den 1990er Jahren zu beschreiben begannen – ist vor diesem Hintergrund zu einem durchgängigen Thema verschiedener globaler Szenarien geworden, denen zufolge Instabilität und Kriege sich ausbreiten. So war in den vergangenen Jahren oft von «zentrifugaler» oder «konfliktbeladener Multipolarität» die Rede, um die grundlegenden Merkmale dieser krisenhaften Situation zu beschreiben.

Wo steht nun Russland in diesen Entwicklungen? In aller Kürze lässt sich feststellen, dass sich auf der Grundlage der realen ursprünglichen Akkumulation, die in den Jahren der rücksichtslosen neoliberalen Reformen unter Boris Jelzin stattfand, allmählich eine eigentümliche Form eines «politischen Kapitalismus» herausbildete. Das heißt, die politische Macht gewährt und garantiert einem relativ kleinen Kreis von ökonomischen Akteuren, die in diesem Sinne tatsächlich als «Oligarchen» zu bezeichnen sind, monopolistische Erträge (vor allem aus dem Abbau von Rohstoffen), während ein weiterer Teil der Erträge, um Konsens zu schaffen, der Bevölkerung zugutekommt. Gleichzeitig zeitigt diese besondere Form eines politischen (sicherlich nicht besonders dynamischen oder innovativen) Kapitalismus eine ebenso besondere Form von militärischem Expansionismus, wie er in den letzten Jahren nicht nur in den Kriegen und Interventionen an den Grenzen Russlands, sondern ebenso in Syrien, Libyen und im Sahel (unter anderem durch die Operationen des als «Gruppe Wagner» bekannten privaten Militärunternehmens) zu beobachten war. Es ist dies ein wichtiger Aspekt für das Verständnis des Krieges in der Ukraine (und ein zweiter Grund, sich ihm mit allen erforderlichen Mitteln zu widersetzen): nämlich die Konsolidierung und Ausdehnung des «politischen Kapitalismus», wie er während der Putin-Jahre Gestalt angenommen hat, in notwendigerweise vergrößerten Räumen, während viele der «Oligarchen» den Umfang ihrer Operationen global ausgeweitet haben und objektiv in Spannung zu den Strategien des russischen Präsidenten geraten sind – und letztlich immer weniger als «Oligarchen» agieren und immer mehr zu kapitalistischen Akteuren in der Art von Jeff Bezos oder Elon Musk werden. Daraus ergeben sich zum einen starke Widersprüche mit anderen kapitalistischen Interessen unterschiedlicher Provenienz im nationalen Rahmen, die zweifellos zum Hintergrund der Ereignisse der vergangenen Wochen gehören. Doch zum anderen ist der Konflikt zwangsläufig global: Eine besondere Rolle spielt dabei China, das zwar in vielfältiger Weise mit Russland verbunden ist, aber eine völlig andere Strategie verfolgt, was die Außendarstellung der eigenen ökonomischen Stärke und den Umgang mit internationalen Beziehungen anbelangt.

Ein weiterer Punkt ist hier zu erwähnen. Die Pandemie bot wieder einmal einen willkommenen Anlass, das «Ende der Globalisierung» zu feiern. Nun ist dies nicht der Ort diese Behauptung ausführlich zu diskutieren. Doch sei darauf verwiesen, dass der Krieg nachdrücklich deutlich macht, wie weitgehend und umfassend sich die wechselseitige Abhängigkeit auf globaler Ebene zeigt. Man denke nur an die Rohstoffmärkte (Getreide, Energieträger, Mineralien etc.), die auf der Grundlage mittel- und langfristiger Verträge organisiert und vollständig finanzialisiert sind, so dass es praktisch unmöglich ist, an den Außenhandel gebundene Ressourcen anderen Verwendungszwecken im Inland zuzuführen. Der Anstieg des Mehlpreises um 30 % in Argentinien, einem der wichtigsten Weizenproduzenten weltweit, mag als paradigmatisches Beispiel dienen. Die Frage der Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland gewinnt in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung: einerseits wegen der Auswirkungen der Sanktionen auf die Länder, die sie verhängen (und der daraus resultierenden Differenzen innerhalb des Westens, insbesondere was den Energiebereich anbelangt); andererseits wegen des Auftriebs, den – natürlich unbeabsichtigt – die seit einiger Zeit laufenden Prozesse der «Entdollarisierung» (mit der Konsolidierung eines alternativen Währungspols rund um den Renminbi) und der Bildung eines Bankenzahlungssystems, das (wie etwa das ebenfalls chinesische Cips) eine Alternative zum Swift bietet, erfahren könnten. Es ist unschwer zu erkennen, dass China auch in dieser Hinsicht eine zentrale Position einnimmt, auch wenn das Land angesichts der Aussichten einer «Abkopplung», das heißt einer Loslösung von den Wirtschafts- und Finanzsystemen des Westens (insbesondere mit Bedacht auf eigene Interessen in Europa) sehr zurückhaltend agiert. Jedenfalls ist China objektiv in der Lage, eine führende Rolle bei der Beendigung des Krieges zu spielen. Ob es sich dafür entscheidet, steht auf einem anderen Blatt.

Wenn ich bislang bei dem Versuch, verschiedene für eine Analyse des Krieges bedeutsame Aspekte zu benennen, in erster Linie politische Kräfte und vor allem ökonomische Mechanismen in den Blick gerückt habe, so erscheint es mir nun notwendig, eine andere Perspektive einzunehmen, die sich freilich keineswegs auf den «Überbau» beschränkt. Eine Studie über Ideologie, Politik und die Linke im postsowjetischen Russland (in englischer Übersetzung unter dem Titel Dissidents Among Dissidents vor kurzem bei Verso erschienen) von Ilja Budrajtskis beginnt mit einem Kapitel, das «Putin lebt in der von Huntington errichteten Welt» überschrieben ist – was sich ganz offensichtlich auf Samuel P. Huntington und sein Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order von 1996 bezieht. Man wird sich an Huntingtons Grundmotiv erinnern: Nach dem Ende des Realsozialismus entbrenne auf globaler Ebene ein «Kampf der Kulturen» (wobei den Religionen eine besonders wichtige Rolle zukomme). Die Argumentation von Budraitskis nun ist eingängig: Huntingtons Buch mag heute als vorausschauend erscheinen, und zwar nicht, weil es eine besondere analytische Kraft hätte, sondern weil es eine Art politisches und ideologisches Manifest war, das sich einflussreiche Akteure (von George Bush bis Abu Bakr al-Baghdadi) zu eigen machten und in die Praxis umsetzten. Ganz vorne zu diesen Akteuren gesellt sich auch Putin, den Budraitskis als «Huntingtons Musterschüler» bezeichnet. Die von Putin betriebene spezifische Identitätspolitik mit dem obsessiven Rekurs auf traditionelle Familienstrukturen, auf Religion und «Werte» als Bollwerke von Stabilität und Ordnung zielt im Kern darauf ab, die Gestalt einer mythologischen russischen «Kultur» zu umreißen und festzuschreiben. Eine solche ideologische Konstruktion ist ein Schlüsselelement der Politik Putins und der herrschenden Klasse Russlands. Die Dämonisierung von Homosexualität und Feminismus sowie eine daraus abgeleitete buchstäbliche Überhöhung des Patriarchats findet ihren wenig überraschenden Ausdruck in den Worten des Moskauer Patriarchen Kyrill, wonach man in der Ukraine gegen «die Schwulen» kämpfe. Es liegt auf der Hand, dass hier ein dritter Grund zu finden ist, sich Putins Krieg zu widersetzen und vor allem die Frauen und Männer in Russland zu unterstützen (und um es noch einmal zu sagen: mit allen erforderlichen Mitteln), die gegen ihn und seine «Kultur» kämpfen. Freilich bleibt noch etwas hinzuzufügen, worauf auch Budriatskis hinweist: Der Kampf der Kulturen führt in Europa und im Westen zu «spiegelbildlichen Erscheinungen». Es genügt, den Leitartikel von Federico Rampini im Corriere della Sera vom 9. März zu lesen, um einen ausgezeichneten Eindruck davon zu erhalten.

Im Übrigen mehren sich die Stimmen, die hervorheben, dass der Krieg in der Ukraine den Westen geeint habe und es nun an Letzterem sei, die eigene Identität zu stärken. Da ich hier nicht auf die Geschichte des schwer fassbaren Begriffs «Westen» eingehen kann, sollen ein paar Anmerkungen zu den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges genügen: Zu Beginn der 1990er Jahre verfügten die USA im Westen über eine unangefochtene Führungsrolle. Die «einsame Supermacht», wie sie oft genannt wurde, verschloss sich Appellen zur Mäßigung, wie einige der in den Beziehungen zu Russland erfahrensten Diplomaten sie äußerten. (Dazu gehörte selbst George F. Kennan, einer der Architekten der Politik der «Eindämmung» der sowjetischen Macht.) Vielmehr haben die USA, berauscht von der Gewissheit eines «neuen amerikanischen Jahrhunderts», die Nato-Osterweiterung eingeleitet, die objektiv zu einer Einkreisung Russlands geführt hat. Man könnte auch noch lange die Rolle diskutieren, die viele osteuropäische Länder – von den baltischen Staaten bis Polen – in diesem Prozess gespielt haben, für die die Mitgliedschaft in der Europäischen Union faktisch der Mitgliedschaft in der Nato untergeordnet war. Doch mag es an dieser Stelle genügen hervorzuheben, dass die Osterweiterung der Nato in einer im Vergleich zu heute völlig anderen Situation stattfand, in der die Vereinigten Staaten in der Gewissheit ihrer ökonomischen, politischen, militärischen, kulturellen und selbst moralischen Überlegenheit lebten. In dieser Zeit trugen die USA zur Verschärfung der Spannungen mit Russland bei, indem sie insbesondere Verhandlungen über Abrüstung erschwerten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es vermutlich notwendig gewesen wäre, über eine neue Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nach dem Vorbild der Konferenz von Helsinki im Jahr 1975 nachzudenken. Stattdessen war die Nato in den letzten Jahrzehnten eine ständige Hypothek der europäischen Autonomie in der Außenpolitik und ein Apparat der anhaltenden Militarisierung der Länder Europas. Nachdem drei Gründe, warum es notwendig ist, sich Putins Krieg mit allen Mitteln zu widersetzen, bereits genannt wurden, bleibt anzufügen, dass die Nato für uns Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist.

Spätestens seit dem Koreakrieg ist der «Westen» freilich auch nicht mehr auf den europäisch-atlantischen Raum beschränkt. In jüngerer Zeit hat sich die globale Achse der US-Politik bekanntlich in Richtung Indopazifik verlagert und zielt darauf ab, ein neues, gegen China gerichtetes System von Bündnissen zu schaffen, für die Akronyme wie Aukus (eine Allianz Australiens, Großbritanniens und der USA) und Quad (unter Beteiligung Australiens, Indiens, Japans und der USA) stehen. In diesem Zusammenhang ist es allerdings bemerkenswert, dass Indien, was den Krieg in der Ukraine anbelangt, im Grunde genommen zugunsten Russlands Stellung bezog, als es sich bei den Vereinten Nationen in der Abstimmung über die Resolution zur Verurteilung des Krieges der Stimme enthielt. Gleichwohl sollte dies nicht überbewertet werden: Indien, dessen derzeitiger Präsident Narendra Modi Positionen vertritt, die man ohne weiteres als hindufaschistisch bezeichnen kann, unterhält seit jeher kooperative Beziehungen zu Russland, und der «quadrilaterale Sicherheitsdialog» Quad trägt eher informellen Charakter und ist kein Militärbündnis im eigentlichen Sinn. Die Einbeziehung Indiens scheint jedoch ein wesentliches strategisches Anliegen der US-Regierung unter Joe Biden zu sein, die – im Gegensatz zur Trump-Administration – von Anfang an die Perspektive verfolgte, einen Westen zu (re‑)konstruieren, der sich bewusst ist, Teil in einem System globaler Beziehungen zu sein. Die Haltung Indiens ließe sich nun als Symptom einer Verschiebung im Rahmen jener strategischen Anordnung deuten, die bedeutsam wird, wenn man gleichzeitig Positionen von Ländern wie der Türkei, Israel, Saudi-Arabien und den Emiraten (bei den beiden Letztgenannten insbesondere in der Ölfrage) betrachtet. Wie sich daraus schließen lässt, weist der Westen als globales Gefüge offenkundig Momente grundlegender Fragilität auf – die, um es klar zu sagen, nicht auf das Wirken emanzipatorischer Kräfte zurückzuführen sind. Dies ist ein Faktor, den es zu berücksichtigen gilt, wenn wir das – meiner Meinung nach essenzielle – Ziel verfolgen, (aufs Neue) eine globale Politik der Bewegungen und Kräfte zu schaffen, die für Freiheit und Gleichheit kämpfen.

Noch ein paar abschließende Worte zu diesen Bewegungen und Kräften. Der Kampf gegen den Krieg wird heute vor allem von denjenigen geführt, die in den Straßen der russischen und ukrainischen Städte demonstrieren und dabei Gefängnis und Tod riskieren. Und dann wird er von jenen geführt, die aus dem Krieg desertieren, dessen Logik ablehnen und an Orte fliehen, die als sicher gelten. Aber er wird auch von den Zehntausenden von Menschen geführt, die in Europa und anderswo auf der Welt auf die Straße gehen. Gewiss gibt es dabei unterschiedliche und oft gegensätzliche Perspektiven, von «Nein zu Putin, Nein zur Nato» bis «Waffen für den ukrainischen Widerstand». Gerade Letzteres ist nicht nur eine Parole der Stahlhelmfraktion in Politik und Medien, von Kriegsbegeisterten und militaristischen Kommentator:innen: Auch Menschen, die uns politisch nahe stehen, haben sich so positioniert, und in der ukrainischen Diaspora in Italien (der größten in Europa, mit vielen Beschäftigten in der Pflege und in tausend anderen Berufen) ist es sicherlich das vorherrschende Schlagwort. Auch wenn eine solche Position meiner Meinung keine ist, die es zu unterstützen gilt, geht es dabei nicht ums Prinzip: Es geht darum festzustellen, dass alles getan werden muss, um die Ausweitung des Krieges zu verhindern. Dass Verhandlungsräume eröffnet und vervielfacht werden müssen und dass die Antikriegsbewegung selbst dabei eine wichtige Rolle spielen kann, vor allem durch «Diplomatie von unten», durch materielle Hilfe und Unterstützung, durch die Unterstützung von Geflüchteten und das Erweitern von Begegnungsräumen.

Zugleich ist es notwendig, sich von der, zunächst verständlichen, Allgemeinheit der Schlagworte zu lösen. Gewiss sind wir gegen Putin und denken, dass die Nato Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Doch in dem turbulenten Prozess einer Neudefinition internationaler Ordnung und Unordnung, vor dessen Hintergrund sich der Krieg abspielt, müssen wir es wagen, etwas mehr zu tun. Nach den großen weltweiten Demonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den Krieg im Irak schrieb die New York Times, dass die Friedensbewegung (jene globale Bewegung, die Seattle, Porto Alegre und Genua hinter sich hatte) die «zweite Weltmacht» sei. Damals haben wir diese Zuschreibung kritisiert, weil sie die Bedeutung der Bewegung auf die Ebene einer «Meinung» zu beschränken schien. (Benedetto Vecchi hat darüber, wie ich mich erinnere, mit gewohnter Klarheit geschrieben.) Sich heute daran zu erinnern, könnte jedoch eine Herausforderung sein – die Herausforderung, eine Kraft, ein Potential zu schaffen, das unseren «schrecklichen» Zeiten angemessen ist. Viele von uns dachten während der Pandemie darüber nach. Und nun hat sich der Pandemie praktisch nahtlos ein Krieg angeschlossen. Auch andere Probleme, die eine globale Politik erfordern, sind nicht weniger geworden, allen voran die Klimakrise. Die Aufrüstungsdynamik, die durch den Krieg beschleunigt wurde, ist ebenfalls global und wird sich in Europa sehr stark auf die Haushaltspolitik auswirken, zumal der Aufbau einer europäischen Armee jetzt auf der Tagesordnung steht. Aus dem Krieg desertieren ist heute ein Gebot der Stunde, doch können Praktiken der Desertion nur dann Wirkung entfalten, wenn sie in einen globalen Rahmen eingebettet sind. Wenn sie durch einen neuen Internationalismus getragen werden, der nicht am Reißbrett geschaffen werden kann und der zwar anders heißen mag, sich aber auf den Geist seines historischen Vorläufers bezieht. In den vergangenen Tagen kam aus Russland und der Ukraine der Aufruf zu einem «neuen Zimmerwald», einer Konferenz im Geiste jener, die im September 1915 in der Schweiz Sozialistinnen und Sozialisten zusammenführte, die sich dem Weltkrieg widersetzten. Wir wissen nicht, wie konkret dieser Aufruf ist, und sicherlich ist die Situation heute eine völlig andere als vor über einem Jahrhundert. Es ist jedoch ein starker Vorschlag, den es aufzugreifen gilt.

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Atzert.

Der Beitrag erschien zuerst am 11. März 2022 auf dem Portal EuroNomade.

Connection e.V. hat unter dem Motto "Get out! Уходи!" eine Kampagne für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure des Ukraine-Krieges gestartet. 

Veröffentlicht am 17. März 2022

Sandro Mezzadra

Sandro Mezzadra lehrt Theorie der Politik an der Universität von Bologna und ist Adjunct Fellow am Institute for Culture and Society, University of Western Sydney. Er ist ein aktiver Teilnehmer an der ›post-operaistischen‹ Debatte und einer der Gründer des Projekts Euronomade (www.euronomade.info). Im letzten Jahrzehnt hat er sich intensiv mit Migration, postkolonialer Kritik und globalem Kapitalismus beschäftigt. 


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