Interview

Adorno for Future

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung wird 100. Was die Kritische Theorie vom Globalen Süden und die Klimabewegung von Adorno lernen könnte, erklärt Direktor Stephan Lessenich

medico: Im Januar ein Festakt, im Mai eine „Marxistische Arbeitswoche“, im September ein internationaler Kongress – es ist einiges los bei euch. Feiert ihr eigentlich 100 Jahre Institut für Sozialforschung (IfS) oder 100 Jahre Kritische Theorie?

Stephan Lessenich: Wir feiern 100 Jahre Institut für Sozialforschung, aber natürlich feiert das Institut nicht nur die eigene Existenz. Die Institutsgeschichte ist eng verschränkt mit einer besonderen Theoriegeschichte, die in den 1930er-Jahren und dann konkret 1937 mit Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“, sozusagen als Gründungsdokument einer bestimmten theoretischen Perspektivierung, beginnt. Als Haltung ist sie deutlich älter, aber als „Kritische Theorie“ entwickelte sie sich in der sozialen Realität der Weimarer Republik, dann mit dem Nationalsozialismus und dem Exil des Instituts, seiner Rückkehr in die Bundesrepublik und deren Demokratisierung, der Studierendenbewegung, den neuen sozialen Bewegungen und der Veränderung der Arbeitsgesellschaft. All das hat sich in empirischer Forschung und in der Theoriebildung niedergeschlagen. Insofern feiern wir auch 100 Jahre empirisch-theoretische Erforschung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu ihrer jeweiligen Zeit. Also auch heute: Wir versuchen, diese Geschichte unter den gegenwärtigen Bedingungen und auf der Höhe der Zeit fortzuschreiben und weiterzuentwickeln.

Heißt das auch, ursprüngliche Impulse der Kritischen Theorie wieder stärker aufzugreifen? Adorno, Marcuse, Horkheimer, Fromm – werden sie heute wieder gebraucht oder sind sie von gestern?

Das ist natürlich eine große Frage, die verschiedene Dimensionen berührt. Zunächst: Die Geschichtsschreibung über das Institut steckt voller Mythen, da sollte man durchaus ein wenig abrüsten. Sowieso halte ich es für ein Problem, die Geschichte des Hauses und ihr Vermächtnis auf eine Handvoll Personen zu konzentrieren. Von daher sollten wir nicht immer wieder fragen, was die zwei, drei großen Namen zu bestimmten Themen gesagt haben oder wie sie sich heute positionieren würden. Es geht vielmehr darum, an bestimmte Fragestellungen und Haltungen anzuknüpfen, die am IfS über Jahrzehnte hinweg aufgeworfen und eingeübt wurden. Zudem meine ich, dass viele der empirischen Studien aus der Geschichte des Instituts heute nicht mehr unbedingt als solche Bestand haben, aber dass mit ihnen Themen angesprochen oder berührt wurden, die heute die Gesellschaft mindestens ebenso sehr bewegen.

Zur Haltung, die am Institut eingeübt wurde, gehörte nicht nur die schonungslose Kritik der bestehenden Gesellschaft, sondern zugleich auch eine erhebliche Distanz zur politischen Praxis. Einige meinten sogar, dass die Praxis die Kritik gewissermaßen kontaminieren würde…

Ja, solche Trennungen und Distanznahmen gab und gibt es. Sie werden bis heute zumal mit Adorno verbunden und das durchaus zu Recht. Diese Haltung gilt es, würde ich sagen, für die zukünftige Praxis des Hauses zu überdenken. Meines Erachtens geht es heute darum, das Institut wieder stärker als einen Gesprächs- und Austauschpartner von sozialen Bewegungen, von zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren zu positionieren. Damit würde eher an die Gründungszeit angeschlossen, als man sich als Institut zur Erforschung des Marxismus, der sozialen Frage und der Arbeiterbewegung verstand.

Gibt man damit nicht eine Besonderheit der „Frankfurter Schule“ auf? Gibt es nicht auch ein Moment der Schonungslosigkeit, demgegenüber heute eine gewisse Treue angebracht wäre?

Das Institut hat sich gegründet und lange Zeit verstanden als eines, das sich den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen ausdrücklich entgegenstellt. Gleichzeitig war diese Haltung damit verbunden, sich und anderen nie Illusionen darüber zu machen, welche Auswege es gibt oder geben könnte. In Sachen „eine andere Welt ist möglich“ war das Institut immer eher skeptisch. Gleichzeitig aber finde ich, dass dabei ein Restoptimismus bewahrt wurde, der jedoch in keiner Weise handlungswirksam geworden ist. Dem ursprünglichen, doppeldeutigen Gestus der Theoriebildung, nämlich in der Negativität gegenüber dem Gegebenen zu betonen, dass darin die Möglichkeit des Anderen eingelagert ist, tut dies jedoch keinen Abbruch. Insofern würde ich diese Haltung fortschreiben wollen als eine der schonungslosen Kritik des Bestehenden. Was ja gar nicht ausschließt, sich gleichzeitig mit solchen Akteuren, die an der konkreten Veränderung der Herrschaftsverhältnisse arbeiten, in all ihrer Begrenztheit und an den Orten, an denen sie jeweils stehen, zu verbinden und vernetzen. In dieser Hinsicht muss das Institut parteiisch sein.

Der Impuls zur Gründung des Instituts vor 100 Jahren war die Einsicht, dass der Marxismus einer Neubegründung bedurfte. Sie erklärte sich aus einer doppelten Erfahrung: einerseits dem Ersten Weltkrieg und andererseits der gescheiterten Revolution von 1918. Nach dem politischen Scheitern wurde ein Schritt aus der Praxis heraus unternommen, um zu einem Verständnis der Gesellschaft zu kommen. Wäre so eine Haltung nicht auch heute angemessen?

Ich glaube nicht, dass man das vergleichen kann. Das Scheitern der Revolution war ja 1923 bereits vollzogen. Und allerspätestens 1933 war klar, dass alle Versuche, in Deutschland irgendwie demokratische Institutionen, Strukturen und womöglich sogar Mentalitäten verankern zu können, Makulatur waren. Sich in solch einem Moment ein Stück weit abseits zu stellen und neu anzusetzen, das ist historisch sehr gut nachvollziehbar. Es scheint mir aber doch, dass wir gegenwärtig eine ganz andere Situation haben. Heute befinden wir uns eher in einer historischen Phase, in der sich abzeichnet, dass die notwendige Transformation der Gesellschaft sich nicht vollzieht, nicht vollzogen werden kann. Das ist katastrophal, aber noch kein materialisiertes, apokalyptisches Scheitern. Wir haben den Kipppunkt noch nicht hinter uns, von dem aus sich sagen ließe: Jetzt analysieren wir die Gründe für das Scheitern der Transformation und müssen uns dafür aus dem Handgemenge rausziehen. Es ist doch eher so, dass wir mitten drin sind in einer entscheidenden Phase der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

Es ist also mal wieder fünf vor zwölf?

Ich würde eher meinen, dass es grad 13 schlägt… Nochmals: Sich jetzt zurückzuziehen, erschiene mir fatal – und die Frage wäre ja auch: wohin denn? Wie sollte denn ein Rückzug aussehen: in Theorie, in Wissenschaftlichkeit, in Selbstbespiegelung? Eine Distanznahme von den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen käme zum falschen Zeitpunkt, denn gerade jetzt wird es doch interessant. Anders als nach der Revolution von 1918, in deren Verarbeitung aus dem Scheitern eine neue Form von wissenschaftlicher Praxis erwachsen konnte, ist 2023 jedenfalls noch nichts endgültig verloren.

Adorno würde dir jetzt sicherlich widersprechen.

Wer weiß. Die Lage ist schlecht und wahrscheinlich wird es auch nicht besser werden. Das muss man in angemessener Weise theoretisch aussprechen. Gleichwohl aber von dieser Position aus praktisch werden zu wollen und diejenigen zu unterstützen, die an einer Veränderung arbeiten und trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit an ihrer Idee festhalten: Ich finde, das ist kein Widerspruch. Und ich finde gerade das die anspruchsvolle Positionierung zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Wenn man sich auf das politische Handeln einlässt, kann man aber auch schnell den eigenen Hoffnungen auf den Leim gehen. Nehmen wir die gegenwärtige Klimabewegung: Könnte sie in dieser Hinsicht nicht etwas von der Illusionslosigkeit der Kritischen Theorie lernen?

Es gibt gesellschaftliche Milieus und politische Akteure, die sich selbst als Teil der Klimabewegung bezeichnen würden, denen man dieses Diktum schon anempfehlen wollen würde. Dass man sich weniger Illusionen machen sollte und stattdessen vielleicht erst mal mit einer radikalen Situationsanalyse aufwarten müsste. Der politische Erfolg der Klimabewegung in Deutschland, vor allem ihr institutioneller Erfolg, beruht ja wesentlich darauf, dass man sich in die Tasche lügt, dass man irgendwie suggeriert, man hätte verstanden und würde jetzt auch entsprechende Maßnahmen und Programme einleiten. Und die könnten dann einen für Alltagsleben und Wirtschaftsstandort relativ schmerzlosen Übergang in ein post-fossiles Zeitalter gewährleisten. Das ist wahlweise Wunschdenken oder Ideologie.

Was soll denn in der Zukunft am IfS anders oder neu gedacht werden?

In der Geschichte des Instituts und der mit ihm verbundenen Theorie gab es unter dem Strich schon eine gewisse Selbstbezüglichkeit im Hinblick darauf, was man in den Blick genommen hat, wenn über den globalen Kapitalismus nachgedacht wurde: nämlich in der Regel die eigene gesellschaftliche Formation. Wir müssen auf die Suche gehen, wo es im Globalen Süden Anknüpfungspunkte gibt – nicht zuletzt für das Verständnis der hiesigen Verhältnisse. Diese als wirklich konstitutiv verflochten mit den gesellschaftlichen Verhältnissen anderswo auf diesem Globus zu begreifen, das wurde doch viel zu wenig in die kritische Analyse einbezogen. Dies aber systematisch zu tun wäre eine Veränderung fast schon ums Ganze: Wirklich ernst zu nehmen, dass unser Wohl und Wehe nur in seiner strukturellen Verflochtenheit mit den weltgesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen ist. Das tatsächlich zu realisieren, halte ich wissenschaftlich wie auch politisch für zentral. Die zweite Leerstelle, finde ich, ist eine, die zwischenzeitlich gar keine war: die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Denn gerade in Frankfurt gibt es dazu eine große Tradition, beginnend mit der älteren Kritischen Theorie bis hin zu der Tatsache, dass die Begrifflichkeit selbst hier ihren Ursprung hat. In den theoretischen und empirischen Bemühungen des IfS war dieser Gesichtspunkt der stofflichen Reproduktion von Gesellschaft jedoch in den letzten drei Jahrzehnten auffällig abwesend – auffällig zumindest aus heutiger Sicht, wo die Zentralität dieser Frage auf der Hand liegt und außer Frage steht. Eine kritische Analyse der Gegenwart kann von der Destruktivität der globalkapitalistischen Formation selbstredend nicht mehr schweigen. Und ganz gleich, welche Konzeption man von einer „anderen Gesellschaft“ haben mag: Sie wird anders allem voran in ihrer materialen Produktions- und Reproduktionsweise sein müssen.

Das Interview führte Mario Neumann.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 27. März 2023

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