Befreiung vom Sachzwang

Der Rundschreiben-Kommentar. Von Thomas Gebauer.

17.11.08   Lesezeit: 7 min

Notleidende Kredite haben das vermocht, was Not leidenden Menschen versagt geblieben ist. Auf bemerkenswerte Weise sind die Verhältnisse erst in dem Augenblick ins Gerede gekommen, als die Rendite in die Krise geraten ist. Solange mit der Entfesselung der Märkte nur wachsende Armut und tausendfaches Verrecken einhergingen, herrschte politischer Alltag und war von Sondersendungen keine Spur.

Nun gilt der Ausnahmezustand auch für die Mächtigen. Politiker, Wirtschaftsführer, Bischöfe und Journalisten, die gerade noch das Hohelied neoliberaler Deregulierung gesungen haben, fordern staatliche Eingriffe ins System, plädieren für "gerechte Finanzmärkte" und verlangen "Regeln gegen die Gier". Mitunter scheint es, dass gar die Globalisierungskritiker von Attac noch an Radikalität übertroffen werden sollen. Die private Aneignung von Profiten bei gleichzeitiger Sozialisierung der Verluste solle es künftig nicht mehr geben, so der bemerkenswerte Konsens.

Kapitalismusschelte allenthalben, aber keiner, der es gewesen sein will. Die Politik nicht, die Anfang der 80er Jahre mit dem Schlachtruf der geistig-moralischen Wende die Liberalisierung der Märkte eingeleitet hatte. Die Unternehmer nicht, die nie müde geworden waren, Steuern und staatliche Verordnungen als Gängelung des freien Unternehmertums zu geißeln. Die Finanzminister nicht, die mit der Flexibilisierung der Finanzmarktgesetzgebung den "Casino-Kapitalismus" erst ermöglicht hatten. Und auch die Medien nicht, die der niemals bewiesenen Behauptung, die private Initiative sei der öffentlichen grundsätzlich überlegen, unzählige Zeilen und Sendeminuten gewidmet hatten. Vergessen aber auch das Argument der leeren Kassen, mit dem die Vertreter der Sozialverbände regelmäßig abgespeist wurden, wenn sie höhere Ausgaben für Bildung und soziale Sicherung verlangten. Nun, wo Banken in Schwierigkeiten geraten sind und es nicht mehr um Kinder, Arbeitslose und chronisch Kranke geht, sind milliardenschwere Rettungsschirme schnell gespannt. Wenn nun künftig Profite über Steuermittel abgesichert und finanziert werden, drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass nicht Banken verstaatlicht werden, sondern dass der Staat privatisiert wird.

Wie in jeder Krise liegt aber auch in dieser eine Chance. Deutlich wird, dass es nie an Geld gemangelt hat und sich die herrschende Wirtschaftspolitik auch nicht mehr mit der Aura ökonomischer Zwangsläufigkeit umgeben kann. Im wieder laut gewordenen Appell an den Gestaltungsauftrag der Politik liegt auch ein Moment der Befreiung: die Befreiung vom Sachzwang. Wer diese Chance nutzen will, sollte Folgendes berücksichtigen.

  1. Die öffentliche Empörung, so berechtigt sie ist, darf sich nicht auf die vermeintlich "hemmungslose Gier" einiger Finanzspekulanten konzentrieren. Die Habgier der sogenannten "Leistungsträger" entspringt nicht persönlichem Fehlverhalten, sondern ist tief verankert in gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Streben nach privatem Gewinn über das solidarische Miteinander stellen. Steuer-Oasen, Hedge-Fonds, Derivate-Handel und Boni-Zahlungen stehen nur symptomatisch für das, was den Kern des herrschenden Wirtschaftssystems ausmacht. Wo die Rendite und damit die private Aneignung von gesellschaftlich geschaffenen Werten das Maß aller Dinge ist und jederzeit Tausende auf die Straße gesetzt werden können, um den Gewinn der Anteilseigner zu erhöhen, da ist die Gier keine individuelle Pathologie, sondern Teil des Systems.
  2. Auch wenn es der Zusammenbruch von Investmentbanken in den USA gewesen ist, der die gegenwärtige Wirtschaftskrise ausgelöst hat, führt die Suche nach den Ursachen weit über die Spekulation mit faulen (im Börsendeutsch: notleidenden) Krediten hinaus. Verzockt haben sich nicht nur ein paar Banker, sondern alle, die dem Anfang der 90er Jahre formulierten "Washington Consensus" gefolgt sind. Auch hierzulande sind die Konsequenzen zu spüren. Zwar konnten die Unternehmen über fallende Realeinkommen (Talkshowdeutsch: Senkung der Lohnnebenkosten) und die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse (Politikdeutsch: Schaffung von Arbeitsplätzen) viele Jahre lang satte Gewinne einfahren, doch fehlt es inzwischen (nicht nur im Inland) an Kaufkraft. Mit immer weniger Geld in der Tasche sollen die Leute immer teurere Autos, Häuser und Nahrungsmittel kaufen. Über ein Viertel der deutschen Haushalte ist bereits verschuldet, 3 Mio. Haushalte sehen sich außerstande, ihre Schulden zu tilgen. Die "Verbetriebswirtschaftlichung" des Politischen und mit ihr der Zwang zu "unternehmerischer Lebensführung" sind gescheitert.
  3. Zu den Irrationalitäten der bestehenden Verhältnisse zählt auch der Grundsatz, dass moderne Ökonomien beständig wachsen müssen. Obwohl mit erdrückender Beweislast längst feststeht, dass Wachstum nur noch über den Raubbau an den Lebenschancen künftiger Generationen gelingt, ist von einem ernsthaften Bemühen um ökologisches Umsteuern nicht viel zu sehen. Tatsächlich nimmt der Ressourcenverbrauch zu, der wie eine ungedeckte Anleihe auf die Zukunft zwangsläufig in die Katastrophe führen muss. Nicht von ungefähr sind in diesem Jahr Finanzcrash, Welternährungskrise und neue Klimakatastrophen zeitlich zusammengefallen. Wer heute nur den Finanzmarkt retten will und dabei vielleicht ein paar Managergehälter kürzt, wird nicht verhindern können, dass viele Millionen Menschen in Armut und Tod gestürzt werden – in Deutschland, wie in der Welt. Es ist höchste Zeit auch über neue Konsum- und Lebensstile nachzudenken.
  4. Nicht der Finanzmarkt braucht heute einen Rettungsschirm, sondern jene Reste und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, ohne die ein menschenwürdiges Zusammenleben auf Dauer nicht möglich ist. Die Ökonomie jedenfalls muss dem Sozialen nicht per se feindlich gegenüberstehen. Im antiken Griechenland bedeutete Ökonomie (gr. "oikos"): Wirtschaftshof einer Hausgemeinschaft, der allen Anerkennung, Schutz und Versorgung sicherte. Nicht das Politische, die "polis", hatte sich der Ökonomie unterzuordnen, sondern die Ökonomie dem öffentlichen Leben. Daran haben alle Formen solidarischer Ökonomie angeknüpft und deutlich gemacht, dass Demokratie nicht nur Parlamente braucht, sondern auch ein öffentliches Transportwesen, solidarisch organisierte Gesundheitsfürsorge und steuerfinanzierte Bildungseinrichtungen. Wer solche "öffentlichen Güter" heute kapitalisiert, zerstört die Grundlagen demokratisch verfasster Gesellschaften. Kommunen, die vor Jahren ihre U-Bahnen und Krankenhäuser über ein Cross-Border-Leasing an US-Investoren verkauft und zurückgeleast haben, droht heute der Totalverlust. Nicht Boni-Zahlungen an das Management der Bahn sind das Problem, sondern deren Börsengang.
  5. Die Anzeichen mehren sich, dass die Krise auf dem Finanzmarkt auch die zuletzt so gepriesene "Corporate Citizenship" getroffen hat. Die Hoffnung, dass steuerentlastete Unternehmen für Bildung, Umweltschutz oder Gesundheit sorgen würden, entpuppt sich als trügerisch. Mit sinkenden Gewinnen sinkt auch die Bereitschaft zur "Social Responsibility". Deutlich wird, dass über Sponsoring eine nachhaltige Finanzierung von "öffentlichen Gütern" nicht gelingt. Die Bill Gates Stiftung ist keine Institution, bei der das Recht auf soziale Sicherung einklagbar wäre. Statt feudalem "Goodwill" ist öffentliche Verantwortung gefragt, mithin die Schaffung einer "sozialen Infrastruktur", die allen Menschen offen steht und beispielsweise den kostenfreien Zugang zu Bildungsangeboten, Gesundheitsdiensten, Informationen, Museen und letztlich auch Wohnungen sichert. Eine solche soziale Infrastruktur, die wie die herkömmliche steuerfinanziert sein muss, ist keine Utopie. Angesichts der Unfähigkeit des liberalisierten Marktes für das Soziale zu sorgen, ist sie die einzig realistische Option.
  6. Die Projekte von sozialen Initiativen in aller Welt lassen die Konturen der Alternativen bereits aufscheinen. Motor und Maßstab der Veränderung sind soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation. Mit Blick auf den erreichten Globalisierungsgrad wird aber auch klar, dass Schutz und Ausbau von öffentlichen Gütern heute nur noch im internationalen Rahmen gelingen. So notwendig die Schließung von Steuer-Oasen ist, um der Finanzkrise Herr zu werden, so reif ist die Zeit für Regeln für eine globale Sozialpolitik. Mit einem "Weltgesundheits-Vertrag", den medico international fordert, ließe sich beispielsweise ein Beitrag zur Bekämpfung der globalen Gesundheitskatastrophe leisten. Grundlage wäre ein völkerrechtlich bindender Finanzierungsmechanismus, der die Beteiligung reicherer Länder an der meist sehr viel höheren Gesundheitslast der ärmeren sicherstellt. Angesichts der herrschenden Krisendynamik steht die Klärung der Frage, wie Menschen künftig unter globalisierten Verhältnissen auf vernünftige Weise zusammenleben wollen, ganz oben auf der Tagesordnung.
  7. Die Hoffnung, die politisch Mächtigen würden solche Ideen von sich aus aufgreifen, ist eine Illusion. Die kapitalismuskritische Rhetorik, die viele Politiker heute pflegen, zielt nicht auf einen Systemwechsel, sondern auf das Abfangen öffentlicher Empörung und Kritik, letztlich um das herrschende Wirtschaftssystem zu retten. Veränderung aber gelingt, wenn sich die Notwendigkeit des Bruchs mit dem neoliberal entfesselten Kapitalismus herumspricht und der Druck der Öffentlichkeit groß genug wird, um neue Regeln und Übereinkünfte politisch durchzusetzen.

Nur die Profiteure der neoliberalen Globalisierung haben heute etwas zu verlieren. Alle anderen können eine neue, eine solidarische Welt gewinnen.


Jetzt spenden!