Libanon

Archive und Zukunft

Über viele Jahre haben sich Lokman Slim und Monika Borgmann für die Aufarbeitung der Bürgerkriegsgeschichte eingesetzt. Im Februar 2021 ist er ermordet worden. Sie führt die Arbeit weiter.

Glaubt man der Kulturindustrie, dann sind Archive ein Abstellgleis, eine Endstation, ein Symbol der Niederlage. Aus Filmen kennen wir sie zumeist als einen Ort, an den unliebsames Personal abgeschoben wird, für das die Gegenwart keine Verwendung mehr findet. Im Archiv geht es um Vergangenes, das für die Gegenwart bedeutungslos erscheint. Monika Borgmann beweist seit Jahrzehnten, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Kampf um einen anderen Libanon beginnt für sie im Archiv. Denn die Wahrheit der Archive ist die Bedingung einer besseren Zukunft.

Beirut kennt die aus Aachen stammende Journalistin und Filmemacherin seit den letzten Jahren des Bürgerkriegs. Das erste Mail: An Silvester 1986 kreist das Flugzeug vor der Landung einige Male über der zerstörten Stadt. „Was mache ich hier eigentlich?“, fragt sie sich. Doch bis heute hält sie der Stadt eine eigenwillige Treue. Als freie Radiomacherin kehrte sie in den 1990er-Jahren immer wieder für journalistische Arbeiten und Radiofeatures zurück, ehe sie im Jahr 2001 mit einem Filmprojekt über das Massaker von Sabra und Schatila endgültig nach Beirut zog. Es dauerte nicht lange, da stieß sie bei den Vorarbeiten auf den Namen Lokman Slim. Sie müssten sich unbedingt treffen, habe man ihr gesagt. Sie trafen sich, realisierten den Film zusammen, heirateten und gründeten das Dokumentations- und Recherchezentrum UMAM.

Zum ersten Mal begegnete ich Monika und ihrem Ehemann Lokman Slim im September 2019. Wir trafen uns in einem Restaurant in Hamra, einem der Zentren Beiruts. Man hatte sie mir als die Betreiber des „einzigen Archivs über die Geschichte des Libanons“ angekündigt. Sie sprachen rauchend und trinkend eine halbe Nacht über die politische Stagnation im Land und darüber, warum und wie der nicht aufgearbeitete Bürgerkrieg eine der wesentlichen Ursachen für die blockierte Zukunft darstellt. Warum ihr Archiv nicht nur bedeutsam für die Gegenwart, sondern ihre Arbeit auch gefährlich und gefährdet ist. Dass es nur eine Frage der Zeit sei, dass der Libanon implodiere oder explodiere. Sie sollten recht behalten.

Nicht einmal drei Jahre nach unserer ersten Begegnung sitzen Monika und ich gemeinsam in Berlin-Kreuzberg in einem Cafe. Monika überlegt derzeit, sich in Berlin ein zweites Standbein aufzubauen. Wir haben uns häufig gesehen seit jener Nacht in Hamra, jedes Mal unter neuen Vorzeichen. Zuerst nach den Aufständen im Oktober 2019. Dann nach der Explosion im Hafen Beiruts. Dann wieder nach der Ermordung von Lokman Slim, ihres Ehemanns und Partners im Februar 2021. Es ist eine schreckliche Ironie, dass Monika immer einfach weitermachen kann mit ihrem Lebenswerk: der Dokumentation des Verbrechens im Libanon. Nun gehört auch der Mord an Lokman in die lange Reihe des Nicht-Aufgearbeiteten. Die Archive haben noch nicht gewonnen.

Mario Neumann

Libanon: Politik und Verbrechen

Folge 5 des medico-Podcasts "Global Trouble: Ein Gespräch mit Monika Borgmann über die Ermordung von Lokman Slim und ihren gemeinsamen Kampf gegen die Straflosigkeit.

Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.

Veröffentlicht am 30. Mai 2022

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