Haiti-Wahlen

Betrug und Vertuschung

Nur zivilgesellschaftliche Organisationen protestieren gegen Wahlbetrug. EU und OAS ignorieren ihn. Interview mit Pierre Espérance.

Die Wahlen in Haiti 2015 wurden von den EU- und den OAS-Wahlbeobachtern als faire Wahlen eingestuft. Nur die haitianischen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben gegen den massiven Wahlbetrug, der stattgefunden hat, protestiert.

Katja Maurer: Was ist der Grund für all das Durcheinander bei den Wahlen?

Pierre Espérance: Seit Präsident Martelly, dessen Amt im Frühsommer ausgelaufen ist, an der Macht ist, also seit Mai 2011, hätte er den Wahlprozess organisieren müssen. Kommunalwahlen, Senatswahlen und schlussendlich Abgeordneten- und Präsidentschaftswahlen hätten stattfinden müssen. Alles hat sich ungemein verzögert, weil Martelly die Besetzung der Wahlkommission, die für jede dieser Wahlen neu einberufen werden mussten, unter seine Kontrolle bringen wollte. Das hat bei uns, der Zivilgesellschaft, aber auch bei den anderen Parteien erhebliche Unzufriedenheit und Proteste hervorgerufen.

Hatte der Protest Erfolg?

Nein, das endete darin, dass es 2015 kein gewähltes Parlament mehr gab und der Präsident per Dekret regierte.

2015 hatten wir dann nach viel hin und her ein Superwahljahr. Im August fand die erste Runde der Parlamentswahlen statt. Die liefen ganz schlecht: Wahlbetrug, Manipulationen. Im Oktober desselben Jahres kam es dann zur Zweiten Runde der Abgeordneten-Wahlen und zur ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Die Regierungspartei von Martelly war in so viele Fälle von Wahlbetrug verwickelt – von der Manipulation von Stimmzettel bis zum Einsatz von direkter Gewalt –, dass die Menschenrechtsorganisationen die Wahlen für irregulär erklärten.

Trotzdem gab es Versuche, die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen durchzuführen und den von Martelly favorisierten Kandidaten durchzusetzen. Doch es fanden auch große Protestdemonstrationen statt, so dass Martelly sein Amt dem Senatspräsidenten Jocelerme Privert übergeben musste, der nun Übergangspräsident ist. Er wird lange im Amt sein, weil es Zeit braucht und die Wahlen von 2015 wegen der vielen Vorfälle überprüft werden müssen. (Das ist mittlerweile geschehen und die Präsidentschaftswahlen wurden wegen Wahlbetrug für ungültig erklärt. Es muss also auch die erste Runde wiederholt werden. D. Red.)

Warum ist das Abhalten von Wahlen in Haiti so schwierig?

Nach dem Ende der Duvalier-Diktatur wurde das regelmäßige Abhalten von Wahlen in der Verfassung von 1987 festgelegt. Keiner der gewählten Präsidenten, sei es Aristide, Preval, Martelly hatte aber den politischen Willen entsprechende Institutionen, die einen Wahlprozess gewährleisten können, aufzubauen. Deshalb muss jedes Mal eine provisorische Wahlkommission gebildet werden und ein entsprechendes Wahlgesetz verabschiedet werden.

Nach dem Erdbeben 2010 haben die großen Geberländer aus Europa und Nordamerika auf Wahlen als probates Mittel gedrungen, um ein legitimiertes Gegenüber zu erhalten. Ist diese Strategie gescheitert?

Auf jeden Fall waren die Wahlen undemokratischer als bei den Präsidentschaftswahlen, die am Ende Martelly als Sieger hervorbrachten. Seither unterstützt die internationale Gemeinschaft Martelly bedingungslos. Sie akzeptiert alles, was unter seiner Präsidentschaft zu neuer Blüte gelangte: Korruption, Straflosigkeit und Menschenrechtsverletzungen. Und die Wahlen 2015 wurden von den EU- und den OAS-Wahlbeobachtern als faire Wahlen eingestuft. Nur die haitianischen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben gegen den massiven Wahlbetrug, der stattgefunden hat, protestiert.

Sind die Wahlen für die EU und die nordamerikanischen Länder nur eine Formsache. Hauptsache gewählt und egal wer?

Hauptsache gewählt, ja. Aber es ist ihnen nicht egal, wer gewählt wird. Sie unterstützen klar die Abgeordneten und den Präsidentschaftskandidaten der Martelly-Partei.

Aber kann diese Partei in irgendeiner Weise eine positive Entwicklung für Haiti bewerkstelligen?

Für das, was nach den Wahlen kommt, interessieren sich die internationalen Vertreter nicht. Ich habe mit der Leiterin der EU-Mission für die Wahlen in Haiti  in Brüssel gesprochen und sie auf den massiven Wahlbetrug hingewiesen. Wir hatten scharfe Auseinandersetzungen, weil sie die Kritik der haitianischen Zivilgesellschaft in keiner Weise akzeptieren wollte. Die Wahlen seien fair gewesen.

Dasselbe passiert auch mit den Botschaftern der EU-Länder und Nordamerikas in Haiti. Der deutsche Botschafter beispielsweise war sehr eng mit Martelly verbunden. Wenn man in seiner Gegenwart Martelly kritisierte, brach er fast in Tränen aus. Alle haben die Augen vor den Problemen unter Martelly verschlossen.

Warum?

Über alle kritischen Berichte, die wir  in der Präsidentschaft Martellys veröffentlichten, hatten wir große Konflikte mit den westlichen Botschaften. Denn wenn wir Martelly kritisierten, kritisierte wir offenkundig auch die sog. Internationale Gemeinschaft. Und das können sie nicht akzeptieren.

Ich mache diese Menschenrechtsarbeit seit vielen Jahren, noch nie habe ich erlebt, dass sich die internationale Gemeinschaft so verhält.

Vermissen Sie die Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft bei der Implementierung der Menschenrechte in Haiti?

Das kann man laut sagen. Sie fehlt völlig.

Aber was bietet Martelly und seine Anhänger? Verhindern sie Fluchtbewegungen? Haben sie die Situation unter Kontrolle?

Nun, das sollten Sie die Botschafter fragen. Aber ich vermute, dass es eine Frage der sozialen Klasse ist. Martelly ist Bourgeosie. Er gehört zu ihrem sozialen Umfeld. Das ist alles.

Haben sie Angst vor den Armen?

Haiti ist extrem arm. 60 Prozent der Bevölkerung hat keine Arbeit. Ich glaube, die Regierungen der westlichen Länder haben eine Wahl getroffen. Sie haben sich entschieden, ein korruptes System zu unterstützen. Damit haben sie auch entschieden, dass die Armen immer ärmer werden.

Angesichts der immensen Probleme von Haiti sind Wahlen nicht von nachrangiger Bedeutung?

Unsere zentralen Probleme sind Korruption und Straflosigkeit und die fehlende Gewaltenteilung. Die Exekutive kontrolliert das Parlament und die Justiz. Wahlen sind also von hoher Bedeutung. Aber es geht darum, dass wir sehr genau überprüfen, wer sich zur Wahl stellt und wie die Wahlen vonstatten gehen. Es geht nicht, dass Menschen kandidieren, die in Korruptionsfälle verwickelt sind oder andere Straftaten begangen haben.

Und was lässt sich über die gewählten Abgeordnete in dieser Hinsicht sagen?

Im neuen Parlament gibt es keine einzige Frau. Das sagt schon alles. Denn normalerweise benutzen Frauen nicht die Mittel, die man braucht um in Haiti die Wahlen zu gewinnen: Gewalt, Betrug und Geld. Also haben wir keine Frau im Parlament!

Gibt es denn keine Parteilisten?

Die Parteien in Haiti sind schwach und schlecht organisiert. Es Abgeordnete, die sich bei den Wahlen Parteien zugeordnet haben,  ohne dass sie von diesen aufgestellt worden wären. Die Parteien kennen zum Teil  ihre eigenen Abgeordneten nicht. Es bleibt dabei. Nur der wird Abgeordneter, der über die nötigen finanziellen Mittel verfügt. Also nur, wenn man zur Elite gehört oder durch kriminelle Machenschaften zu Geld gekommen ist.

P.S. Mittlerweile hat der Übergangspräsident Privert zumindest die Präsidentschaftswahlen wegen massiven Wahlbetrugs annulliert. Er folgte den Ergebnissen einer unabhängigen Untersuchungskommission, für deren zustandekommen sich auch der medico-Partner RNDDH eingesetzt hatte.

Veröffentlicht am 18. Juli 2016

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