Bangladesch

Auf eigene Faust

18.11.2025   Lesezeit: 5 min  
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In einem Modellprojekt haben medico-Partner eine kollektive Krankenversicherung für Textilarbeiter:innen eingeführt

Von Dr. Andreas Wulf

Sei es, dass endlos lange Stunden Akkordarbeit an der Nähmaschine den Rücken krumm werden lassen, giftige Dämpfe die Atemwege angreifen oder fehlende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch erkrankte Näher:innen zur Schicht antreten lassen: Die Arbeit in den unzähligen Textilfabriken Bangladeschs ist hochgradig gesundheitsschädlich. Die gesetzlich vorgeschriebene Minimalversicherung besteht meist nur auf dem Papier, sodass ärztliche Behandlungen häufig aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssen. Da- rüber hinaus droht kranken Arbeiter:innen, die nicht zur Arbeit erscheinen, der Verlust des Arbeitsplatzes. Krankheit macht arm, Armut macht krank. 

Mit dem wegweisenden Projekt einer kollektiven Krankenversicherung versucht die medico-Partnerorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK), diesen Kreislauf aufzubrechen. Der Reihe nach: In Europa haben lange Auseinandersetzungen von Arbeiter:innen und ihren gewerkschaftlichen Organisationen im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur bessere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und Arbeitsschutzregelungen durchgesetzt. Entstanden sind auch Betriebskrankenkassen, die Gesundheitsversorgung und teilweise auch Präventionsangebote finanzieren und entwickeln. Dieser soziale Kontrakt des „rheinischen Kapitalismus“ wurde im Zuge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten aufgekündigt oder umgangen, indem viele Unternehmen Teile ihrer „Werkbänke“ in andere Länder und Regionen verlagerten. So werden heute die meisten in Europa getragenen Jeans, T-Shirts und Pullover in Süd- und Südostasien gefertigt. 

Ausbeutung gefährdet Gesundheit 

In Bangladesch machen Textilien 80 Prozent der Exporte aus, in Satellitenstädten wie Ahulia, Panishail und Tongi rund um die Hauptstadt Dhaka produzieren rund vier Millionen Arbeiter:innen jährlich Waren im Wert von 35 Milliarden US-Dollar. Viele Bangladeschis hat dies in Lohn und Brot gebracht, vor allem junge Frauen sind so weniger abhängig von Familie und Ehemann geworden. Die Kehrseite: Auch wenn die Löhne in den vergangenen Jahren dank Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Organisierung gestiegen sind, bleiben sie auf Druck der hohen internationalen Konkurrenz im Sektor „ready made garment“ deutlich unter dem, was ein existenzsicherndes Einkommen wäre. Die Produktion basiert auf kaum regulierter Ausbeutung und mangelndem Arbeitsschutz. Arbeitsunfälle sind häufig, die Arbeitsbedingungen hoch belastend. 

Seit einigen Jahren setzt sich GK für diese neue Klasse der Industriearbeiter:innen des Landes ein. Auch das war ein langer Weg. Vor 50 Jahren begann GK, auf dem Land ein solidarisches Netzwerk von Basisgesundheitseinrichtungen aufzubauen. Getreu dem Motto von Gründer Zafrullah Chowdhury „Small is beautiful, but big is necessary ” ist die Organisation nach und nach zu einer der größten nichtstaatlichen Gesundheitsorganisationen Bangladeschs gewachsen. Ihre Gesundheitsarbeiter:innen betreuen mehr als eine Million Menschen in allen Teilen des Landes. Sie vermitteln medizinisches Wissen über Ernährung und Familienplanung. Der medico-Partner hat zudem für die Entwicklung einer landeseigenen Arzneimittelproduktion gestritten und stellt heute viele unentbehrliche Medikamente selbst her. Auch Katastrophenhilfe gehört zur GK-Arbeit, etwa bei den häufigen Hurrikanen aus dem Bengalischen Golf. Als 2013 dann Einsatz für die gesundheitliche Absicherung der Textilarbeiter:innen. 

In vielerlei Hinsicht war das Neuland für die Organisation. Anders als in ländlichen Gebieten mit traditionellen sozialen Strukturen und lokalen Autoritäten hat es GK in den urbanen industriellen Lebenswelten mit hoher Mobilität der Gemeinschaften, komplexen sozialen Konflikten und Textilunternehmen unterschiedlicher Größe zu tun. In dieser Gemengelage hat GK verschiedene Konzepte von Gesundheitsprogrammen für Beschäftigte der Bekleidungsindustrie erprobt. 

Kostenfreie Behandlung 

Durch systematische Überzeugungsarbeit ist es nun gelungen, vertragliche Vereinbarungen zu schließen, in denen GK selbst eine Art „Kollektivversicherer“ darstellt. Aktuell sind die gesamten Belegschaften von fünf Firmen krankenversichert – über 20.000 Arbeiter:innen, in einer Firma zudem noch die Angehörigen. Für jede:n Arbeiter:in wird ein jährlicher Solidarbeitrag von 600 Taka (nach aktuellem Kurs ca. 4,30 Euro, das entspricht weniger als 0,5 % der Löhne) gezahlt, zunächst zur Hälfte von der Fabrik und zur anderen von einem externen Geber (in diesem Fall von medico). Nach und nach soll sich der Anteil der Fabrik bis zur vollen Summe erhöhen. Innerhalb des Programms können die Beschäftigten sich kostenfrei in einem der Gesundheitsdienste von GK behandeln lassen. Neben einer ambulanten Vor-Ort-Betreuung in kleinen Gesundheitsstationen während der Arbeitszeit können sie auch die GK-eigenen regionalen Gesundheitszentren sowie das GK-Krankenhaus im nahegelegenen Savar nutzen. So sind auch komplexere Erkrankungen behandelbar. 

Die bisherigen Erfahrungen sind positiv. Beteiligte Ärztinnen und Ärzte berichten, dass Arbeiter:innen sich dank der leichten Zugänglichkeit der Versorgung nicht nur bei arbeitsbedingten Verletzungen oder Erschöpfungszuständen melden. Sie finden sich auch bei Beschwerden bei ihnen ein, die sie zuvor oftmals vergeblich mit frei verfügbaren Medikamenten aus Apotheken selbst behandelt haben und deren fachliche Abklärung ernstere Krankheitsverläufe verhindern kann. Eine Arbeiterin erzählt, dass sich durch die rasche und kostengünstige Verfügbarkeit von medizinischer Behandlung auch der mentale Stress verringerte, im Krankheitsfall mit hohen Kosten konfrontiert zu sein. Zufrieden äußern sich schließlich auch die Personalabteilungen der Fabriken. Die Absicherung habe die Arbeitszufriedenheit erhöht, was zu selteneren Arbeitsplatzwechseln führe. Auch verkürze die frühzeitige Behandlung Krankheitsverläufe und reduziere damit Arbeitsausfälle. 

Die Versicherungsbeiträge der Unternehmen sind bislang allerdings zu gering, um umfänglich alle nötigen Ausgaben zu decken. Deshalb bleibt das Projekt auf externe Zuschüsse wie die von medico angewiesen. Die Strategie von GK sieht daher vor, noch mehr Unternehmen für das Modell zu gewinnen und dadurch kostendeckender arbeiten zu können. Die naheliegende Lösung, die Beiträge zu erhöhen, erweist sich bislang als schwer umsetzbar, da die Unternehmen dann auf andere Versicherer ausweichen würden. Unabhängige Evaluationen haben ergeben, dass sich die Arbeiter:innen eine Ausweitung der Versicherungsleistungen wünschen. 

Macht das Modell Schule? 

Das Modell von GK zeigt, dass es gehen kann. Um die Gesundheitsversorgung im Land allerdings für möglichst viele substanziell zu verbessern, sind verbindliche Regelungen der Arbeitsbehörden unbedingt notwendig. Hierfür müssen die geringen Versicherungsbeiträge der Unternehmen im Textilsektor und darüber hinaus schrittweise angehoben werden. Tatsächlich hat die Reformkommission für das Gesundheitswesen, die von der Übergangsregierung nach dem Sturz der Awami League im Sommer 2024 eingesetzt wurde, gute Vorschläge zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors gemacht. Das ist auch der Einflussnahme und Lobbyarbeit von GK zu verdanken. Allerdings erinnern die Aktiven zu Recht daran, dass GK solche Vorschläge schon vor 30 Jahren eingebracht hat und sie in dem heute weitgehend privatisierten Gesundheitssystems des Landes noch schwieriger zu realisieren sein werden als damals. Es bleibt dabei: Kleine Schritte sind schön und gut, aber große notwendig. 

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 04/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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